Antarktischer Gletscher verliert Eis in Rekordtempo
ein Gletscher der Antarktischen Halbinsel hat innerhalb eines Jahres rund 25 Kilometer seiner Länge verloren. Eine Studie, die am 03.11.2025 im Fachjournal „Nature Geoscience“ (siehe Primärquelle) veröffentlicht wurde, kommt zu dem Schluss, dass ein bislang wenig erforschter Prozess der Gletscherdestabilisierung den außergewöhnlich starken Eisverlust ausgelöst hat. Die Forschenden halten es für möglich, dass dieser Prozess auch bei größeren Gletschern in der Antarktis eine Rolle spielen kann.
Am Hektoria-Gletscher, einem Auslassgletscher an der Ostküste der Antarktischen Halbinsel, der vom Inlandeis in Richtung Weddell-Meer fließt, ist einer der schnellsten jemals beobachteten Gletscherrückzüge dokumentiert worden [I]. Im November und Dezember 2022 verlor der Gletscher an seiner Front durch Kalbung, also den Abbruch von Eisbergen an Schelfeisen oder an Gletschern, die ins Meer münden, etwa 800 Meter Eis pro Tag. Gletscher an der Küste der Antarktischen Halbinsel sind besonders anfällig für dynamische Veränderungen [II]. Das liegt neben den klimatischen Besonderheiten der Region [III] auch daran, dass entscheidende Stützelemente der Gletscher, wie das Schelfeis, eine schwimmende Eisplatte, die sich dort bildet, wo Gletscher oder Inlandeis ins Meer übergehen, in jüngerer Vergangenheit verloren gegangen sind. Bereits der Zerfall des Larsen-B-Eisschelfs, eines ehemals ausgedehnten, schwimmenden Schelfeises an der Ostküste der Antarktischen Halbinsel, führte im Jahr 2002 dazu, dass der Hektoria-Gletscher erhebliche Eismassen verlor [IV]. Die jüngsten Entwicklungen wurden dagegen durch den Verlust von sogenanntem Festeis begünstigt, also von Eis, das auf der Meeresoberfläche aufschwimmt, aber mit der Küste verbunden ist.
Professor für Glaziologie und stellvertretender Leiter der Versuchsanstalt Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), Schweiz
Besonderheiten des Hektoria-Gletschers
„Der Hektoria-Gletscher ist an seiner Unterseite, also dort wo das Gletschereis in Kontakt mit dem Untergrund steht, durch eine große Ebene charakterisiert. Die Studie zeigt, dass diese Konfiguration für die beobachtete Instabilität maßgebend war.“
Dynamik des Eisverlustes
„Der Verlust des ‚Festeises‘, also Eis, welches auf der Meeresoberfläche schwimmt, aber an den Rändern mit er Küste verbunden ist, scheint für das Einsetzten der beobachteten Dynamik ein wichtiges Element gewesen zu sein. Durch das Verschwinden dieses Eises wurde das restliche Gletschereis weniger ‚zurückgehalten‘ und konnte so schnell abbrechen.“
Übertragbarkeit der Dynamik auf andere Gletscher
„Um so einen schnellen Rückzug auszulösen, braucht es eine spezielle Kombination von Topographie und Gletschergeometrie: einerseits muss die Meeresbathymetrie, also die Topographie des Meeresgrund, flach sein, andererseits muss der Gletscher eine Eisdicke aufweisen, die nahe am Schwimmgleichgewicht ist. Wird die Eisdicke dann etwas dünner, kommt es zum Aufschwimmen und durch die Einwirkung der Meeresströmungen und Gezeiten bricht das Eis. Wenn der Meeresuntergrund sehr flach ist und der Gletscher über größere Bereiche in etwa gleich dick, dann kann dieses Aufschwimmen über sehr große Bereiche mehr oder weniger gleichzeitig passieren. Genauso wie man es im Fall des Hektoria-Gletschers nun beobachtet hat.“
Auswirkungen auf Prognosen zum Meeresspiegelanstieg
„Die Studie zeigt, wie innerhalb sehr kurzer Zeit sehr große Eismassen verloren gehen können. Das Fehlen dieses Eises im Vorfeld des Inlandeises kann dann wiederum zu einer Beschleunigung der Fließbewegung des Inlandeises führen, was dann wiederum vermehrt in die Meere gelangt. Es gibt also eine Art positive Rückkoppelung im Eisverlust, welche denkbar unerwünscht ist.“
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Earth Observation Center, Abteilung Dynamik der Landoberfläche, Team kalte und polare Regionen, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Oberpfaffenhofen
Besonderheiten des Hektoria-Gletschers
„Der Hektoria-Gletscher, der in die Bucht des ehemaligen Larsen-B-Eisschelfs fließt, verlor nach dem Zusammenbruch des Eisschelfs seine stützende Eisschicht, wodurch er sich deutlich beschleunigte und ausdünnte. Die Larsen-B-Bucht gilt seither als wichtiges Gebiet, um zu untersuchen, wie Gletscher auf den Verlust von stabilisierendem Schelfeis reagieren.“
Dynamik des Eisverlustes
„Zwischen Januar 2022 und März 2023 zeigte sich auf Satellitenbildern ein außergewöhnlich schneller Rückzug des Hektoria-Gletschers. Laut der aktuellen Studie lässt sich dieser rasche Rückzug auf eine sogenannte ‚ice plain‘ zurückführen – einen flachen Bereich des Untergrunds unterhalb des Meeresspiegels, auf dem der Gletscher aufliegt. Sobald der Gletscher auf dieser Fläche aufschwimmt und nicht mehr mit dem darunterliegenden Gestein verbunden ist, wird das Eis empfindlicher gegenüber äußeren Störungen. Dies kann verstärktes Kalben von Eisbergen zur Folge haben, wodurch sich die Gletscherfront innerhalb weniger Tage um mehrere Kilometer zurückziehen kann. Im Fall des Hektoria-Gletschers führte dies beispielsweise zu einem Rückzug von etwa 2,5 Kilometern innerhalb von nur zwei Tagen, was durch Satellitenbilder belegt werden konnte.“
Übertragbarkeit der Dynamik auf andere Gletscher
„In der Wissenschaft wird die Rolle von landfestem Meereis, sogenanntem ‚fast ice‘, bei der Stabilisierung von Gletschern intensiv diskutiert. Zwar deuten Studien, die auf Satellitenbeobachtungen basieren, darauf hin, dass dieses Meereis die Gletscherfront stützen und das Kalben von Eisbergen verringern kann. Modellrechnungen zeigen jedoch, dass der Einfluss von landfestem Meereis vernachlässigbar ist und andere Faktoren entscheidender sind, beispielsweise verstärkter Seegang durch das fehlende ‚fast ice‘. Die aktuelle Studie zeigt, dass die Topographie des Untergrunds für den beobachteten starken Rückzug des Hektoria-Gletschers von entscheidender Bedeutung war.“
Auswirkungen auf Prognosen zum Meeresspiegelanstieg
„Der antarktische Eisschild ist nach wie vor die größte Unsicherheit bei Vorhersagen zum zukünftigen Meeresspiegelanstieg. Da Kalbungsprozesse in Eisschildmodellen noch nicht ausreichend dargestellt sind, sind die Vorhersagen zum Meeresspiegelanstieg sehr unsicher. Um den zukünftigen Meeresspiegel zuverlässig vorherzusagen, ist es wichtig, Modelle durch Satellitendaten zur Gletscherdynamik zu ergänzen. Gleichzeitig müssen plötzliche Änderungen im Kalbungsverhalten, wie die schnellen, auftriebsgesteuerten Rückzüge des Hektoria-Gletschers, in den Modellierungen berücksichtigt werden.“
Professor für Physik, Geophysikalisches Institut, University of Alaska, Fairbanks, Vereinigte Staaten von Amerika
Besonderheiten des Hektoria-Gletschers
„Die ‚ice plain‘ spielt hier eine grundsätzliche Rolle. Die Oberflächenneigung und die Gletscherbettgeometrie sind in diesem Beispiel so, dass mehrere Kilometer Gletscher fast gänzlich aufschwimmen. Nur unter diesen speziellen Bedingungen ist ein so rapider Rückgang überhaupt möglich. Im Allgemeinen ist das nicht typisch. So ein extremer Fall ist seit der Satelliten-Ära nie dokumentiert worden, allerdings gibt es Hinweise, dass sich ähnliche Prozesse auch in der Vergangenheit abgespielt haben. Es ist so gut wie sicher, dass es auch in der Zukunft wieder vorkommt.“
Dynamik des Eisverlustes
„‚Fast ice‘ ist eine Art Meereis. Es heißt genauer ‚landfast ice‘, was darauf hindeutet, dass die Eisschicht am Land festsitzt. Normalerweise kann sich Meereis relativ leicht bewegen. In diesem Fall hängt das ‚fast ice‘ an der Gletscherzunge fest. Es ist schon in vorhergehenden Studien aufgezeigt worden, dass dieses Eis einen sehr profunden Einfluss auf die Gletscher hat. Über die genauen Prozesse beispielsweise den sogenannten buttressing effect (Rückhaltekräfte durch schwimmende Schelfeise; Anm.d. Red.) lässt sich streiten, aber die Präsenz von ‚fast ice‘ und vor allem von ‚multi year fast ice‘ hat einen direkten Einfluss auf die Kalbungsrate an der Gletscherfront und hilft damit die Gletscher zu stabilisieren. Das ‚fast ice‘ ist aber nur wenige Meter dick und kann relativ leicht aufbrechen. Entweder weil es warm ist oder auch durch Wind. Wenn das passiert, dann ist für die Gletscher die Hölle los. Der Verlust vom ‚fast ice‘ im Jahr 2022 hat direkt zu einer hohen Kalbungsrate geführt. Dies löste dann einen positiven Rückkopplungszyklus aus: Der Verlust von Eis führt zu weniger Widerstand und daher einer Beschleunigung der Gletscherbewegung. Das führt dann zu einem Verlust der Eisdicke, da das Eis wegfließt und zu reduzierter Haftung des Eises an den Untergrund und damit zu höheren Kalbungsraten und weiterer Beschleunigung: eine Art Teufelskreis.“
Übertragbarkeit der Dynamik auf andere Gletscher
„Die Bedingungen sind rein geometrisch: Die Oberfläche und der Untergrund sind so beschaffen, dass eine größere Gletscherfläche fast genau aufschwimmt. Wegen dem Dichteunterschied von Eis und Wasser ist das der Fall, wenn die Oberfläche etwa zehn Mal weniger schnell ansteigt als der Untergrund tiefer wird. Das kann abhängig von den Gegebenheiten bei vielen Gletschern vorkommen. Den Untergrund kann man mit Radar messen, aber die Oberfläche passt sich laufend ans Klima und die dynamischen Bedingungen an, und ist daher etwas schwieriger zu evaluieren.“
Auswirkungen auf Prognosen zum Meeresspiegelanstieg
„Der Kalbungsprozess ist im Allgemeinen schwierig in Modellen zu beschreiben und ist zurzeit die größte Unsicherheit in Gletschermodellen, vor allem in der Antarktis. Diese Art Beobachtung ist daher ungeheuer wichtig, da sie spezifische Herausforderungen an unsere Modelle stellt. Je besser moderne Eismodelle diesen Prozess im Nachhinein modellieren können, desto besser können wir uns auf prognostische Modelle verlassen.“
„Ein Interessenkonflikt liegt nicht vor.“
„Ich kenne die Autorinnen und Autoren und habe bereits mit Ihnen zusammengearbeitet. Für mich besteht darin kein Interessenkonflikt.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten
Primärquelle
Ochwat N et al. (2025): Record grounded glacier retreat caused by an ice plain calving process. Nature Geoscience. DOI: 10.1038/s41561-025-01802-4.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Fluegel BL et al. (2024): The two-decade evolution of Antarctica's Hektoria glacier and its 2022 rapid retreat from satellite observations. Geophysical Research Letters. DOI: 10.1029/2024GL110592.
[II] Davies BJ et al. (2012): Variable glacier response to atmospheric warming, northern Antarctic Peninsula, 1988–2009. The Cryosphere. DOI: 10.5194/tc-6-1031-2012.
Dazu auch: Science Media Center (2021): Die Antarktis im Klimawandel. Statements. Stand: 02.07.2021.
[III] Science Media Center (2023): Antarktis im Klimawandel. Living Fact Sheet. Stand: 20.10.2023.
[IV] Rignot E et al. (2004): Accelerated ice discharge from the Antarctic Peninsula following the collapse of Larsen B ice shelf. The Cryosphere. DOI: 10.1029/2004GL020697.
Prof. Dr. Daniel Farinotti
Professor für Glaziologie und stellvertretender Leiter der Versuchsanstalt Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), Schweiz
Dr. Celia Baumhoer
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Earth Observation Center, Abteilung Dynamik der Landoberfläche, Team kalte und polare Regionen, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Oberpfaffenhofen
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ein Interessenkonflikt liegt nicht vor.“
Prof. Dr. Martin Truffer
Professor für Physik, Geophysikalisches Institut, University of Alaska, Fairbanks, Vereinigte Staaten von Amerika
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich kenne die Autorinnen und Autoren und habe bereits mit Ihnen zusammengearbeitet. Für mich besteht darin kein Interessenkonflikt.“