Arzneimittelversorgung im Herbst und Winter
neue Arzneimittelengpässe im Herbst und Winter befürchtet
Pharmagroßhandel meldet knappe Vorräte für wichtige Medikamente
Fachleute dringen auf Gegenmaßnahmen, die langfristig wirken
Mit Beginn der Erkältungssaison könnte es in diesem Herbst und Winter abermals zu Engpässen bei Medikamenten kommen. Vergangene Woche meldete der Pharmagroßhandel, dass die Vorräte für wichtige Arzneien „keine zwei Wochen“ reichten [I]. Im vergangenen Winter waren in einer großen Infektionswelle etwa Fieber- und Hustensäften für Kinder nur eingeschränkt lieferbar. Das Bundesgesundheitsministerium versuchte im Frühjahr, mit Notfallmaßnahmen gesetzlich gegenzusteuern. Die Krankenkassen wurden beispielsweise dazu ermutigt, nicht nur Verträge mit den günstigsten Medikamentenherstellern einzugehen, die oft außerhalb der EU ansässig sind. Den Apotheken sollte der Import von in Deutschland nicht zugelassenen Antibiotikasäften für Kinder erleichtert werden. Zudem sollten einige Medikamente großzügiger bevorratet werden.
Leiter der Klinikapotheke, Universitätsklinikum Heidelberg
Über Lauterbachs kurzfristige Maßnahmen
„Die erleichterten Importbedingungen waren gut und haben uns zumindest rechtlich aus dem Graubereich geholt, auch die Kommunikationsmaßnahmen des Bundesgesundheitsministeriums mit den Playern im Gesundheitswesen (regelmäßige Vor-Ort-Treffen im Ministerium) waren sehr gut und hilfreich.“
Hürden für den Herbst/Winter
„Die Umsetzung der nun im Bereich Krankenhausapotheke geltenden Maßnahmen, etwa der Acht-Wochen-Vorrat bei intravenösen Mitteln und Antibiotika (neben anderen Arzneimitteln), ist schwierig. Wir verbrauchen zum Beispiel pro Tag eine Palette Sterofundin (Elektrolytlösung; Anm. d. Red.). Hieraus folgt dann, dass wir zur Lagerung nur dieser Infusionslösung 56 Palettenstellplätze bräuchten. Beispiel Ampicillin/Sulbactam (Antibiotika-Kombi-Therapie; Anm. d. Red.): zusätzlich acht Palettenstellplätze. Einige Klinikapotheken haben für diese zusätzlichen Lagerflächen schon externe Räume oder gar Gebäude angemietet.“
Lösung der Arzneimittelkrise
„Wir brauchen ausreichende Vorräte beim Hersteller und Großhandel, vielleicht Notvorräte bei kritischen Arzneimitteln nach dem Schweizer Modell. Langfristig brauchen wir die Unterstützung einer in der EU ansässigen produzierenden Pharmaindustrie, dabei beachtend, dass es eine Win-Win-Situation gibt und nicht zu einer einseitigen Erhöhung der Umsatzrenditen bei Pharma kommt.“
Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie, Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Über Lauterbachs kurzfristige Maßnahmen
„Das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) hat zwar Ansätze genannt, wie man Engpässen entgegenwirken könnte. Dazu zählen die erweiterte Lagerhaltung und die Forderung nach mehr als einem Hersteller, dem Krankenkassen Lose zusprechen sollten (gemeint sind Lose bei Ausschreibungen für patentfreie Arzneimittel; Anm. d. Red.). Allein die Umsetzung ist quasi unmöglich. Wo sollen die Antibiotika und Schmerz- beziehungsweise Fiebermittel herkommen, die in die Lager gelegt werden sollen? Die Produktion ist weltweit am Anschlag. Nur sehr wenige Hersteller können mehr produzieren. Die Alternative ist, anderen Ländern die Ware vor der Nase ,wegzuschnappen‘. So kaufen wir jetzt bei den indischen Hersteller Puren/Aurobindo Amoxicillin-Präparate, die für den amerikanischen Markt vorgesehen waren, mit allen Problemen, die damit verbunden sind. Zuerst gab es die Medikamente nur in Papiertüten, die von Kommissionier-Automaten nicht verarbeitet werden konnten. Außerdem gibt es wohl keine Dosierhilfen, etc. Aber das Schlimmste ist eigentlich, dass wir Pressemitteilungen zufolge Aurobindo (indischer Arzneimittelhersteller; Anm. d. Red.) ein Vielfaches von dem zahlen, was ein Medikament aus europäischer Produktion kosten würde. Warum lenken wir dieses Geld nicht in den zügigen Ausbau der europäischen Produktion?“
Hürden für den Herbst/Winter
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie wir die Situation in den Griff bekommen sollen. Das sieht man an den Handlungen des Gesundheitsministers, die sehr von Panik getrieben sind. Er hat mit seiner Medikamenten-Dringlichkeitsliste und deren Beschaffung den vom Ministerium eingerichteten Beirat für Liefer- und Versorgungsengpässe übergangen, in dem alle Teilnehmer der Arzneimittelproduktion und -verteilung versammelt sind und damit große Kompetenz am Tisch sitzt. Hier hätte man Maßnahmen diskutieren können. Stattdessen wendet er sich an den Großhandel, der aber nichts produziert und auch im Wesentlichen nichts im Ausland einkauft. Wie soll der Großhandel die größere Lagerhaltung aufbauen? Statt mit den Grundversorgern, den Generikaherstellern, wenigstens mal zu sprechen, versucht er den Markt leerzukaufen. Aus der Sicht der deutschen Patienten mag das vordergründig eine Lösung zu sein, aber alle anderen Europäer benötigen dieselben Arzneimittel dieser sogenannten Dringlichkeitsliste. Das wird also zu einem Verdrängungswettbewerb führen.“
Lösung der Arzneimittelkrise
„Eine kurzfristige Lösung mag es in wenigen Fällen geben; aber wie gesagt, man müsste mit den Grundversorgern sprechen, um zu eruieren, was im Augenblick noch möglich ist. Klar sind Generika-Hersteller auch Lobbyisten, aber sie verstehen ihr Geschäft. Und das Geschäft ist in den letzten Jahren immer komplexer geworden, denn ein Arzneistoff wird nicht einfach in einer Firma hergestellt, sondern über mehrere Schritte in mehreren chemischen Fabriken. Das Arzneimittel, sprich die Tabletten, Dragees, Säfte, etc., werden bei einem weiteren pharmazeutischen Hersteller unter Verwendung von Hilfsstoffen, die auch hergestellt werden müssen, produziert und dann bei einem weiteren Hersteller in Faltschachteln verpackt. Dazu kommen die Hersteller der Primär- und Sekundärverpackungen. Das Ganze, hier nur grob skizziert, geschieht in einem weltweiten Netzwerk, das nur wenige im Detail kennen. Tiefe Kenntnisse der Lieferkette sind aber erforderlich, um vernünftige Lösungen zu finden. Stattdessen generiert sich der Gesundheitsminister als ,Lobbyistenschreck‘ und verzichtet auf wichtigen Input von jeglicher Seite.“
„Eines der wenigen europäischen Beispiele sei hier genannt: Die Ausgangssubstanz für alle Penicilline, die 6-Aminopenicillansäure, wird bei Sandoz in Kundl, Österreich, hergestellt, dann nach Spanien verbracht, um zu Amoxicillin verarbeitet zu werden; daraus werden dann von Generikaherstellern Tabletten, Säfte etc. hergestellt, die letztlich noch verpackt werden müssen. Es hat in den letzten Jahren eine starke Konzentration der Arzneimittelherstellung gegeben, und zwar weltweit. Deshalb haben wir schon lange keine resilienten Lieferketten mehr. Explodiert eine Fabrik in China, gibt es auf einmal den Arzneistoff nicht mehr, so geschehen vor einigen Jahren im Fall von Piperacillin. Selbst wenn es noch andere Fabriken für den Arzneistoff geben sollte, sind diese meist nicht in der Lage, die fehlende Produktion zu übernehmen.“
„Zur Gewährung der Versorgungssicherheit müssen langfristig wieder mehr Produktionsstätten aufgebaut werden, und zwar insbesondere in Europa, obgleich eine Produktion in Europa durchaus 20 bis 30 Prozent teurer sein wird, wie wir in unserem EThiCS-Projekt für Amoxicillin berechnet haben. Wie schnell sich das lohnen kann, sieht man an dem zuvor genannten Beispiel des Amoxicillin-Kaufs bei Puren/Aurobindo. Es gibt in der EU Diskussionen zu vielen Aspekten, etwa für Zuschüsse für Produktionsstätten, vereinfachte Zulassungsverfahren, vereinfachte dezentrale klinische Studien, verkürzte Fristen; jedoch stehen diese Gespräche erst am Anfang, aber schnelleres und besonneneres Handeln wäre notwendig.“
Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse, Hochschule Worms, University of Applied Sciences
Über Lauterbachs kurzfristige Maßnahmen
„Im Februar 2023 wurden rund 420 Lieferengpässe gemeldet, aktuell stehen wir Anfang September bei über 500 Lieferengpass-Meldungen. Rein zahlenmäßig kann also nicht von einer Verbesserung der Lage gesprochen werden, auch wenn anzumerken ist, dass diese Zahlen keine Rückschlüsse zu Umfang oder Versorgungsrelevanz der gemeldeten Engpässe zulassen. Nichtsdestotrotz ist positiv zu sehen, dass erstmals mit dem sogenannten Lieferengpassgesetz (ALBVVG) ein Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässe verabschiedet wurde. Absehbar ist aber, dass die Lösung der Lieferengpassproblematik über das Gesetz hinaus gehende Anstrengungen wie den Einbezug weiterer Arzneimittelgruppen und die engere Kooperation mit den europäischen Partnern benötigen wird.“
Hürden für den Herbst/Winter
„Auch wenn die Ursachen von Lieferengpässen vielschichtig sind, wurden Lieferengpässe im Winter 2022 bei Fieber- und Erkältungsmitteln und Antibiotika durch größere Nachfrage aufgrund eines erhöhten Infektionsgeschehen nach den Corona-Jahren mitverursacht. Bei Kinderfiebersäften kam der Marktaustritt eines Anbieters erschwerend hinzu. Die Versorgungslage im Winter 2023 wird auch davon abhängig sein, inwieweit die Hersteller die Bedarfe an Arzneimitteln treffend prognostiziert haben und ihre Produktion und Lagerhaltung danach ausrichten konnten. Eine Hürde ist oftmals, dass sich die Produktionskapazitäten kurzfristig kaum steigern lassen, was eine Reaktion auf mögliche Mehrbedarfe erschwert. Nicht unterschätzt werden sollte, dass auch das Verhalten der Marktteilnehmer Auswirkungen hat. So können inflationierte Bestellungen von Arzneimitteln – wenn sie auf breiter Front deutlich über den eigentlich benötigen Mengen geschehen – Lieferprobleme sogar auslösen.“
Lösung der Arzneimittelkrise
„Eine kurzfristige umsetzbare, strukturelle Stärkung kann durch erhöhte Bevorratung geschehen, auch wenn die Mehrkosten hierfür fair honoriert werden müssen, um negative Anreize zu vermeiden. Ein gutes Engpassmanagement kann helfen, Arzneimittel besser zu verteilen und somit regionale Ungleichverteilungen zu vermeiden. Eine langfristige Lösung erfordert eine klare Strategie, die über das Lösen tagesaktueller Probleme hinausgeht. Dafür benötigen wir auch eine engere Verzahnung des Gesundheitswesens mit der Wirtschaftspolitik und den nationalen Sicherheitsstrategien. Zentrale Voraussetzung für die Stärkung der Versorgung ist die datengestützte Identifikation besonders anfälliger Lieferketten. Dies hilft, die Ergreifung von Maßnahmen nach dem Gießkannenprinzip zu vermeiden, was schlicht zu teuer und nicht passgenau ist. Reshoring und Diversifikation der Produktion kann sinnvoll sein, wird aber aufgrund der hohen Kosten eher nur punktuell und in Kooperation mit den europäischen Partnern möglich sein. Darüber hinaus zeigen aktuelle Studien, dass einmal abgewanderte oder eingestellte Produktionen von Arzneimitteln nur schwer zurückzuholen sind. Auch hier gilt es anzusetzen.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Phagro (29.08.2023): „Dringlichkeits-Arzneimittel“ für Herbst/Winter: Vorräte reichen keine zwei Wochen! Pressemitteilung.
[II] Science Media Center (25.05.2023): Engpässe bei Arzneimitteln – Wie eine bessere Versorgung gelingen kann. Press Briefing.
Dr. Torsten Hoppe-Tichy
Leiter der Klinikapotheke, Universitätsklinikum Heidelberg
Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe
Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie, Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Prof. Dr. David Francas
Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse, Hochschule Worms, University of Applied Sciences