Beginnt die Parkinson-Krankheit im Darm?
Im Jahr 2003 publizierte der deutsche Neuroanatom Heiko Braak eine verwegene Hypothese über die Entstehung des Morbus Parkinson [I]. Ein Faktor aus der Außenwelt, vermutete der Forscher damals, könne unter Umständen über die Schleimhaut des Magendarmtraktes auf örtliche Nervenzellen einwirken. Die in diesen Neuronen vorhandenen alpha-Synuclein-Proteine würden sich daraufhin derart verändern, dass sie wie ein Keim die Krankheit über die Äste des Nervus vagus – dem Nerv, der an der Regulierung der inneren Organe beteiligt ist – bis in das zentrale Nervensystem transportieren. Im Gehirn identifizierte der Neuroanatom die Abfolge von Hirnarealen, in denen zeitlich nacheinander abnorme alpha-Synuclein-Proteine auftauchten, bis die typischen Symptome der Schüttellähmung auftreten, weil erste Dopamin-produzierenden Neuronen in der Substantia Nigra zerstört worden sind.
Direktor des Instituts für Neuropathologie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg
„Weil viele Parkinson-Patienten jahrelang vor Auftreten der Bewegungsstörungen über Magen-Darm-Probleme klagen, entstand die Vorstellung, die Parkinson-Krankheit könnte im Darm entstehen und erst im zweiten Schritt das Gehirn betreffen. Mittlerweile ist die Parkinson-Forschung so weit fortgeschritten, dass man die Ausbreitung der Erkrankung experimentell im Tiermodel untersuchen kann. Im renommierten Fachmagazin ‚Neuron‘ berichtet eine amerikanische Arbeitsgruppe jetzt, dass die Krankheit sich im Mausmodell von der Magen- beziehungsweise Dünndarmwand über das Nervensystem ins Gehirn ausbreiten kann.“
„Wir wissen allerdings, dass dieser Ausbreitungsprozess entlang von Nerven nicht nur in Richtung des Gehirns, sondern auch aus dem Gehirn in Richtung des Körpers möglich ist. Die Parkinson-Krankheit entwickelt sich höchstwahrscheinlich 20 bis 30 Jahre unerkannt im Körper, bevor klinische Beschwerden auftreten. Die Erkenntnis, dass der Krankheitsprozess sich über Magen und Darm steuernde Nerven ausbreiten kann, bedeutet daher nicht, dass die Krankheit im Magen-Darmtrakt entstehen muss, aber dass sie den Magen-Darm-Trakt einbeziehen kann. Dieses könnte die Möglichkeit eröffnen, Parkinson frühzeitiger im Krankheitsverlauf zu erkennen, als bisher. Eine frühzeitige Krankheitserkennung könnte die Behandlungsmöglichkeiten wesentlich verbessern.“
Facharzt für Neurologie an der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik, Klinikum der Universität München (LMU)
„Diese Publikation bestätigt einmal mehr die Fähigkeit der Parkinson-Krankheit, sich innerhalb des Nervensystems ausbreiten zu können. Sie belegt auch die Bedeutung von endogenem alpha-Synuclein in diesem Prozess. Die Arbeit unterstützt die älteren Ergebnisse unserer Studien [1] [2] und die Resultate anderer, die das Fortschreiten der Krankheit aus dem enterischen (Nervensystem der Eingeweide; Anm. d. Red.) in das zentrale Nervensystem zeigen. Neu ist, dass die Pathologie ohne endogenes alpha-Synuclein (natürlich gebildetes alpha-Synuclein; Anm. d. Red.) nicht vorankommen kann.“
„Während diese früheren Studien Pestizide oder Lentiviren verwendeten, um die Produktion von Alpha-Synuclein künstlich zu erhöhen [3], injizierten die Autoren in dieser Studie Alpha-Synuclein-Fibrillen – eine aggregierte toxische Form des nativen Proteins – in die Muskelschicht des Darms, um modifiziertes (phosphoryliertes) und aggregiertes Alpha-Synuclein zu erzeugen. Sie konnten so eine Parkinson-ähnliche Pathologie induzieren und das Fortschreiten der Krankheit im Nervensystem in Gang setzen. Dieser Ansatz wurde bereits in der Vergangenheit genutzt [4]. Zusätzlich versuchten die Autoren, die Hypothese in einem Mausmodell zu replizieren, die das endogene alpha-Synuclein nicht exprimierte. Die Tatsache, dass sich die Pathologie ohne dieses Protein nicht ausbreiten konnte, zeigt die Bedeutung des natürlich exprimierten alpha-Synucleins im Verlauf der Krankheit.“
„Noch bleibt unklar, ob dies auf ein sogenanntes ‚Seeding‘ wie bei Prionenerkrankungen – also eine direkte Protein-Protein-Interaktion, krankhaftes verändert das normale Protein – oder auf einen erhöhten oxidativen Stress oder beides zurückzuführen ist. Die Antwort auf diese Frage hätte wichtige Konsequenzen für das Feld und die Therapie der Parkinson-Krankheit.“
Direktorin der Klinik für Neurodegenerative Erkrankungen und Gerontopsychiatrie, Universitätsklinikum Bonn und Leiterin der Arbeitsgruppe Transnationale Demenzforschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Bonn
„Aus klinischer Perspektive gibt es bereits eine epidemiologische Studie, die zeigt, dass eine Vagotomie (Durchtrennen des Vagus-Nerv (Nervus vagus); Anm. d. Red.) im Rumpf mit einem verringerten Risiko einhergeht, an Morbus Parkinson zu erkranken [5]. Eine Folgestudie findet einen Trend in dieselbe Richtung [6] und eine Meta-Analyse [7] bewertete kürzlich die Evidenz, dass eine alpha-Synuclein-Pathologie im Darm mit einer Parkinson-Diagnose korreliert.“
„Im Mausmodell konnte allerdings auch gezeigt werden, dass es offenbar eine Rückwärtsverbreitung der Pathologie gibt, also aus dem Vagus-Nerv in den Darm. Deshalb bleibt weiterhin unklar, ob und was sich aus diesem Grundlagen-Paper für Patienten ableiten lässt. Zudem sind die experimentellen Bedingungen in dem Mausmodell sehr artifiziell, denn die Forscher injizierten alpha-Synuclein-Aggregate in hohen Dosen in den Dünndarm-Muskel.“
„Selbstverständlich kann man sich vorstellen, dass Nahrung, Entzündungsprozesse oder das Mikrobiom im Darm zu einer lokalen Aggregation von alpha-Synuclein-Fibrillen im Verdauungstrakt führen und es dann von dort aus zu einer Verbreitung (‚Spreading‘) kommen kann. Genau diese Hypothese wird bereits länger diskutiert und bleibt damit ein möglicher Ausbreitungsweg, der nun in dem aktuellen Mausmodell auch bestätigt wird.“
„Wichtiger aus Sicht der Grundlagenforschung ist, dass in der Publikation die Ausbreitung entsprechend den Braak-Stadien der Parkinsonschen Erkrankung erfolgt. Ein überzeugender Befund ist auch, dass es in Knock-Out-Mäusen, die keine alpha-Synuclein-Aggregate entwickeln, auch keine Ausbreitung über den Vagus-Nerv gibt.“
Arbeitsgruppe klinische Neuroanatomie, Universitätsklinikum Ulm
„Das Manuskript der Dawson-Gruppe präsentiert neue Erkenntnisse, gewonnen an einem interessanten Mausmodell zum Morbus Parkinson des Menschen. Das Modell simuliert die Ausbreitung von pathogenen, präformierten Fibrillen (PFF), die aus gereinigtem alpha-Synuclein gewonnen wurden, vom Magen-Darm-Trakt bis in das Gehirn und danach im Gehirn erfolgt die weitere Ausbreitung. Die Experimente in der Maus imitieren zwar nicht absolut, aber doch in hohem Maße den möglichen Verlauf des pathologischen Prozesses der Erkrankung beim Menschen. Darüber hinaus präsentieren die Autoren motorische und nicht-motorische Symptome in ihren Experimenten an Mäusen, die Symptome der Erkrankung beim Menschen ähneln.“
„Die Publikation weist eine Reihe von Stärken auf. So verglichen die Autoren die Verbreitungsmuster von menschlichem alpha-Synuklein PFF mit entsprechenden PFF der Maus und konnten zeigen, dass sich humane PFF im Mausmodell nicht effektiv verbreiten können. Für die ausreichende Ausbreitung von pathogenem alpha-Synuclein scheinen drei Voraussetzungen wichtig zu sein. Eine Rolle spielt der richtige Injektionsort: Die Autoren wählten Nervenzellansammlungen in der Wand des Magenausgangs und des Dünndarms. So konnten sie sicher sein, dass das pathogene alpha-Synuclein den vom Vagusnerv massiv innervierten Teil des peripheren Nervensystems erreichte. Sieben Monaten nach der Injektion zeigten die typischen bei Parkinson betroffene Substantia nigra einen Verlust an Nervenzellen. Zweitens war die durchschnittliche Länge der PFF, die sie in ihren Experimenten verwendeten, kleiner als 100 Nanometer. Drittens verwendeten sie als Dosis 1 Mikrogramm PFF pro Gramm Körpergewicht, also eine höhere Dosis als von anderen Autoren empfohlen. Erst mit diesen Modifikationen konnten sie die Ausbreitungswege des Morbus Parkinson im Mausmodell erfolgreich rekapitulieren.“
„Auf einen Widerspruch zu einer Publikation von Polinksi et al. [8] sei hingewiesen. Diese Autorengruppe war der Ansicht, dass bei einer über 50 Nanometer liegenden Größe der alpha-Synuclein PFF keine oder nur deutlich reduzierte pathologische Veränderungen erzielt werden können. Möglich wäre es, dass dies nur für direkt in das Gehirn applizierte Injektionen zutreffen könnte. Zudem weist die Dawson-Gruppe darauf hin, dass zehn Monate nach einer Injektion der Schweregrad der pathologischen Veränderungen in manchen betroffenen Hirnregionen reduziert oder gleichbleibend erscheint. Beim Menschen dagegen erhöht sich der Schweregrad der Veränderungen kontinuierlich. Es bleibt also zu klären, bis zu welchem Grad das vorgeschlagene Tiermodell den Verlauf der Erkrankung beim Menschen zutreffend abbildet.“
„Welche Wirkungen können von einem derart vielversprechenden Tiermodell ausgehen? Zumindest eröffnen sich Möglichkeiten mit Hilfe experimenteller Hirnforschung neue Verfahren zu finden, Parkinson-spezifische pathologische Veränderungen bereits im Nervensystem des Magendarmtraktes zu verhindern oder so abzuschwächen, dass eine Ausbreitung in das Gehirn über den Nervus vagus verhindert werden kann.“
Dieses Statement entstand in Zusammenarbeit mit:
Dr. Kelly Del Tredici
Arbeitsgruppe klinische Neuroanatomie, Universitätsklinikum Ulm
„Ich bin in keinen finanziellen Abhängigkeiten mit irgendwelchen Firmen und habe keine kommerziellen Interessen.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Kim S et al. (2019): Transneuronal Propagation of Pathologic a-Synuclein from the Gut to the Brain Models Parkinson’s Disease. Neuron; 103: 1-15. DOI: 10.1016/j.neuron.2019.05.035.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Center Germany (2018): Parkinson: Welche Rolle spielt der Blinddarm? Research in Context. Stand: 31.10.2018.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Pan-Montojo F et al. (2010): Progression of Parkinson's disease pathology is reproduced by intragastric administration of rotenone in mice. Plos One; 5 (1): e 8762. DOI: 10.1371/journal.pone.0008762.
[2] Pan-Montojo F et al. (2012): Environmental toxins trigger PD-like progression via increased alpha-synuclein release from enteric neurons in mice. Sci Rep.; 2: 898. DOI: 10.1038/srep0089.
[3] Ulusoy A et al. (2017): Brain-to-stomach transfer of α-synuclein via vagal preganglionic projections. Acta Neurologica; 133 (3): 381-393. DOI: 10.1007/s00401-016-1661-y.
[4] Uemura N et al. (2018): Inoculation of α-synuclein preformed fibrils into the mouse gastrointestinal tract induces Lewy body-like aggregates in the brainstem via the vagus nerve. Mol. Neurodegener.; 13 (1): 21. DOI: 10.1186/s13024-018-0257-5.
[5] Svensson E et al. (2015): Vagotomy and subsequent risk of Parkinson's disease. Annals of Neurology; 78: 522-529. DOI: 10.1002/ana.24448.
[6] Liu B et al. (2017): Vagotomy and Parkinson disease. Neurology; 88 (21). DOI: 10.1212/WNL.0000000000003961.
[7] Bu J et al. (2019): Diagnostic utility of gut α-synuclein in Parkinson’s disease: A systematic review and meta-analysis. Behavioural Brain Research; 364: 340-347. DOI: 10.1016/j.bbr.2019.02.039.
[8] Polinski N et al. (2018): Best Practices for Generating and Using Alpha-Synuclein Pre-Formed Fibrils to Model Parkinson’s Disease in Rodents. Journal of Parkinson’s Disease Volume 8, pages 303–322. DOI: 10.3233/JPD-171248.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Braak H et al. (2003): Staging of brain pathology related to sporadic Parkinson's disease. Neurobiol. Aging; 24 (2): 197-211.
Prof. Dr. Walter J. Schulz-Schaeffer
Direktor des Instituts für Neuropathologie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg
Dr. Francisco Pan-Montojo
Facharzt für Neurologie an der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik, Klinikum der Universität München (LMU)
Prof. Dr. Anja Schneider
Direktorin der Klinik für Neurodegenerative Erkrankungen und Gerontopsychiatrie, Universitätsklinikum Bonn und Leiterin der Arbeitsgruppe Transnationale Demenzforschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Bonn
Prof. Dr. Heiko Braak
Arbeitsgruppe klinische Neuroanatomie, Universitätsklinikum Ulm