Krebserkrankungen bei Kindern durch Intensivierung der Landwirtschaft in Brasilien
Krebstodesfälle von unter Zehnjährigen stehen im Zusammenhang mit steigender Sojaproduktion in Brasilien
langjährige gering-dosierte Freisetzung von Pestiziden in Flüsse geht mit hohem Ausmaß der Krebserkrankungen einher
Forscher sehen in der Studie Hinweis auf die negativen Auswirkungen des Pestizideinsatzes, betonen aber die Korrelation der Daten und die fehlende Kausalität
Im Rahmen einer populationsbasierten Untersuchung wurde in Brasilien ein Zusammenhang zwischen der steigenden Sojaproduktion und der Todesrate von unter Zehnjährigen an akuter lymphatischer Leukämie (ALL) gefunden. Die Studie, die im Fachjournal „PNAS“ erschienen ist (siehe Primärquelle), leitet ihr Ergebnis aus dem durch den verstärkten Sojaanbau gestiegenen Pestizideinsatz und dessen Verteilung über die Wasserversorgung her.
Leiter Department System-Ökotoxikologie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig
Einschätzung der Studiendaten
„Es werden vermehrt Studien veröffentlicht, die eine Assoziation zwischen Pestizidbelastung in der Umwelt und Krankheiten aufzeigen. Wie auch in der vorliegenden Studie werden dabei Krankheitsfälle lediglich bei einem geringen Anteil der Population identifiziert. Dies ist bei niedriger Exposition auch zu erwarten.“
„Die vorliegende Untersuchung erfolgte auf der Basis einer sehr guten Datengrundlage. Insbesondere die Erfassung der Veränderung der Sojaproduktion, sowie die räumliche Differenzierung der beobachteten Inzidenzen, ermöglicht es eine überzeugende Assoziation zwischen Belastung und Krankheitsfällen herzustellen.“
„Die Differenzierung der beobachteten Inzidenzen zwischen flussabwärts und flussaufwärts weist stark auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Pestizidbelastung der Sojaproduktion und Krankheitshäufigkeit hin.“
Pestizide im Wasser als Ursache für erhöhte Krankheitsrate
„Es ist plausibel, dass die Assoziation zwischen dem Sojaanbau beziehungsweise Pestizideinsatz und der Krankheitslast bei Kindern nicht nur korrelativ ist; sondern ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Dies liegt begründet in der Beobachtung, dass flussabwärts des Sojaanbaus eine höhere Inzidenz als flussaufwärts beobachtet wurde. Somit ist es wahrscheinlich, dass die Erkrankungen mit einer anbaubedingten Belastung des Trinkwassers in Verbindung gebracht werden kann. Andere Ursachen als Pestizide sind in diesem Wirkszenario schwer vorstellbar.“
„Eine Ursachenermittlung von akuter lymphatischer Leukämie (ALL) durch Laborstudien in den relevanten, niedrigen Wirkkonzentrationen ist kaum möglich.“
Auf die Frage, welche zukünftigen Experimente und Analysen vonnöten wären, um die Ergebnisse zu bestätigen und einen klaren Auslöser zu identifizieren:
„Grundsätzlich ist es kaum möglich in kontrollierte Laboruntersuchungen die niedrigschwellige Wirkung von Umweltgiften zu identifizieren. Die notwendige Anzahl von Versuchstieren würde den realisierbaren Aufwand bei niedrigen Inzidenz-Anteilen übersteigen. Von daher sind epidemiologische Untersuchungen wie in der vorliegenden Untersuchung notwendig, um einen ursächlichen Zusammenhang von Schadstoffen und Krankheitsfällen zu identifizieren.“
„Die Einbeziehung zusätzlicher Prozesse kann dabei die Plausibilität eines korrelativen Zusammenhanges erhöhen. Dies würde hier durch die Analyse der Inzidenzen flussabwärts und flussaufwärts des Sojaanbaus erreicht.“
Fachgebietsleiter Statistische Methoden in der Genetik u. Chemometrie, Technische Universität Dortmund
Methodik und Modell
„Der Artikel untersucht Zusammenhänge zwischen gesteigerter Sojaproduktion und Kinderkrebsfällen in Brasilien. Dazu wird ein relativ einfaches statistisches Modell verwendet, bei dem noch andere wichtige Variablen hätten eingehen können. Die Analyse wird auf kleinen geographischen Gebieten durchgeführt, für die die Kinderkrebssterblichkeit relativ grob geschätzt werden kann.“
„Schon im Abstract wird geschrieben, dass es wenig Forschung zu ,Auswirkungen der Intensivierung des Einsatzes von Pestiziden auf die menschliche Gesundheit im weiteren Sinne in Brasilien‘ gibt, und dass in dem Artikel die ,Beziehung zwischen der Ausweitung der Sojaproduktion – und damit der Exposition der Bevölkerung gegenüber Pestiziden – auf das Auftreten von Krebs bei Kindern geschätzt’ wird. Die Autorinnen der Studie bemühen sich zu betonen, dass sie nur ,empirisch eine Beziehung‘ zwischen Pestiziden und Gesundheitsgefahren aufzeigen, und sie schreiben am Ende des Artikels: ,Da die Krebsentstehung ein komplexer und multifaktorieller Prozess ist, können die von uns verwendeten Instrumente keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Expansion des Sojaanbaus (und dem Pestizideinsatz) und Krebstodesfällen nachweisen.‘“
„Dennoch unterstellen sehr viele Formulierungen dann aber doch, dass ein kausaler Nachweis vorhanden ist: ,Unsere Ergebnisse sind nur die Spitze des Eisbergs‘. ,Dieser Artikel trägt zu einer wachsenden Zahl empirischer Belege über die Auswirkungen von Pestiziden auf die menschliche Gesundheit bei.‘ Das Wort Auswirkungen – hier ‚impact‘ – suggeriert einen kausalen Zusammenhang. Auch in der Diskussion steht: ,Anhand einer Reihe von Tests haben wir festgestellt, dass dieser Effekt auf eine indirekte Exposition gegenüber Pestiziden über Wasserquellen zurückzuführen ist.‘ Allein schon aufgrund des Designs der epidemiologischen Studie kann der kausale Nachweis aber prinzipiell so nicht geführt werden. Es können Zusammenhänge gezeigt werden, aber es müssten zumindest zahlreiche andere Faktoren zusätzlich untersucht werden.“
„Ein weiteres Statement lautet: ,123 zusätzliche Todesfälle von Kindern unter zehn Jahren von 2008 bis 2019‘. Da die größere Anzahl an Todesfällen in den betrachteten Modellen nur knapp signifikant ist (p<0.05), wäre die Angabe eines Konfidenzintervalls wichtig. Dies würde dann klarstellen, dass aus statistischer Sicht die Zunahme genauso gut auch nur knapp über null liegen könnte. Die alleinige Angabe präziser Zahlen ist bei solch großer statistischer Unsicherheit immer fragwürdig.“
„Obwohl der hier vermutete Zusammenhang plausibel scheint und möglicherweise korrekt ist, gibt es noch viele andere mögliche Erklärungen für die beobachteten Zusammenhänge in den Daten. Die Autorinnen führen einige zusätzliche durchdachte Analysen durch, aber viele andere Faktoren, wie etwa sozioökonomische Variablen, werden nicht betrachtet.“
„Eine weitere interessante Analyse unterteilt die geographischen Regionen in Brasilien danach, ob es innerhalb von 100 Kilometern ein hochqualifiziertes Zentrum für die Behandlung von Kinderkrebs gibt. Für Regionen mit Zugang zu einem solchen Zentrum zeigt sich der Zusammenhang zwischen Sojaproduktion und Kinderkrebssterblichkeit überhaupt nicht mehr, für die anderen ist er sogar verstärkt. Die Autorinnen argumentieren, dass durch die gute Behandlung die Krebsfälle fast vollständig geheilt werden. Auch hier gibt es viele alternative Erklärungen, die durch die Hinzunahme geeigneter Variablen in den statistischen Modellen ausgeschlossen werden könnten.“
Pestizide im Wasser als Ursache für erhöhte Krankheitsrate
„Als Begründung für die gezeigten Zusammenhänge wird oft von Wasserverschmutzung durch Pestizide geschrieben. Dies legt nahe, dass eine direkte Messung dieser Wasserverschmutzung und der damit eventuell korrelierenden Krebsfälle sehr viel zuverlässigere Ergebnisse liefern würde, auch wenn dies natürlich sehr viel aufwändiger wäre.“
Leiter der Arbeitsgruppe Human- und Umwelttoxikologie, Fachbereich Biologie, Universität Konstanz
Einschätzung der Studiendaten
„Die Ergebnisse bestärken einen vielfach angenommen jedoch nie bestätigten kausalen Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber Glyphosat und dem Aufkommen von akuter lymphoider Leukämie. Es werden jedoch keine Beweise geliefert, sondern nur Assoziationen bestärkt. Insbesondere weisen die Autoren selber darauf hin, dass Sie nicht wissen, welcher Anteil des Untersuchungsgebietes mit genmodifiziertem Soja und somit Glyphosat behandelt wurde und wenn, wieviel Glyphosat angewendet wurde. Die Autoren beziehen sich lediglich auf die Annahme der durchschnittlichen Anbaufläche und der üblichen Menge an Glyphosat, welche auf solchen Baugrößen/Anbauflächen verwendet werden.“
Methodik und Modell
„Wie immer sind solche Studien von sehr begrenztem Wert, da sie nur eine Assoziation und keinen kausalen Zusammenhang herstellen. Eine Assoziation ist auch zwischen der Frequenz der Storchenmigration in Ost und West-Europa und der Geburtenrate herzustellen, wenn hierbei auch der kausale biologische Zusammenhang komplett fehlt.“
„Das Problem dieser Publikation ist, dass sie ihre Voreingenommenheit – sie nehmen an, dass Glyphosat mit den ALL zu tun haben muss – bestätigen, anstatt sich der Sache gründlich anzunehmen und zu fragen: Was muss ich für Daten haben, um einen kausalen, biologisch plausiblen und relevanten Zusammenhang herzustellen, welcher bestätigt/widerlegt, dass der Gebrauch von Glyphosat mit dem Aufkommen der ALL zu tun hat? Hierzu fehlen in dieser Studie aber die entsprechenden Analysen und Kontrollen. Zudem haben die Autorinnen nicht untersucht, ob auch eine genetische Prädisposition (Vererbung) für ALL vorliegt, was man aber hätte ausschließen sollen. Leider ist diese Art von unsubstantiierter ,Wissenschaft‘ heute gang und gäbe und wird kaum hinterfragt, hat aber mit sauberer wissenschaftlicher Analyse einer Fragestellung wenig bis gar nichts zu tun.“
Auf die Frage, inwiefern es plausibel erscheint, dass Pestizid-Rückstände im Wasser ursächlich für die erhöhten ALL-Fälle sind:
„Dies ist aufgrund der Studie nicht zu erfassen, da keine echten Messungen von Glyphosat im Wasser (Trinkwasser) durchgeführt wurden und bezüglich der Toxikokinetik (Verweilzeit von Glyphosat im Menschen) von langen Verweilzeiten ausgegangen wurde, obwohl Glyphosat bekannterweise eine relativ kurze Verweilzeit im Körper hat.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe keine Interessenskonflikte, bin aber gewählter externer Sachverständiger des EU-Parlaments für ‚Lebenswissenschaften und menschliches Wohlergehen’ und bin somit beauftragt, aktiv Stellung zu solchen Fragen zu nehmen.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Skidmore ME et al. (2023): Agricultural intensification and childhood cancer in Brazil. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.2306003120.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Peillex C et al. (2020): The impact and toxicity of glyphosate and glyphosate-based herbicides on health and immunity. Journal of Immunotoxicology. DOI: 10.1080/1547691X.2020.1804492.
Prof. Dr. Matthias Liess
Leiter Department System-Ökotoxikologie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig
Prof. Dr. Jörg Rahnenführer
Fachgebietsleiter Statistische Methoden in der Genetik u. Chemometrie, Technische Universität Dortmund
Prof. Dr. Daniel Dietrich
Leiter der Arbeitsgruppe Human- und Umwelttoxikologie, Fachbereich Biologie, Universität Konstanz