Energie & Mobilität

24. November 2021

Auf der Suche nach Stromdellen und Stromtälern – Preppen für die Dunkelflaute I

Die Energiewende ist eine Revolution der Stromversorgung. Denn ihre beiden Säulen – Windräder und Photovoltaik-Anlagen – richten sich nach dem Wetter. Das durch Thomas Edison erdachte Prinzip, immer so viel Strom zu erzeugen wie Menschen gerade verbrauchen, wird damit ersetzt durch ein wesentlich älteres: Der Ertrag folgt dem Wetter; Wind und Sonne geben den Takt der Stromerzeugung vor. Mal werden die Stromernten über dem Verbrauch liegen, mal darunter; die Kunst wird darin bestehen, den Verbrauch der Erzeugung anzupassen.

Das Meisterwerk der Energiewende wird jedoch sein, die sogenannte Dunkelflaute zu beherrschen: Stunden oder gar Tage, in denen kaum noch Wind weht. Dann sackt auch der Stromertrag dramatisch ab, für Stunden oder gar Tage. Ohne eine Versicherung, ohne Back-up fiele der Strom aus. Der Roman „Blackout“ würde Realität. Eine gute Vorbereitung der Energiewende muss vor diesen Dunkelflauten schützen. Doch dafür muss man wissen: Worauf bereite ich das System der Energieerzeugung vor? Wie tief kann die Stromernte fallen, wie lange dauert so eine „Stromflaute“ – und mit welchen Werkzeugen, welcher Technik, kann die Stromversorgung durch so ein Erzeugungs-Tal gefahren werden?

Für diese – und weitere – Fragen haben wir im SMC-Lab ein digitales Tool entwickelt, den Dunkelflauten-Guide. Mit ihm lassen sich anhand der Stromerzeugungsdaten seit 2015 Phasen aufspüren, in denen über Stunden oder Tage kaum noch Wind wehte. In diesem Fact Sheet erklären wir die Grundlagen dieses Tools – Fragestellung, Datenlage und Funktion. Das Fact Sheet kann hier als pdf heruntergeladen werden. Im zweiten Fact Sheet präsentieren wir Ergebnisse einer Dunkelflautensuche, im dritten zeigen wir, wie die Weiterentwicklung des Guides zum „Energiewende-Explorer“ eingesetzt werden kann, um zum Beispiel mit der Frage: „Wie viel Back-up brauchen wir für den Kohleausstieg?“ den vorgezogenen Ausstieg einem Stresstest zu unterwerfen. Den Dunkelflauten-Guide können Sie auch selbst interaktiv ausprobieren, ebenso die Grundzüge für einen Energiewende-Stresstest in einem interaktiven Fact Sheet.

Dieses Fact Sheet ist Teil 1 der Reihe "Preppen für die Dunkelflaute":

Teil 1: Auf der Suche nach Stromdellen und Stromtälern

Teil 2: Kurze Dunkelflauten – lange Stromflauten?

Teil 3: Stresstest für den vorgezogenen Kohleausstieg

Model-Driven Fact Sheet: Wie gelingt die Energiewende (externer Link)

Model-Driven Fact Sheet: Dunkelflauten Guide (externer Link)

Übersicht

  • Was ist eine Dunkelflaute: Suche mit Wetterdaten und Modelle
  • Was ist eine Dunkelflaute: Die Strommarktdaten als Quelle
  • Der Dunkelflauten-Guide
  • Fazit
  • Literaturstellen, die zitiert wurden
  • Weitere Recherchequellen

Was ist eine Dunkelflaute: Suche mit Wetterdaten und Modellen

  • So eingängig das Bild, so unklar ist, was überhaupt eine Dunkelflaute auszeichnet. Dauert sie eine Stunde? Mehrere Tage? Trifft sie auf hohen Stromverbrauch oder niedrigen? Trifft sie alle Erneuerbaren Energien gleichzeitig – oder nur eine Quelle? Seit einigen wenigen Jahren versuchen Forscher, Antworten zu finden. Hier vier Beispiele:
  • 2021: Wissenschaftler des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI) suchen nach Dunkelflauten, um ihr 100-Prozent-Erneuerbare Szenario für die „Dena-Leitstudie“ einem Stresstest zu unterziehen [1].
    • Bezugsgröße: Residuallast (= Strombedarf - Stromerzeugung aus Wind + Photovoltaik).
    • Daten: Wetteraufzeichnungen 1982 bis 2016.
    • Suchobjekt: lange Extremwetterperioden. In diesen wäre eine hohe Residuallast zu erwarten.
    • Ergebnis: Zwei Perioden: sieben Tage um den 8. Januar 1997 und 14 Tage um den 17. Dezember 2001.
    • Die Forscher modellieren die Stromerzeugung anhand der Wetterdaten stundengenau.
  • 2020: Forscher des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) beschreiben Wind-Flauten in Deutschland [2].
    • Bezugsgröße: Auslastung von Windturbinen („wind capacity factor“) <10 Prozent.
    • Daten: Wetteraufzeichnungen 1980 bis 2019.
    • Suchobjekt: Auslastungen <2, <5 und <10 Prozent sowie Dauer.
    • Ergebnis: Kurze Ereignisse treten in einem Jahr oft auf, lange sind jedoch selten. Fünf-Tage-Flauten gab es einmal pro Jahr, acht-Tage-Flauten einmal in zehn Jahren. Windflauten sind im Winter kürzer als im Sommer.
    • Die Forscher modellieren die Stromerzeugung anhand der Wetterdaten.
  • 2018: Eine Forschergruppe aus Frankreich beschreibt „Strom-Trockenheiten“ in Europa [3].
    • Bezugsgröße: Stromerzeugung und Anteil am Bedarf.
    • Daten: 30 Jahre Satelliten-Wetterkarten, durchschnittlicher Energiebedarf pro Tag 1983-2012.
    • Suchobjekt: Stromerzeugung der Erneuerbaren unter 20 bis 50 Prozent des langjährigen Erzeugungs-Mittelwerts der vergangenen 30 Jahre oder Anteil der Residuallast über 50 bis 80 Prozent am langjährigen durchschnittlichen Bedarf des Tages.
    • Ergebnis: Windstrom-Flauten treten überall in Europa regelmäßig auf, dauern aber nur kurz. a) Solarstrom-Dunkelheiten sind im Norden länger als im Süden (Jahreszeiten), b) wolkige Perioden halten üblicherweise nur wenige Tage an, c) Wasserstrom-Dürren sind selten, können aber sehr lange anhalten.
    • Die Wissenschaftler modellieren die Stromerzeugung anhand von Annahmen über die Wetterdaten aus den Satellitenaufnahmen.
  • 2017: Die Beratungsagentur Energy Brainpool sucht nach Dunkelflauten und unterzieht Annahmen für ein 100-Prozent-Erneuerbare-Strommodell einem Stresstest. Auftraggeber: Greenpeace Energy [4].
    • Bezugsgröße: Residuallast.
    • Daten: Wetteraufzeichnungen von 2006 bis 2016.
    • Suchobjekt: Residuallast > 70 Gigawatt (GW).
    • Ergebnis: größte Flaute zwischen 23.01. und 06.02.2006, bis 2016 trat alle zwei Jahre eine Residuallast über 70 GW auf. Vorschlag: Kriterium für Dunkelflauten könnte eine starke Abweichung von der gemeinsamen mittleren jährlichen Einspeisung von Wind- und Solarstrom sein.
    • Energy Brainpool modelliert die Stromerzeugung anhand von Wetterdaten.
  • Beobachtungen:
    • Forscher ziehen für die Suche nach Dunkelflauten Wetterdaten heran.
    • Die Stromerzeugung wird mit einem Modell nachgerechnet.
    • Flauten können über die Residuallast oder über die Auslastung der Anlagen identifiziert werden.
    • Die Daten einer Dunkelflaute werden auch für einen Stresstest verwendet [1] [4].

Was ist eine Dunkelflaute: Die Strommarktdaten als Quelle

  • Diese und vergleichbare Arbeiten sind gründlich, aber sehr aufwendig:
    • Man braucht Zugang zu Wetterdaten.
    • Wetterdaten sind proprietär.
    • Man braucht Zugang zu Modellen für alle Erzeuger.
    • Die Datenmengen sind unter Umständen sehr groß.
    • Eine realistische Nachbildung der Stromerzeugung kann sehr aufwendig sein, wenn zum Beispiel auch Ausfälle, Wartungsarbeiten oder Abregelungen (Einspeisemanagement) berücksichtigt werden sollen.
  • Öffentlich sind allerdings auch Daten frei zugänglich, die es für die Recherche von Journalistinnen und Journalisten leichter nachvollziehbar machen, Dunkelflauten zu entdecken: Unter anderem nach der europäischen Stromtransparenzverordnung EU 543/2013 müssen die Stromhandelsbörsen und die Übertragungsnetzbetreiber in der Europäischen Union Daten über den Stromhandel, die Erzeugung und den Verbrauch an den Verband der Europäischen ENTSO-E melden, der diese veröffentlicht. Die Bundesnetzagentur ergänzt diese Daten zum Beispiel durch ihre Kraftwerksliste und stellt sie zur freien Verwendung bereit [5] [6]. Darin enthalten sind auch die Werte der tatsächlichen Stromerzeugung durch Windenergie- und PV-Anlagen in Deutschland. Die Vorzüge dieser Datenquelle liegen auf der Hand:
  • Die Werte spiegeln die tatsächliche Stromerzeugung wider. Die Einspeisung durch Windkraft- und PV-Anlagen, die sonst erst aufwendig errechnet werden müsste, ist darin bereits enthalten. Faktoren, die zusätzlich die Stromerzeugung beeinflussen können, sind ebenfalls enthalten, etwa Wartungsarbeiten, technische Ausfälle oder Einspeisemanagement.
  • Die Daten enthalten zudem die installierte Leistung der Kraftwerke in Deutschland. Damit lässt sich die Erzeugung der Erneuerbaren auf die installierte Leistung beziehen und die Auslastung berechnen.
  • Die Daten spiegeln auch den realisierten Verbrauch in Deutschland wider, er muss nicht durch ein Modell nachgebildet werden. Die Erzeugung der Erneuerbaren lässt sich damit direkt auf den Verbrauch beziehen. Die Residuallast lässt sich genau bestimmen.
  • Damit lassen sich auch die Bezugsgrößen der Forscher – Residuallast oder Auslastung der Anlagen – aus den Daten ermitteln.
  • Die Daten umfassen derzeit die Jahre 2015 bis 2020. Das ist eine Periode von Beobachtungsdaten, in der auch längere Flauten aufgetreten sein könnten [2]. Der Nachteil: Es ist ein viel kürzerer als die langfristigen Zeiträume, die Wissenschaftler ihren Studien zugrunde legen (s.o.).
  • Die Daten sind beinahe stundenaktuell. Vorzug: Entwicklungen im Verbrauch, etwa durch die Zunahme von Elektroautos, werden automatisch sichtbar. Weiterer Vorzug: Jeden Tag erhöht sich die Wahrscheinlichkeit etwas, bisher nicht beobachtete Wetterextreme aufzuspüren, die Einfluss haben könnten auf das Energiesystem der Zukunft.
  • Fazit: Wenn seit 2015 Dunkelflauten aufgetreten sind, müssen sie in den Strommarktdaten nach den Kriterien der Forscher (Residuallast, Auslastung) erkennbar sein – auch wenn vielleicht nicht alle Formen von Wetterextremen abgedeckt sind.

Der Dunkelflauten-Guide

  • SMC-Lab und Redaktion haben gemeinsam ein Tool entwickelt, mit dem aus den Stromerzeugungsdaten Dunkelflauten gefiltert werden können. Ergebnisse dieser Suche haben wir in einem eigenen Fact Sheet vorgestellt [7], den Guide selbst finden Sie hier. Er ermöglicht eine Suche nach drei Indikatoren:

1. Anteil von Windkraft- und PV-Anlagen am Verbrauch

  • Warum: Für die Diskussion über Back-up-Kraftwerke. Durch den Vergleich mit dem Verbrauch wird sofort erkannt und als Wert ausgegeben, wie viel Leistung von Back-up Kraftwerken im Fall einer Dunkelflaute wie lange erzeugt werden müsste. Das kombiniert die Suche nach Dunkelflauten mit der Suche nach den Folgen (vergleichbar mit [1] [3] [4], Ergebnis siehe [7] [8], interaktive Suche [9]).
  • Wie:
    • Filter Anteil Wind und PV an Bedarf (wenn gewünscht auch Anteil aller Erneuerbaren an Bedarf möglich).
    • Bezugsgröße des Filters: Absolut.
    • Frei wählbare maximale Erzeugung in Prozent.
    • Frei wählbare Dauer des Ereignisses in Stunden (wird automatisch auch in Tagen angegeben).

2. Anteil Erzeugung an installierter Leistung Wind und Photovoltaik (Auslastung)

  • Warum: Für die Diskussion über Dunkelflauten, erster Schritt für Stresstests von 100-Prozent- Szenarien anhand historischer Daten. (So auch vorgeschlagen in [2]).
  • Wie:
    • Drei Filter: a) Anteil an installierter Leistung Wind und PV, b) Anteil an installierter Leistung Wind, c) Anteil an installierter Leistung PV.
    • Bezugswert des Filters: Absolut.
    • Frei wählbare maximale Erzeugung in Prozent.
    • Frei wählbare Dauer des Ereignisses in Stunden.

3. Anteil an Verbrauch oder Anteil an installierter Leistung in Bezug auf die langjährige, durchschnittliche Erzeugung an diesem Tag

  • Warum: Für die Diskussion über Dunkelflauten, um diese sicher zu identifizieren [3] [4].
    • Wie: Filter aus den beiden vorangehenden Suchen (Anteil an Verbrauch oder Anteil an installierter Leistung).
    • Bezugswert der Filter: Durchschnittswerte.
    • Frei wählbare maximale Erzeugung in Prozent.
    • Frei wählbare maximale Erzeugung in Stunden.

Fazit

  • Eine allgemeingültige Definition von Dunkelflauten gibt es nicht.
  • Die wissenschaftliche Suche nach Dunkelflauten ist aufwendig und nur mit erheblichem Aufwand nachzuvollziehen.
  • Dunkelflauten müssten sich auch aus den Strommarktdaten filtern lassen, die die Bundesnetzagentur zur freien Verfügung stellt.
  • Diese Daten haben für Journalistinnen und Journalisten gegenüber dem bisherigen Verfahren, aufgrund von Wetterdaten Stromerzeugung zu modellieren, zahlreiche Vorzüge, die in einem Satz zusammenfassbar sind: Sie sind realistisch.
  • Nachteil ist, dass sie nur sechs und nicht 30 oder mehr Jahre umfassen. Ob bereits diese sechs Jahre große Extreme zeigen, muss daher ein erster Einsatz des Dunkelflauten-Explorers zeigen.
  • Die ersten Ergebnisse der Suche nach Dunkelflauten haben wir in einem Ergebnis Fact Sheet zusammengestellt [7].
  • Eine Weiterentwicklung zum Energie-Explorer ermöglicht es, für Recherchen Energiewende-Szenarien oder Ausbaupläne einem journalistischen Stresstest zu unterwerfen [8] [9].
  • Mit dem Energiewende-Explorer wird für Journalistinnen und Journalisten zu ersten Mal die Möglichkeit bestehen, angelehnt an Prinzipien der Forschung [1] [4], Szenarien der Energiewende mit wachsenden Anteilen einer klimaneutralen Stromerzeugung einem groben Stresstest zu unterwerfen – der zwar nicht alle Zusammenhänge modellieren kann, aber dafür auf offene Fragen verweist und mit realistischen Daten arbeitet.

Literaturstellen, die zitiert wurden

[1] Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (EWI) (2021): Dena-Leitstudie Aufbruch Klimaneutralität. Klimaneutralität 2045 - Transformation der Verbrauchssektoren und des Energiesystems. Herausgegeben von der Deutschen Energie-Agentur GmbH (dena).

[2] Ohlendorf N et al (2020): Frequency and duration of low-wind-power events in Germany. Environmental Research Letters. DOI: 10.1088/1748-9326/ab91e9.

[3] Raynaud D et al (2018): Energy droughts from variable renewable energy sources in European climates. Renewable Energy. DOI: 10.1016/j.renene.2018.02.130.

[4] Energy Brainpool (2017): Kalte Dunkelflaute. Robustheit des Stromsystems bei Extremwetter. Greenpeace Energy.

[6] Bundesnetzagentur (2021): SMARD.de Benutzerhandbuch.

[7] Science Media Center (2021): Kurze Dunkelflauten – lange Stromflauten? – Preppen für die Dunkelflaute II. Fact Sheet. Stand: 24.11.2021.

[8] Science Media Center (2021): Stresstest für den vorgezogenen Kohleausstieg – Preppen für die Dunkelflaute III. Fact Sheet. Stand: 24.11.2021.

[10] Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags (2019): Sicherstellung der Stromversorgung bei Dunkelflauten.

Weitere Recherchequellen

Science Media Center (2021): Dunkelflauten-Guide.