Hygiene doch kein Auslöser für Allergien?
Studie an Mäusen stellt Hygiene-Hypothese bei Allergien infrage
auch Mäuse mit einer Vielzahl von Mikroben reagierten allergisch auf Auslöser
laut Forschenden passt das Studiendesign nicht zur Untersuchung der Hygiene-Hypothese
Mäuse, die von Geburt an von einer hohen Anzahl an Mikroorganismen umgeben sind, sind ebenso anfällig für Allergien wie keimfreie Labormäuse. Dieses Ergebnis einer Studie mit deutscher Beteiligung, die am Freitag im Fachjournal „Science Immunology“ erscheint (siehe Primärquelle), stellt die sogenannte Hygiene-Hypothese infrage. Diese besagt, dass der frühe Kontakt zu Mikroben in der Kindheit das Risiko für eine spätere allergische Erkrankung vermindert.
Leiterin der Forschungsgruppe Gastrointestinale Immunologie, Medizinische Universität Wien, Österreich
Methodik und Aussagekraft der Studie
„Das Manuskript fasst eine ausgezeichnet durchgeführte, relevante Studie zusammen und ermöglicht neue Erkenntnisse im Zusammenhang zwischen dem Mikrobiom der Körperhautoberflächen und der Entwicklung von Allergien – in diesem Fall Hausstaubmilbenallergie – zu untersuchen. Das verwendete Modell erfasst allerdings nur einen Aspekt der Hygienehypothese, nämlich die Kolonisierung der Körperoberflächen mit einem ‚natürlichen‘ Mikrobiom. Dies limitiert nicht die Qualität der Studie, sondern nur die Aussagekraft hinsichtlich der Hygiene-Hypothese, die ja weit mehr Aspekte umfasst.“
Übertragbarkeit von Maus auf Mensch
„Bei immunologischen Studien muss immer klar hervorgehoben werden, dass die Immunantwort bei Mäusen und Menschen unterschiedlich ist. Mausmodelle sind relevant, um Mechanismen zu untersuchen, aber die Bestätigung der generierten Daten muss immer bei Patienten erfolgen.“
Entkräftung der Hygiene-Hypothese
„Wie oben geschrieben ist diese Studie nicht dazu geeignet, die Annahme zu entkräften, dass verringerter Mikrobenkontakt die Ausbildung von Allergien fördert. Die Studie zeigt, dass auch bei einem natürlichen, diversen Mikrobiom eine Allergieentstehung möglich ist.“
Auslöser für Allergien
„Die Entwicklung einer Allergie ist ohne Frage ein multifaktorielles Geschehen. Es spielen noch weitere Faktoren bei der Entstehung von Allergien eine wichtige Rolle, beispielsweise die Barrierefunktionen der Schleimhäute oder die Menge der von Pflanzen gebildeten Allergene – Stichwort Klimawandel und der damit verbundene Stress der Pflanzen.“
Direktor des Instituts für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie, Molekulare Diagnostik am Zentrum für Infektion, Entzündung und Immunität, Philipps-Universität Marburg
Methodik und Aussagekraft der Studie
„Die Wildling-Mäuse sind ein sehr interessantes Mausmodell und kommen den ‚wilden‘ Mäusen in der Natur relativ nahe. Es handelt sich um kommerziell erworbene Tiere, die so naturnah wie möglich gehalten werden und deshalb irgendwo zwischen voll charakterisierten Labormäusen und wilden Mäusen liegen.“
„Die Studie belegt und widerlegt gar nichts. Keimfreie Mäuse sind ein wunderbares Modell, um gezielt den Einfluss von einzelnen Mikroben oder Mikrobenkombinationen zu testen, wenn man diese damit besiedelt. Komplett keimfreie Mäuse haben einen sogenannten Bias, eine erhöhte Anfälligkeit zur Entwicklung von Allergien – diese bekommen Allergien oder Asthma. Wenn man diese Mäuse nun gezielt mit ausgewählten Mikroben besiedelt – zum Beispiel durch eine Fäkaltransplantation – dann kann dieser Bias unterdrückt werden.“
„Es ist völlig unbestritten, dass das Mikrobiom den Schutz vor Allergien fördert, allerdings ist es noch nicht voll verstanden, welche Mikroben diesen Schutz vermitteln. Viele Faktoren spielen hier eine Rolle: Die Zusammensetzung der richtigen Keime zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und es ist noch nicht ganz klar, welche Keime da zusammengehören.“
„In der vorliegenden Arbeit haben die Wildling-Mäuse ein Mikrobiom im Darm, das nicht vor Allergien schützt. Auch wenn das Mikrobiom eine hohe Diversität an Keimen aufweist, so schützen diese nicht vor der Ausbildung von Allergien, sondern befördern sie eventuell sogar.“
Übertragbarkeit von Maus auf Mensch
„Obwohl ich ein ausgewiesener Mausforscher bin und vor 35 Jahren ein Mausmodell für experimentelles Asthma erstellt habe, sehe ich den Nutzen von Mausmodellen für die Allergieforschung mittlerweile skeptischer. Mäuse entwickeln an sich kein Asthma oder keine Neurodermitis. Die Modelle bilden immer nur einen Aspekt einer sehr komplizierten Erkrankung ab, und man kann die Forschungsergebnisse nicht auf das gesamte Krankheitsbild übertragen.“
Hygiene-Hypothese
„Die ursprüngliche Hygiene-Hypothese beruht auf der Beobachtung, dass Kinder, die keine Geschwister haben und deshalb in den ersten Lebensmonaten weniger mit Keimen und Infektionserregern in Kontakt kommen, vermehrt an Allergien leiden. Durchgemachte Infekte in den ersten Lebensmonaten tragen zur Ausbildung des Immunsystems bei. Darüber hinaus wurde beobachtet, dass viel Hygiene zu Hause dazu führt, dass Kinder seltener krank werden, also weniger mit Keimen in Kontakt kommen. Es wurde weiter gezeigt, dass Kinder seltener Asthma ausbilden, wenn sie in einem ursprünglichen Mileu wie auf einem Bauernhof aufwachsen. Man vermutet, dass das Immunsystem durch den Kontakt mit Rohmilch, Probiotika in Lebensmitteln, Keimen in der Luft oder im Stallstaub toleranter wird und somit auch weniger anfällig für allergische Reaktionen ist. An diesem Prozess ist auch das Mikrobiom beteiligt, welches durch diese Mileu geformt wird.“
„Jetzt wird diese Hypothese abgelöst durch die Biodiversitäts-Hypothese. Diese beruht auf der Idee, dass der Kontakt zu einer Vielfalt an Lebendmaterial wie Keimen auf Obst, im Garten, auf Bäumen in der Erde und weitere, wichtig für einen gesunden Metabolismus und eine gesunde Immunreaktion zu sein scheint.“
„Die Forschenden in der Studie zeigen auch, dass die Wildling-Mäuse mit diversen Mikroben besiedelt sind. Allerdings ist deren Diversität eher gekoppelt mit der Erkrankung, also eine Dysbiose. Um das aufzulösen, wäre der nächste große Schritt, das Mikrobiom zu zerlegen, um zu sehen, welche Keime hier zur Ausbildung der allergischen Reaktion beitragen.“
Auslöser für Allergien
„Momentan kann man bestimmte Dinge miteinander assoziieren, die zu folgender Hypothese führen: Viele Faktoren schlagen sich auf das Mikrobiom nieder, die in Folge unser Immunsystem und damit unsere Allergieanfälligkeit beeinflussen. Dazu gehören Ernährung, Bewegung, Luftverschmutzung, Klimawandel oder die abnehmende Biodiversität in der Natur. Deshalb braucht es jetzt auch vermehrt Forschung in Richtung Klimawandel und Gesundheit.“
Direktorin des Instituts für Asthma- und Allergieprävention und Leiterin der Abteilung „Umwelt und Gesundheit“, Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, München
Methodik und Aussagekraft der Studie
„Die Exposition dieser Wildling-Mäuse zu Heu, Kompost und Infektionsüberträgern und anderen wild lebenden Mäusen ist im Mausumfeld wahrscheinlich adäquat, reflektiert aber nicht die menschliche Exposition, wie zum Beispiel auf einem Bauernhof. Dort ist auch der Kontakt zu Nutztieren für den Schutz vor Allergien von wesentlicher Bedeutung, nicht der Kontakt zu Kompost oder Infektionserregern.“
„Aus der Arbeitsmedizin ist hingegen bekannt, dass eine übermäßige Exposition zu Bioaerosolen, wie zum Beispiel bei Werktätigen in Kompostierungsanlagen oder in der Abfallindustrie, das Risiko von Atemwegserkrankungen und auch Allergien erhöhen kann. Also ein Zuviel an solchen Expositionen ist durchaus schädlich.“
„Das hat allerdings nichts mit der Hygiene-Hypothese zu tun, die besagt, dass ein ‚zu wenig‘ an den richtigen, schützenden mikrobiellen Stimuli ein Risiko für Asthma und Allergien darstellt. Wir wissen zudem, dass nicht alle mikrobiellen Erreger einen Schutz darstellen, sondern nur einige bestimmte.“
Übertragbarkeit von Maus auf Mensch
„Mäuse können helfen, Mechanismen der Krankheitsentstehung zu verstehen, wenn sie die Situation des Menschen gut widerspiegeln. Allergiemodelle sind oft hilfreich in der Maus, können aber die Studien mit Menschen – zum Beispiel in der Epidemiologie – nicht ersetzen. Im Fall dieser Studie ist nicht so sehr das Mausmodell zu hinterfragen, sondern die Art der Exposition, die eher der oben geschilderten Situation entspricht, die in der Arbeitsmedizin als Risikoumfeld bekannt ist.“
„Wie oben ausgeführt, entspricht die Exposition in dieser Studie nicht einer ‚normalen‘ menschlichen Exposition und ist auch nicht mit einer Exposition auf dem Bauernhof vergleichbar. Zudem entkräften schädliche Effekte einer übermäßigen Exposition nicht die Annahme, dass ein ‚zu wenig‘ an mikrobieller Exposition, wie sie zum Beispiel in einer städtischen Lebensweise zu finden ist, auch ein Risiko für Asthma und Allergien darstellen kann.“
Auslöser für Allergien
„Asthma und Allergien sind komplexe Erkrankungen, die nicht mit einem einzelnen Aspekt erklärt werden können. So spielen zum Beispiel das Rauchen, andere Schadstoffe, die Ernährung, genetische Einflüsse und weitere Faktoren für die Entstehung dieser Krankheiten eine wichtige Rolle.“
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe Honorare und Beratungsgelder von Pharmaventures, OM Pharma S. A., Peptinnovate Ltd. und Böhringer Ingelheim International GmbH erhalten. Außerdem bin ich Mitinhaberin verschiedener Patente auf Proteine zur Behandlung von Allergien.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Ma J et al. (2023): Laboratory mice with a wild microbiota generate strong allergic immune responses. Science Immunology. DOI: 10.1126/sciimmunol.adf7702.
Weiterführende Recherchequellen
Pfefferle PI et al. (2021): The Hygiene Hypothesis – Learning From but Not Living in the Past. Frontiers in Immunology. DOI: 10.3389/fimmu.2021.635935.
Dieses Review gibt einen Überblick über die Entwicklung der Hygiene-Hypothese und beschreibt die wichtigsten Meilensteine unter Berücksichtigung der vielen Aspekte, die die Hygiene-Hypothese im Laufe der Zeit verfeinert und verallgemeinert haben.
Assoz.-Prof. Dr. Eva Untersmayr-Elsenhuber
Leiterin der Forschungsgruppe Gastrointestinale Immunologie, Medizinische Universität Wien, Österreich
Prof. Dr. Harald Renz
Direktor des Instituts für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie, Molekulare Diagnostik am Zentrum für Infektion, Entzündung und Immunität, Philipps-Universität Marburg
Prof. Dr. Erika von Mutius
Direktorin des Instituts für Asthma- und Allergieprävention und Leiterin der Abteilung „Umwelt und Gesundheit“, Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, München