Quoten für weniger Lebensmittelverschwendung in der EU
EU-Parlament hat für Quoten zur Verringerung von Lebensmittelabfällen abgestimmt
Vorschläge bleiben hinter Zielen des Green Deals zurück und klammern Landwirtschaft aus
Forschende fordern ambitioniertere Quoten; nennen schlechte Datenlage und uneinheitliche Definitionen als Hürde
Am 13. März hat das EU-Parlament für verbindliche Quoten zur Verringerung von Lebensmittelabfällen bis 2030 abgestimmt [I]. Die EU-Kommission hatte im Rahmen einer Überarbeitung der Abfallrahmenrichtlinie vorgeschlagen, dass Lebensmittelabfälle in der Herstellung um 10 Prozent und im Handel, der Gastronomie und Haushalten um 30 Prozent verringert werden müssen [II]. Das Referenzjahr ist 2020. Der Umweltausschuss des Parlaments hat diese in einem Kompromissvorschlag auf 20 Prozent beziehungsweise 40 Prozent erhöht [III]. Das Parlament fordert die Kommission auf, zu prüfen, ob noch höhere Quoten von 30 beziehungsweise 50 Prozent möglich sind. Lebensmittelverluste in der Landwirtschaft sind davon nicht betroffen.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Marktanalyse, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Braunschweig
Einschätzung der vorgeschlagenen Quoten
„In der Farm-to-Fork-Strategie werden Lebensmittelabfälle explizit im Zusammenhang mit einer ,kreislaufbasierten und nachhaltigen EU-Bioökonomie‘ genannt. Aus meiner Sicht würde dies eine umfassende Nutzung von Lebensmittelabfällen als Inputmaterial in der Lebensmittel- und Non-Food-Industrie bedeuten, was eine Umlenkung der Ströme vom bisherigen Abfallregime zu den Nebenprodukten bedingt. Nachdem letztere juristisch nicht zu den Abfällen zählen, könnte damit eine entsprechende Reduktion der Lebensmittelabfälle erzielt werden. Welches Potenzial solche Maßnahmen hätten, kann ich anhand der unvollständigen vorhandenen Datenlage leider nicht beantworten.“
„Auf Grundlage ,der von den Mitgliedstaaten für 2022 erwarteten Daten wird [die Kommission] einen Referenzwert festlegen und rechtsverbindliche Ziele zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle in der gesamten EU vorschlagen‘, kann in der Farm-to-Fork-Strategie nachgelesen werden. Wirft man einen Blick auf die von Eurostat im September 2023 für das Jahr 2021 veröffentlichten Daten, wird klar, dass auch im zweiten Jahr der verpflichtenden EU-Berichterstattung 18 der 27 Länder entweder gar keine Daten, nur geschätzte Zahlen oder Daten mit abweichender Definition für die einzelnen Sektoren berichten haben [1]. Zudem gibt es unterschiedliche Vorarbeiten in den einzelnen Ländern: Die Vermeidungsaktivitäten haben in unterschiedlichen Jahren begonnen und damit wurden einfach umzusetzende Maßnahmen eventuell schon realisiert. Darum kann ich nachvollziehen, dass ein Festlegen von einheitlichen verpflichtenden Zielen für alle Mitgliedsländer eine Herausforderung darstellt.“
„Angesichts des Titels der Farm-to-Fork-Strategie – also ,vom Hof auf den Tisch‘ – könnte durchaus erwartet werden, dass alle Ebenen des Lebensmittelsystems in derartigen Vorgaben abgebildet werden.“
Lebensmittelverluste in der Landwirtschaft
„Um Missverständnisse zu vermeiden, wird darauf hingewiesen, dass es in der EU derzeit keine Definition von ,Lebensmittelverlusten‘ gibt. Zu einer entsprechenden Änderung laufen EU-geförderte Forschungsprojekte. Warum der Vorschlag der Kommission Lebensmittelabfälle aus der Primärproduktion ausklammert, ist mir nicht bekannt. Nach Angaben von Eurostat betrug der Anteil der Primärproduktion an den gesamten in der EU gemeldeten Lebensmittelabfällen im Jahr 2021 rund neun Prozent [2]. Diese Zahl ist jedoch vor dem Hintergrund der oben angemerkten schlechten Datenqualität zu betrachten. Dazu kommt der Umstand, dass potenzielle Materialströme in der Primärproduktion, die im Rahmen der Ziele der Farm-to-Fork-Strategie für eine bessere Nutzung im Kontext der Bioökonomie interessant wären, per Definition nicht als Lebensmittelabfälle registriert werden.“
Strategien zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen
„In den letzten Jahren hat sich in Fallstudien herauskristallisiert, dass auf guten Grundlagendaten basierende Maßnahmenbündel, die zielgruppengerecht und regional angepasst entlang des gesamten Lebensmittelsystems umgesetzt werden, erfolgversprechend sind. Leider gibt es für eine Betrachtung auf nationaler oder internationaler Ebene zu wenige Evaluierungen von Maßnahmen und für die Fragestellung ungeeignete Monitorings von Lebensmittelabfällen, um tatsächliche Erfolge möglicher Strategien derzeit vorhersagen zu können. Das liegt auch an der komplexen Struktur des Lebensmittelsystems mit seinen unzähligen Akteuren sowie internen und externen Einflussfaktoren. Kooperationen zwischen Akteuren und die Schaffung eines ermöglichenden Rahmens für Innovationen scheinen jedoch zu den wichtigen Schlüsselfaktoren zu zählen.“
Möglicher Zielkonflikt mit Verpackungsverordnung
„Auch im Rahmen der Farm-to-Fork-Strategie soll die Optimierung von Verpackungssystemen vorgenommen werden, unter anderem auch, um das Auftreten von Lebensmittelabfällen zu reduzieren. Verpackungen können vielfältige Aufgaben haben, neben der Schutzfunktion können sie auch relevante Informationen für die Nutzer bereitstellen. Es liegen vereinzelt Studien vor, die zeigen, dass Kunststoffverpackungen für bestimmte Produkte – vorwiegend frisches Obst und Gemüse – aufgrund ihrer Schutzfunktion das Aufkommen von Lebensmittelabfällen reduzieren. Dabei sind die Umweltauswirkungen der Verpackungen entlang ihres Lebenszyklus geringer als die Umweltauswirkungen der potenziellen Lebensmittelabfälle, wenn auf diese Verpackung verzichtet wird.“
„Andere Studien zeigen, dass Verpackungen hinderlich sein können, wenn es zum Beispiel um die zeitaufwendige Entfernung und Sortierung zur Weitergabe von einwandfreien Produkten aus einer Verpackung geht oder wenn es zu einer Stornierung einer Lieferung an einen Einzelhändler kommt, wenn diese bereits mit gebrandeter Verpackung bereitsteht. Eine alternative Vermarktung ist dann meist aufgrund von hohen Kosten für ein kurzfristiges Umpacken nicht wirtschaftlich möglich.“
„In den letzten Jahren haben innovative Verpackungslösungen gezeigt, dass auch Verpackungen aus anderen Materialien als Kunststoff eine entsprechende Schutzfunktion für bestimmte Produkte ausüben können. Die Entscheidung, ob für ein bestimmtes Produkt keine oder eine bestimmte Verpackungsart besser als Kunststoff ist, muss fallbezogen getroffen werden. Dabei können mittlerweile modellbasierte Tools unterstützen. Es ist darauf hinzuweisen, dass neben der Verpackung an sich auch Überlegungen zum Transport und unterstützender Umverpackungen zu berücksichtigen sind. Diese können auch eine Optimierung bei der Lagerung, dem Transport sowie dem Ausstellen der Produkte zum Verkauf erzielen.“
Professorin für Sozioökonomie in Haushalt und Betrieb, Hochschule Osnabrück, und Senior Researcherin in der Abteilung Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
„Durch Lebensmittelabfälle entstehen enorme ökonomische und ökologische Verluste. Privathaushalte in Deutschland verlieren jährlich 280 Euro pro Person durch Lebensmittel, die in der Tonne landen. Durch die Überproduktion entstehen ökologische Schäden – etwa durch Nitratüberschüsse –, die vermeidbar wären. Dabei haben eigentlich alle Akteure ein Interesse daran, Lebensmittelabfälle zu vermeiden. Niemand profitiert davon.“
„Mittelfristig – in den nächsten Jahrzehnten – wird sich das Problem der Überproduktion aber wahrscheinlich ohnehin verringern. In den Krisen der vergangenen Jahre haben wir bereits gesehen, dass Unternehmen wegen höherer Preise stärker kalkulierten und so weniger Lebensmittelüberschüsse entstanden.“
Einschätzung der vorgeschlagenen Quoten
„Die von Kommission und Umweltausschuss vorgeschlagenen Quoten zur Verringerung von Lebensmittelabfällen sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber aus wissenschaftlicher Sicht sind die Zahlen eher gering. Es stellt sich die Frage, warum nicht eine stärkere Verringerung angestrebt wird – zum Beispiel von 50 bis 75 Prozent – und Zwischenziele formuliert werden.“
„Die Ziele erfordern ein Monitoring von Lebensmittelabfällen, welches bislang nicht zufriedenstellend ist. Über das Thünen-Institut ist ein Monitoring zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen im Groß- und Einzelhandel in Deutschland geplant.“
Lebensmittelverluste in der Landwirtschaft
„Es fallen in der Landwirtschaft Lebensmittelabfälle an, wenn Lebensmittel nicht geerntet und untergepflügt werden, da sie etwa wegen ungünstiger Wetterbedingungen den Qualitätsansprüchen nicht genügen. Dies bedeutet ökonomische Verluste, ist jedoch aus ökologischer Sicht nicht negativ zu bewerten, da die Nährstoffe im Boden bleiben. Somit besteht grundsätzlich zwar Verbesserungspotenzial, aber der Fokus sollte auf die Einsparungen auf den anderen Stufen der Wertschöpfungskette gelegt werden.“
„Der Grund dafür, dass der Vorschlag der Kommission Lebensmittelabfälle in der Landwirtschaft ausklammert, könnte definitionsbedingt sein. Bislang haben verschiedene Erhebungen keine einheitliche Definition genutzt.“
„Der Thünen-Report von 2015 definiert Lebensmittelabfall so [3]: ,Lebensmittelabfall ist jedes Lebensmittel sowie dessen ungenießbarer Anteil, welches der Lebensmittelwertschöpfungskette zur Rückgewinnung oder Entsorgung entnommen wird (einschließlich kompostierte Lebensmittel, untergepflügte Pflanzen, nicht geerntete Pflanzen, anaerobe Gärung, Produktion von Bioenergie, Verbrennung, Entledigung in Kanalisation, Mülldeponie oder Einleitung ins Meer).‘ Demnach fallen bei der Primärproduktion zwölf Prozent der Lebensmittelabfälle in Deutschland an.“
„Das Statistische Bundesamt legt die Definition des Delegierten Beschluss (EU) 2019/1597 zugrunde [4]: ,Nicht zu Lebensmittelabfällen gehören die Verluste, die auf Stufen der Lebensmittelkette auftreten, auf denen bestimme Erzeugnisse noch nicht als Lebensmittel im Sinne des Artikels 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 gelten, zum Beispiel noch nicht geerntete essbare Pflanzen.‘ Auf dieser Grundlage fallen bei der Primärproduktion für das Bezugsjahr 2020 nur zwei Prozent der Lebensmittelabfälle in Deutschland an [5].“
Strategien zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen
„Insgesamt wäre es wichtig, nicht nur den Endverbraucher in den Blick zu nehmen, sondern die gesamte Wertschöpfungskette. Entlang dieser gibt es viele Ineffizienzen. Erste qualitative Ergebnisse aus unserem Projekt LeMiFair zeigen, dass zum Beispiel der Handel intern Daten über Lebensmittelabfälle erhebt, diese aber nicht weitergibt. Das in Deutschland geplante Monitoring wird hierbei sehr hilfreich sein.“
„In der Verarbeitung können die Produktionsmengen mithilfe von Prognosemodellen optimiert werden. Im Handel können Bestell- und Verbrauchsprognosen zum Einsatz kommen, außerdem Preisreduktionen und Lebensmittelweitergabe, etwa an Tafeln oder ähnliche Organisationen. Eine Verbesserung und Erweiterung des Systems für die Lebensmittelweitergabe ist erforderlich, um bislang ungenutzte Potenziale nutzen zu können – zum Beispiel in der Außer-Haus-Verpflegung. Oft werden Lebensmittel nicht weitergegeben, weil Logistikprozesse noch nicht effizient funktionieren und Ressourcen von Unternehmen binden. Zudem fehlen den Tafeln teils die notwendigen Lagerkapazitäten. Bei privaten Haushalten können Informationskampagnen und Sensibilisierung Menschen helfen, Mahlzeiten und Einkäufe vorausschauender zu planen.“
„Die qualitative Einschätzung zeigt, dass auch bislang unberücksichtigte Stufen der Wertschöpfungskette Lebensmittelabfälle verursachen. Das betrifft zum Beispiel die Logistik, wenn bestellte Lebensmittel nicht an den Einzelhandel abverkauft, aber auch nicht an den Produzenten zurückgegeben werden können. Auch diese Lebensmittelüberschüsse könnten durch Weitergabe über Tafeln und ähnliche Institutionen verringert werden.“
Möglicher Zielkonflikt mit der Verpackungsverordnung
„Es ist nicht zu erwarten, dass es durch das Verbot von Kunststoffverpackungen für frisches Obst und Gemüse zu deutlich mehr Lebensmittelabfällen kommen wird. Neben dem Haltbarmachen von Lebensmitteln haben Verpackungen auch hygienische und Unterscheidungsgründe. Es ist zu erwarten, dass Produzenten und Handel sich gemeinsam effiziente Lösungen einfallen lassen.“
Weiterer EU-Prozess
„Es gibt verschiedene Länder, die sich auf den Weg gemacht haben, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Lebensmittelspendenpflicht des Handels in Frankreich. In Deutschland bilden Tafeln inzwischen ein sehr großes System und es gibt sie selbst in den kleinsten Kommunen. Dazu kommen Informationskampagnen wie ,Zu gut für die Tonne‘. Es gibt noch viel Potenzial, aber wir schaffen schon viel.“
„Die Länder sind somit bereits auf einem guten Weg, aber es ist immer mehr Handlungsdruck nötig. Die Lebensmittelweitergabe hat sich durch die Krisen – vor allem den Ukraine-Krieg und die Inflation – verändert. Der Markt wird sich somit auch unabhängig von der Politik verändern und es wird mit der Zeit weniger Überfluss geben.“
Wissenschaftliche Referentin für Agrarpolitik, Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft, Berlin
Einschätzung der vorgeschlagenen Quoten
„Die EU-Kommission hat im Rahmen der Überarbeitung der Abfallrahmenrichtlinie eine Verringerung der Lebensmittelabfälle um 10 Prozent in der Verarbeitung und um 30 Prozent im Handel, in Haushalten und in der Gastronomie bis 2030 vorgeschlagen. Diese Quoten wurden vom Umweltausschuss des EU-Parlaments auf 20 Prozent in der Herstellung und 40 Prozent im Handel und in Haushalten angehoben."
„Sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene wurden bereits ehrgeizigere Ziele zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung festgelegt als die nun vorgeschlagenen Quoten. Es ist überraschend, dass EU-Kommission und der Umweltausschuss im EU-Parlament auf Ebene von Handel und Verbraucher:innen bis 2030 hinter den UN-Nachhaltigkeitszielen zurückbleiben [6].“
„Rechtsverbindliche Reduktionsziele zur Verringerung der Lebensmittelabfälle entlang der Lieferkette sind sinnvoll. Allerdings sollten diese Reduktionsziele die gesamte Lieferkette abdecken und die festgelegten Zielvorgaben der UN-Nachhaltigkeitsziele berücksichtigen. Bereits 2015 wurde mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung festgelegt, die Lebensmittelabfälle bis 2030 im Handel und auf Verbraucherebene zu halbieren. Die Zielvorgaben mündeten im Rahmen des Fit-for-55-Pakets in die EU-weite Farm-to-Fork-Strategie und auf nationaler Ebene mit dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft in den Klimaschutzplan 2050 und in die Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung.“
„Lebensmittelverschwendung ist ein großes Problem und eine enorme Ressourcen- und Energieverschwendung. Sie führt dazu, dass Nahrungsmittel schlechter für alle verfügbar sind und die Lebensmittelerzeugung viel ineffizienter wird als nötig. Laut dem Thünen-Institut könnten die Treibhausgasemissionen durch Lebensmittelkonsum um zehn Prozent gesenkt werden, wenn bis 2030 die Lebensmittelabfälle auf Handels- und Verbraucherebene gemäß den UN-Nachhaltigkeitszielen halbiert würden [7]. Das entspricht 17 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten und könnte die landwirtschaftliche Nutzfläche um 4 Millionen Hektar verringern. Weniger Lebensmittelverschwendung könnte damit auch einen wertvollen Beitrag zur Abschwächung der Flächenkonkurrenz leisten. Deswegen sollte darauf hingewirkt werden, dass die vorgeschlagenen Quoten zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen an die UN-Nachhaltigkeitsziele und die der Farm-to-Fork-Strategie sowie der Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung angeglichen und konsequent umgesetzt werden.“
Lebensmittelverluste in der Landwirtschaft
„Im Jahr 2020 wurden in Deutschland entlang der Lebensmittelversorgungskette insgesamt elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle produziert [5]. Den größten Anteil daran haben die Verbraucher:innen mit 59 Prozent, gefolgt von der Außer-Haus-Verpflegung, also Restaurants, Gemeinschaftsverpflegung und Catering mit 17 Prozent. Dicht dahinter kommt die Verarbeitung mit 15 Prozent, der Handel mit 7 Prozent und die Primärproduktion mit 2 Prozent. Dennoch ist es unverständlich, dass der EU-Vorschlag die Primärproduktion nicht berücksichtigt. Die EU-weiten Zielvorgaben sollten die gesamte Lieferkette einschließen.“
„Die Landwirtschaft unterliegt einer definitorischen Herausforderung: Vorernte- und Ernteverluste zählen nach europäischer Richtlinie nicht als Lebensmittelabfälle, da sie nicht für die menschliche Ernährung verwendet werden, sondern zuvor aussortiert oder weggeworfen werden [4]. Auch Futtermittel fallen nicht unter die Kategorie Lebensmittelabfälle. Darüber hinaus wird die Menge an Lebensmittelabfällen in der Landwirtschaft auch durch ungünstige Umweltbedingungen beeinflusst. Durch häufigere Extremwetterereignisse in Folge des Klimawandels können sie zukünftig deutlich zunehmen, wenn erntereife Produkte wie Getreide oder Obst in großem Umfang zu Schaden kommen, zum Beispiel durch Starkregen oder Stürme.“
„Es braucht an allen Stellen der Lieferkette ressourceneffiziente Maßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle. Mit einem rechtsverbindlichen Rahmen könnte dies effektiver vorangetrieben werden.“
Strategien zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen
„Maßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle müssen wirksam gestaltet und dabei ökonomisch und ökologisch effizient sowie sozialverträglich sein. Unsere Ernährung ist eng mit unseren Konsumgewohnheiten verknüpft. Um hier erfolgreich Veränderungen umzusetzen, ist ein stimmiger und zielgerichteter Maßnahmenmix nötig. Dafür müssen sich die relevanten Ressorts und Politikebenen stärker verknüpfen und abstimmen.“
„Auf Unternehmensebene spielen beispielsweise Ursachenanalysen und Vermeidungsstrategien sowie deren Einbindung in die Nachhaltigkeitsberichterstattung eine große Rolle. Der Handel ist entscheidend bei der Verbindung von Lebensmittelproduktion und -konsum. Beispielsweise kann dieser die Menge an Lebensmittelabfällen in der Landwirtschaft durch die Gestaltung der Vertragsbeziehungen beeinflussen. Auch die Verbraucher:innen können dort über informatorische Maßnahmen erreicht werden. Ebenfalls sind die rechtlichen Rahmenbedingungen relevant und sollten klarer sein, beispielsweise für die Weitergabe von Lebensmitteln.“
„Obwohl die Lebensmittelpreise in den letzten Jahren aufgrund der Inflation gestiegen sind, sind sie im Verhältnis zum Haushaltseinkommen in Deutschland immer noch relativ niedrig. Dadurch gibt es kaum einen monetären Anreiz, Lebensmittelabfälle in Haushalten zu vermeiden. Gleichzeitig verursacht die Lebensmittelproduktion erhebliche Umweltprobleme, die sich nicht in den Preisen widerspiegeln.“
„Hier ist die Politik gefragt, mit zielgerichteten Maßnahmen die Wertschätzung von Lebensmitteln zu steigern, beispielsweise durch gezielte Kommunikations- und Bildungskampagnen. Auch eine bessere Abbildung der Umweltkosten würde zur Sensibilisierung beitragen. Das kann etwa durch eine Anhebung der Mehrwertsteuer für tierische Produkte auf den Regelsatz erreicht werden oder mit fairen Preise für Erzeuger:innen für nachhaltigere Produktionsweisen, zum Beispiel durch eine Tierwohlabgabe, die an die Tierhalter:innen zurückfließt und für den Umbau der Nutztierhaltung eingesetzt wird.“
„Diese Maßnahmen würden teilweise zu steigenden Lebensmittelpreisen führen. Proportional gesehen würden dadurch Haushalte mit geringem Einkommen stärker belastet, deswegen sind gerade dort soziale Flankierungsmaßnahmen nötig, ebenso wie besonders gezielte Informations- und Bildungsangebote. Insgesamt ist die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung wegen ihrer Komplexität eine gemeinschaftliche Aufgabe für Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft.“
Dozent am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft, Departement Sozialwissenschaften, Universität Bern, Schweiz
Einschätzung der vorgeschlagenen Quoten
„Die Farm-to-Fork-Strategie der EU sieht eine Reduktion der Lebensmittelabfälle bis 2030 von 50 Prozent im Einzelhandel und bei Verbrauchern vor – dies steht im Einklang mit den globalen Nachhaltigkeitszielen. Der derzeitige Vorschlag der EU-Kommission für verbindliche Reduktionsquoten von mindestens 30 Prozent Reduktion bei Einzelhandel, Gastronomie und Haushalten liegt deutlich unter den ursprünglichen Zielen der Farm-to-Fork-Strategie. Selbst der Kompromissvorschlag des EU-Parlamentes von einer verbindlichen Reduktion von 40 Prozent liegt unterhalb der ursprünglichen Ziele.“
„Dennoch wäre ein EU-weites, verbindliches Reduktionsziel von 40 Prozent ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Solche verbindlichen Ziele können positive Kipppunkte zur Reduktion von Lebensmittelabfällen in Mitgliedsstaaten, bei Wirtschaftsakteuren sowie in der Zivilgesellschaft entfalten – wie das Beispiel des französischen Gesetzes zur Reduktion von Lebensmittelabfällen zeigt [8].“
Strategien zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen
„Konkret müssten neben den verbindlichen Zielen allerdings auch rasch griffige Maßnahmen zur Reduktion von Lebensmittelabfällen folgen, insbesondere bei Produkten mit hohem Umweltfußabdruck. Vor allem Abfälle tierischer Produkte tragen erheblich zu klimaschädlichen Emissionen bei. In der EU machen diese mehr als 80 Prozent aller durch Lebensmittelabfälle verursachten Emissionen aus [9].“
„Effektive Maßnahmen für die Reduktion von Lebensmitteln können beispielsweise kleinere Teller- und Verpackungsgrößen in Restaurants, Kantinen und im Einzelhandel sein, weniger Aktionsangebote, verpflichtende Lebensmittelspenden von Restaurants, Kantinen und Einzelhandel sowie Änderungen bei der Regulation von Mindesthaltbarkeitsdaten.“
„Besonders effektiv wäre zudem eine Reduktion des Konsums tierischer Produkte, da dadurch auch der Lebensmittelabfall von besonders emissionsintensiven Produkten sinken würde. Höhere Preise für solche emissionsintensiven Produkte – zum Beispiel durch eine Tierwohl- oder Emissionsabgabe in Kombination mit Ausgleichszahlungen für niedrige Einkommensgruppen und Bauern – könnten gezielt und wirkungsvoll die Lebensmittelabfälle besonders klimaschädlicher Produkte reduzieren. Studien zeigen zudem, dass die Bevölkerung bereit wäre, für stärkere Maßnahmen zur Reduktion von Lebensmittelabfällen höhere Lebensmittelpreise in Kauf zu nehmen [10].“
„Es bestehen keine Interessenskonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Eurostat: Food waste by sector of activities by Member State, 2021. Stand: 11.03.2024.
[2] Eurostat: Food waste and food waste prevention – estimates. Stand: 11.03.2024.
[3] Schmidt et al. (2019): Lebensmittelabfälle in Deutschland. Baseline 2015. Johann Heinrich von Thünen-Institut.
[4] Europäische Union (03.05.2019): Deligierter Beschluss (EU) 2019/1597 der Kommission.
[5] Statistisches Bundesamt (30.06.2022): Lebensmittelabfälle in Deutschland.
[6] United Nations: Sustainable Development Goal 12: Ensure sustainable consumption and production patterns.
Unterziel 12.3 bezieht sich auf Lebensmittelabfälle.
[7] Schmidt F et al. (2019): Wege zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen - Pathways to reduce food waste. Johann Heinrich von Thünen-Institut.
[8] Lenton TM et al. (2023): The Global Tipping Points Report 2023. University of Exeter.
Kapitel 4.3.3.2 „Avoiding food loss and waste“ beschäftigt sich mit Lebensmittelverschwendung als Feld für mögliche positive Kipppunkte.
[9] Zhu J et al. (2023): Cradle-to-grave emissions from food loss and waste represent half of total greenhouse gas emissions from food systems. Nature Food. DOI: 10.1038/s43016-023-00710-3.
[10] Fesenfeld L et al. (2022): Policy framing, design and feedback can increase public support for costly food waste regulation. Nature Food. DOI: 10.1038/s43016-022-00460-8.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Europäisches Parlament (13.03.2024): MEPs call for tougher EU rules to reduce textiles and food waste.
[II] Europäische Kommission (05.07.2023): Food waste reduction targets.
[III] Umweltausschuss des EU-Parlaments (14.02.2024): Waste Framework Directive (WFD) - adoption of draft Report.
[IV] Eurostat: Food waste and food waste prevention – estimates. Stand: 11.03.2024.
[V] Bundeslandwirtschaftsministerium (21.06.2021): Lebensmittelabfälle in Deutschland: Aktuelle Zahlen zur Höhe der Lebensmittelabfälle nach Sektoren.
Dr. Felicitas Schneider
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Marktanalyse, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Braunschweig
Prof. Dr. Melanie Speck
Professorin für Sozioökonomie in Haushalt und Betrieb, Hochschule Osnabrück, und Senior Researcherin in der Abteilung Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
Dr. Beate Richter
Wissenschaftliche Referentin für Agrarpolitik, Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft, Berlin
Dr. Lukas Fesenfeld
Dozent am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft, Departement Sozialwissenschaften, Universität Bern, Schweiz