Das erneuerbare Energiesystem – Entwicklung im Frühjahr und Ausblick auf Biogas-Potenzial
Die Stromernte war gut, aber der Ausbau der Erneuerbaren läuft nicht in allen Sektoren gleich glatt. Zudem sinkt trotz mehr verkaufter Elektroautos und Wärmepumpen der Stromverbrauch derzeit. So präsentiert sich die Energiewende in Zahlen zu Beginn des Sommerquartals 2023.
Symbolträchtig war im Frühjahr der Abschied von den letzten Atomkraftwerken in Deutschland. Ersetzt wurde der Atomstrom durch Importe aus verschiedenen Ländern, wie er dort erzeugt wurde, können wir zwar nicht sehen - aber sicher ist: Die deutschen Kohlekraftwerke kamen nicht zum Zug. Dafür zeigt der Blick auf den Stromverbrauch etwas überraschendes: Seit 2019 sinkt er. Mehr dazu in Teil I.
Rekordverdächtig die Meldungen zu Stromerzeugung durch Erneuerbare. Zum einen stieg die Zahl der Anlagen, zum anderen aber fiel der Stromverbrauch insgesamt deutlich. Die Auslastung von Photovoltaik wie Meereswindanlagen liegen allerdings etwas unter dem langjährigen Mittel, nur Wind an Land steht besser da, das zeigt Teil II.
In Teil III finden Sie wiederum das Szenario für 2030: Was wäre wenn… dieses Wetter auf den geplanten Ausbau der Erneuerbaren stieße. Ergebnis: Ihr Anteil kann über 80 Prozent steigen. Grundlastkraftwerke wie Atom- oder Kohlekraftwerke wären wohl überflüssig, aber Back-up wäre trotzdem nötig. Das nicht alles dafür neu gebaut werden muss, deutet das Szenario auch an. Die Flotte der Biogasanlagen kann schon heute eine spürbare Rolle in der Back-up-Kette spielen. In einem Szenario ganz ohne Anpassung ihrer Betriebsweise an Wind- und Sonnenstrom heben sie den erneuerbaren Anteil weit über 80 Prozent. Das warf für uns die Frage auf: Welches Potenzial haben diese für die Energiewende? Wir haben sie Forschenden gestellt, die Antworten finden Sie hier.
In der “Lage” am Beginn des Reports finden Sie schließlich eine kurze Übersicht über den Stand der Entwicklung und Diskussionen der Energiewende – und in welchem Teil unseres Berichts Sie dazu Zahlen finden können.
Für die Stromernte war das Frühjahr eine gute Zeit, beim Umbau der Stromversorgung laufen die Entwicklungen derzeit uneinheitlich.
Erneuerbare haben zwischen dem 22.03.2023 und dem 21.06.2023 die folgenden Mengen Strom erzeugt:
Der Anteil an der Netzlast dient hier nur zur Einordnung der Erzeugungswerte und entspricht nicht genau dem Anteil am Stromverbrauch in Deutschland, da hier die Import-Export-Bilanz nicht berücksichtigt wird und die Netzlast lediglich den Strombezug aller Verbraucher, die an das Stromnetz angeschlossen sind, bezeichnet. Nicht enthalten sind Eigenstromerzeugung von Industrieanlagen, Netzverluste oder der Eigenstrombedarf, zum Beispiel von Kraftwerken.
Die Stromerzeugung und der Anteil der Erneuerbaren an der Netzlast haben sich weiter erhöht und liegen deutlich über 50 Prozent. Das ist nicht nur auf die wachsende Zahl der Windkraft- und PV-Anlagen zurückzuführen. Wie Teil I zeigt, sinkt der Stromverbrauch seit einigen Jahren. Zudem, das zeigt Teil II, lag der Stromertrag für Wind an Land im Frühjahr leicht über dem Durchschnitt.
Hier eine kurze Übersicht über den Stand von Ausbau und Diskussionen über einzelne Elemente der Energiewende:
Photovoltaik: Der Zubau läuft nach wie vor schneller als in den zurückliegenden Jahren: Bis 2024 sollen 88 Gigawatt (GW) installiert werden. Ende des Frühjahrs sind der Bundesnetzagentur gut 4 GW angemeldet worden – etwas mehr als die Hälfte des in diesem Jahr nötigen Zubaus, wenn das Ziel erreicht werden soll.
Wind auf See: Das Ergebnis der Ausschreibung 2023 für 7 GW Leistung könnte gut ausfallen. Zum ersten Mal sind mehrere Angebote eingegangen, die gar keine Förderung nach Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) mehr planen. Die Bundesnetzagentur wird daher eine Versteigerung ansetzen.
Wind an Land: Das Tempo der Genehmigungen steigt zwar, aber nicht schnell genug. Die Bundesnetzagentur musste wegen fehlender Genehmigunngen die Auschreibungsmege für die Mai-Ausschreibung von 3210 auf 2866 Megawatt (MW) reduzieren. In der Februar-Ausschreibung konnten nur 1441 von 3210 MW vergeben werden. Damit wurde zum zweiten Mal in diesem Jahr das Ausschreibungsziel für Wind an Land nicht erreicht. Die Ausbauziel von 12.810 MW für 2025 / 26 zu erreichen, dürfte damit schwieriger werden. Das SMC wird in den kommenden Wochen in einem Extra-Report einen genaueren Blick auf den Ausbau der Windkraftanlagen werfen.
Back-up-Speicher: Leistung und Kapazität der installierten Speicher wachsen. Die Ende des Frühjahrs installierte Leistung von rund 5,5 GW kann rechnerisch bis zu 80 Minuten geliefert werden. Neben Haushaltsbatterien werden immer öfter auch große Batterien im Stromnetz geplant. Welche Rolle Batterien für die Erneuerbare Stromversorgung spielen könnnen, zeigt das Szenario im Teil III.
Back-up-Flexibilitäten: Planungen für den gesetzlichen Rahmen gehen weiter, es können sich wieder Diskussionen entwickeln. Die Bundesnetzagentur hat die zweite Runde für eine Konsultation angestoßen; Netzbetreiber sollen für kurze Zeit in den Verbrauch von Stromkunden vor allem wegen Wärmepumpen und Batterieladungen eingreifen können. Noch vor wenigen Monaten wurde dieses Verfahren von einigen Medien als Rationierung diskutiert, der VDA sieht die Interessen von E-Auto-Besitzern besonders berührt. Welche Bedeutung dieses Verfahren für die erneuerbare Stromversorgung hat, zeigt das Szenario im Teil III.
Back-up-Kraftwerke: Die Bundesregierung plant immer noch eine Strategie für wetterunabhängige Kraftwerke. Für die Ausschreibung der Bundesnetzagentur für Biomethan-Erzeugung – eine mögliche Back-up-Option – sind im Frühjahr unterdessen keine Gebote eingegangen. Schon heute kann ein Teil der Schwestetechnologie Biogasanlagen im Prinzip als flexibles Back-up genutzt werden. Welche Rolle Biogas-Anlagen in Zukunft spielen könnten, zeigt das Szenario im Teil III und Statements, die wir dazu eingeholt haben.
Stromversorgung ist ein schnelles Geschäft: Verbrauch und Erzeugung müssen jede Minute ausgeglichen sein. Wenn Kraftwerke abgeschaltet werden, kommt es daher darauf an, dass die Bilanz aus Verbrauch und Erzeugung zu jeder Minute gewährleistet ist.
Mit dem Abschalten der Atomkraftwerke in Deutschland sind gut 4 von rund 87,3 GW wetterunabhängiger Kraftwerksleistung vom Netz gegangen, etwa 4,5 Prozent. Es wurden nicht unmittelbar neue Kraftwerke als Ersatz dafür in Betrieb genommen, das muss sich allerdings für die Stromversorgung nicht negativ auswirken:
Im folgenden schauen wir daher zunächst auf den Stromverbrauch und dann auf die Stromerzeugung aus den verbliebenen fossilen Kraftwerken in Deutschland.
Der Stromverbrauch ist saisonabhängig: Im Winter liegt er etwas höher als im Sommer. Diese saisonalen Schwankungen müssen bei Aussagen zu einem Trend im Stromverbrauch berücksichtigt werden. Um neben dem Stromverbrauch in den Jahreszeiten auch einen langfristigen Trend erkennen zu können, zeigt die folgende Grafik zwei Kurven:
Es fällt auf, dass der Stromverbrauch Anfang 2019 sinkt und nach einer kurzen Erholung seit Frühjahr 2022 wieder - sogar etwas steiler. Einzelne Teile der Kurve könnten dabei auf die Pandemie zurückzuführen sein.
Für die Situation der Stromversorgung nach dem Atomausstieg bedeutet das: Im Frühjahr und Sommer kann auf Atomstrom leichter zu verzichten sein. Im Winter kann sich das Bild ändern. Der langfristige Trend erleichterte den Ausstieg eher, ob er sich fortsetzt, ist aber unklar.
Für die Energiewende bedeutet das: Bis 2030 soll der Stromverbrauch um über ein Drittel des langjährigens Mittels auf rund 750 TWh zunehmen. Davon gehen Politik und Forschung aus. Ist diese Annahme zutreffend, und sinkt der Verbrauch dieses Jahr weiter, wird er in den kommenden Jahren stark ansteigen. Nach den Energiewende-Planungen soll die Leistung des Windparks durch beschleunigten Ausbau ab 2025/26 ebenfalls deutlich steigen. Wie sich der Ausbau aktuell entwickelt, werden wir in einem kommenden Sonderreport untersuchen.
Für die aktuelle Bewertung der Energiewende bedeutet das: Prozentangaben für den Anteil Erneuerbarer am Strombedarf können sich durch den Trend zusätzlich verbessern.
Da der Strombedarf saisonabhängig ist, pendelt auch die Stromerzeugung der fossilen, wetterunabhängigen Kraftwerke. Um neben den saisonalen Schwankungen einen langfristigen Trend erkennen zu können, zeigt die folgende Grafik wie die vorangegangene zwei Kurven, jeweils eine Monats- und Jahresglättung und farbig die Art der Stromerzeugung.
Mit Kohleausstiegsbeschluss, Refom des CO₂-Handels und Pandemie sank der langfristige Stromerzeugungs-Trend von Braun- und Steinkohle deutlich, trotz kurzer Erholung und Ukrainekrieg. Die Erdgas-Verstromung entwickelte sich gegenläufig, aktuell ist kein klarer Trend ersichtlich.
Für die Situation der Stromversorgung nach dem Atomausstieg bedeutet das: Kohleverstromung wurde nach dem Atomausstieg weiter gesenkt. Es wurde deutlich mehr Strom importiert, als sonst im Frühjahr üblich. Aus den ENTSO-E-Daten ist jedoch nicht zu erkennen, welche Anlagen den Importstrom erzeugten.
Nach Angaben von Agora Energiewende soll er im Mai überwiegend durch erneuerbare Stromerzeuger geliefert worden sein.
Wegen des ungewöhnlichen Verbrauchs wäre ein Szenario für diesen Winter sehr unsicher. Generell gilt: Im Herbst und Winter dürfte der Stromverbrauch wieder steigen. Ob er dabei wieder frühere Werte erreichen wird, ist derzeit unklar. Auch die Windstromerzeugung wird mit Herbst und Winter wieder steigen; auch die Kohlestromverstromung könnte zunehmen, das dürfte vom Angebot auf den Strommärkten abhängen.
Für die Energiewende bedeutet das: Eine sinkende Kohleverstromung führt tendenziell auch zu sinkenden CO₂-Emissionen. Der Umfang ist jedoch noch unklar. Ein konkretes Ziel setzt das Klimaschutzgesetz dem Energiesektor für 2023 nicht, die nächste Marke für den Energiesektor steht für 2030 mit 108 Millionen Tonnen CO₂ Äquivalenten an. Insgesamt soll Deutschland 2023 nur 719 Millionen Tonnen CO₂ Äqivalente ausstoßen, 2022 lag der Wert bei 757 Millionen Tonnen.
Auch die Auslastung – und damit die Stromerzeugung – von Onshore-Wind ist saisonabhängig: Sie steigt im Herbst und Winter weit über den Jahresdurchschnitt an, fällt im Frühjahr und Sommer zum Teil deutlich ab. Damit läuft sie parallel zum saisonalen Strombedarf. Insgesamt ist die Windstromerzeugung von hohen Spitzen und tiefen Tälern geprägt.
Im Vergleich zu Wind erreicht Photovoltaik (PV) in Deutschland eine deutlich niedrigere Auslastung. Allerdings hat der Einsatz von PV in höheren Breitengraden eine besondere Charakteristik: Die Sonnenschein-Perioden sind im Winter nur kurz, im Sommer zum Teil sehr lang. Entsprechend liegt die Auslastung der Solar-Anlagen im Winter niedrig, im Sommer hoch.
Datenauswertungen und Grafiken zu Auslastungsentwicklung und zum jahreszeitlichen Verlauf finden sich im ersten Datenreport zum Erneuerbaren Energiesystem.
Um kurzfristige Schwankungen auszugleichen, wurde die Auslastung jeweils als Mittel der vergangenen 7 Tage berechnet.
Zusammenfassung der Auslastung
Für den Zeitraum vom 22.03.2023 bis zum 21.06.2023 lag die durchschnittliche Auslastung der Anlagen bei:
Die Bundesregierung geht für das Jahr 2030 von einem Bruttostrombedarf von 750 TWh aus. Windkraft- und Solaranlagen sollen davon im Jahresdurchschnitt 80 Prozent decken, also 600 TWh. Dafür sollen
installiert werden. Mit Hilfe der Stromerzeugung der zurückliegenden drei Monate, insbesondere der Auslastung der Anlagen, lässt sich abschätzen, welchen Anteil Wind- und Solarstrom unter diesen Bedingungen erreicht hätten. Wir gehen also in unserer Simulation von einer Wiederholung der beobachteten Wetterbedingungen aus und bewerten die Auswirkungen des Ausbaus von Wind- und Solaranlagen auf deren Anteil an der Deckung des Stromverbrauch.
In der Wissenschaft werden Szenarien über zukünftige Stromerzeugungen mithilfe von aufwendigen Wetter- und Stromerzeugungsmodellen berechnet. Für unsere Absicht, eine fundierte Einschätzung über die Stromerzeugung mit Wind- und PV-Anlagen zu entwickeln und daraus Argumente für die Diskussion über die Ausgestaltung eines Erneuerbaren Energiesystems abzuleiten, reicht es jedoch aus, ein Szenario auf Basis der historischen Stromerzeugungsdaten auf dem Wege eines Dreisatzes zu berechnen: Die historische Stromerzeugung pro installierter Leistung wird mit der für 2030 angestrebten installierten Leistung multipliziert.
Um den erhöhten Strombedarf zu berücksichtigen, wird die historische Lastkurve entsprechend nach oben verschoben.
Lastkurve bezeichnet den Strombezug aller Verbraucher, die an das Stromnetz angeschlossen sind. Nicht enthalten sind Eigenstromerzeugung von Industrieanlagen, Netzverluste oder der Eigenstrombedarf zum Beispiel von Kraftwerken.
Der Strombedarf muss dabei zu jeder Stunde gedeckt sein. Um den Anteil von Wind- und PV-Anlagen zu simulieren, reicht es daher nicht aus, die historische Erzeugung für einem bestimmten Zeitraum auf den größeren Anlagenpark umzurechnen.
Daher wird bei der Simulation für jede Stunde berechnet:
Flexibilisierung bezeichnet eine sehr wichtige Technik für ein vor allem auf Wind- und Photovoltaik gestütztes Stromsystem. Die Idee dabei ist, dass bestimmte Verbraucher ohne Verlust von Komfort oder Funktion für eine begrenzte Zeit abgeschaltet und danach wieder eingeschaltet werden. Dazu können Kühlhäuser gehören, Wärmepumpen mit Speichern oder Ladevorgänge von Elektroautos.
Die verbliebene Lücke müssten flexible Kraftwerke, vorzugsweise auf Basis erneuerbarer Quellen wie Biomasse, Wasser oder Wasserstoff, schließen.
Im Folgenden führen wir detailliert durch die einzelnen Schritte der Simulation und gehen dabei auf wichtige Parameter ein.
Die Forschung geht davon aus, dass durch größere und effizientere Anlagen vor allem bei der Windkraft die Auslastung steigen werden. Für 2030 wird eine Steigerung der Auslastung zwischen 11 Prozent [AGORA] und 34 Prozent [DENA] für Onshore Anlagen, zwischen 8 Prozent [AGORA] und 25 Prozent [ISE] für Offshore Anlagen und zwischen 4 Prozent [DENA] und 16 Prozent [ISE] für PV-Anlagen im Vergleich zur durchschnittlichen Auslastung der zurückliegenden acht Jahre angenommen.
Da wir in den Daten bis jetzt nur eine leichte Effizienzsteigerung sehen, gehen wir in allen folgenden Berechnungen von den Unteren der in den verschiedenen Studien angenommenen Werte aus.
Die Lastkurve wird so angehoben, dass die Summe des Stromverbrauchs aller Stunden der Annahme der Bundesregierung für den Stromverbrauch 2030 entspricht.
Nach der Berechnung ergeben sich für das gesamte Quartal (ohne Einsatz von Speichern und Flexibilität) die folgenden Werte:
Die maximale Back-up-Leistung ist ein Hinweis darauf, wie viel Strombedarf nicht von Windkraft- und PV-Anlagen gedeckt werden konnte. Dieser Strombedarf muss von anderen Anlagen bereit gestellt werden - siehe hierzu zum Beispiel die Science Response Die Rolle der Back-up-Kraftwerke.
Bei diesem Wert muss man berücksichtigen, dass die Lastkurve wie beschrieben den Nettostrombedarf erfasst. Der von der Bundesregierung vorgegebenen Wert von 750 TWh wird aber als “Bruttostromverbrauch” angegeben. Unklar ist, wie hoch der Nettostrombedarf 2030 liegen wird. Würde er zum Beispiel 40 TWh im Jahr niedriger liegen, ergäben sich in der Simulation um durchschnittlich 4,5 GW niedrigere Werte für die Lastkurve. Der Anteil von Windkraft- und PV-Anlagen an der Stromversorgung läge dann etwas höher, der Wert für die notwendige Back-up-Leistung entsprechend niedriger. Die Größenordnung bliebe jedoch erhalten, daher verwenden wir auch weiter den Wert für den Bruttostromverbrauch.
Mit einer Speicherkapazität von 200 GWh und einer Flexibilität (Verschiebung des Bedarfs innerhalb eines Tages zur Glättung der Residuallast) von 20 GW können der Anteil von Strom aus Wind und Sonne in unserem Szenario deutlich erhöht und der Bedarf an Back-up-Leistung reduziert werden:
Das Ziel, die Stromversorgung zu 80 Prozent aus erneuerbarem Strom, also Sonne und Wind, bereit zu stellen, würde in diesem Szenario für das zweite Quartal 2030 also sogar etwas übertroffen. Der Anteil, den Back-up-Anlagen übernehmen müssten, wäre mit 17 Prozent zwar klein, doch der dabei auftretende maximale Leistungbedarf ist immer noch sehr hoch.
Back-up-Anlagen, die womöglich nur wenige Stunden im Jahr laufen, würden sehr teuren Strom liefern. Es kann daher sinnvoll sein, die maxmal notwendige Back-up-Leistung weiter zu reduzieren. Dafür lohnt sich ein Blick auf die Leistungsverteilung der Back-up-Anlagen in unserem Szenario:
Unter den von uns gewählten Bedingungen mit 20 GW Flexibilitäten und 200 GW Batteriekapazität beträgt der Anteil der Stunden, in denen gar keine Back-up-Leistung abgerufen werden müsste, 51,3 Prozent der 2184 Stunden im Frühjahr. In dieser Zeit können sogar Überschüsse entstehen. Diese können zum Laden der Speicher verwendet werden, bzw. exportiert oder zur Erzeugung von künstlichen Treibstoffen genutzt werden.
Der Grafik ist zu entnehmen, dass der am häufigsten auftretende Leistungsbereich des Back-ups bei 20-30 GW liegt. 158 Stunden, 7,4 Prozent der Stunden sind weniger als 10 GW Leistung nötig. Die benötigte Mindestleistung an Back-up-Kraftwerken und Importen verteilt sich wie folgt:
Das Ergebnis zeigt noch mal deutlich, dass sich als Back-up-Anlagen vor allem solche eignen, die sehr flexibel einsetzbar sind. Dazu gehören vor allem Gaskraftwerke und Stromspeicher, wie zum Beispiel Batterien oder Stauseen, aber auch Stromimporte aus den Nachbarländern – sofern diese schnell zur Verfügung stehen.
Der Einsatz von Speichern ist in der Berechnung der Back-up-Leistungsverteilung bereits enthalten. Um zu zeigen, welchen Einfluss unsere Annahme von 200 GW Speicherkapazität auf das Szenario hat, setzen wir versuchsweise die Speicherkapazität für diesen Schritt auf null:
Der Vergleich zeigt: Die Speicher erhöhen zum einen drastisch den 100-Prozent-Anteil von Wind- und PV im Quartal. Das liegt zum Beispiel daran, dass PV-Überschüsse in der Mittagszeit gespeichert und dann in den Abendstunden verbraucht werden. Zum anderen reduziert der Speichereinsatz die notwendige Betriebsstunden der Back-up-Leistung bis zur Größenordnung bis 50 GW. Danach ist jedoch fast keine Änderung mehr zu beobachten. Eine vollständiges Back-up aus Speichern würde sehr hohe Leistungen erfordern, die dann ebenfalls wie Kraftwerke nur selten zum Zuge kämen und teuer wären.
Weil die Stromversorgung künftig klimaneutral erfolgen soll, kommt es darauf an, auch als Back-up-Anlagen möglichst CO₂-freie Stromerzeuger vorzusehen. Diskutiert werden dafür im Augenblick vor allem Gaskraftwerke, die mit Wasserstoff betrieben werden. Die gibt es derzeit jedoch noch nicht in Deutschland. Dafür liefern neben Sonne und Wind noch weitere, erneuerbare Anlagen Strom, zum Beispiel Wasserkraftwerke, Biogas- oder Geothermie-Anlagen. Diese haben den großen Vorzug, sich weitgehend wetterunabhängig einsetzen zu lassen, und es gibt sie bereits. Allerdings spielen sie in den Ausbauplänen der Bundesregierung keine Rolle; Wasserkraft gilt als ausgereizt, die installierte Leistung der Biogas-Anlagen könnte sogar sinken.
Als konservatives Szenario nehmen wir daher an: Die Stromerzeugung durch Wasser und Biogas sowie weitere Erneuerbare läuft 2030 noch weitgehend gleich. Ergänzen wir deren Stromerzeugung zu der in unserem Szenario für 2030 inklusive 20 GW Flexibilität und 200 GW Speicherleistung, ergibt sich nun folgendes Szenario für das Frühjahr:
Vor allem die maximale Back-up-Leistung fiele noch einmal gut 6 GW niedriger aus. Die Verteilung der Leistung die zusätzlich zu den Erneuerbaren zugeschaltet werden muss, verändert sich ebenfalls:
65 Prozent aller Stunden im Quartal können alle Erneuerbaren zusammen den Strombedarf vollständig decken, auch die Betriebsstunden des Back-up-Parks sinken deutlich. Über 50 GW Leistung wird nur noch in 0,9 Prozent der Quartalsstunden abgerufen.
In diesem einfachen Szenario haben wir die Stromerzeugung von Wasserkraft und Biogas-Anlagen nicht der Stromerzeugung von Wind- und PV-Anlagen angepasst. Dadurch vergrößern sich die Überschüsse, die für Stromspeicher zur Verfügung stehen. In der Folge liegt die Stundenanzahl, die keine Back-up-Leistung erfordert, deutlich höher als die gemeinsame Leistung von Wasser- und Biogaskraftwerken von etwa 7 GW erwarten ließ.
Im Szenario verbessert ein unangepasster Betrieb der weiteren erneuerbaren Stromquellen das Ergebnis spürbar. Das Ergebnis könnte sich in der Realität unter Umständen noch weiter verbessern lassen, wenn die Betriebsweise vor allem der Biogas-Anlagen der Stromerzeugung von Wind- und PV-Anlagen angepasst würde, jene also bedarfsorientiert liefern. Das heißt, sie lieferten vor allem dann Strom, wenn Wind und PV nur wenig Energie erzeugen.
Bereits heute können zumindest ein Teil der Biogas-Anlagen bedarfsorientiert betrieben werden. In den von uns verwendeten Stromerzeugungsdaten von ENTSO-E fällt diese Betriebsweise jedoch nicht auf, wahrscheinlich, weil nur eine kleine Leistung tatsächlich abgerufen wird.
Technisch besteht die Möglichkeit, einen deutlich größeren Anteil der Anlagen flexibel zu betreiben. Allerdings kann die Biogaserzeugung nicht gestoppt werden. Das Gas müsste daher gespeichert werden. Das eröffnet eine zusätzliche Möglichkeit für den flexiblen Betrieb: Mit dem gespeicherten Biogas könnten für kurze Zeit mehr Anlagen mit größerer Leistung als heute betrieben werden. Praktisch ist so die doppelte bis vierfache installierte Leistung gegenüber heute denkbar, bei gleichbleibender Gasversorgung. Das Verfahren wird “überbauen” genannt.
Für wie viele Stunden dabei das gespeicherte Gas reicht, hängt davon ab, wie viel Gas im Betrieb mehr verbraucht als Biogas erzeugt wird - und wie viel Wärme die meist im angeschlossenen Nahwärmenetz versorgten Haushalte benötigen. Durch eine Überbauung könnten Biogasanlagen bei Bedarf für kurze Zeit deutlich mehr Strom erzeugen und damit die zusätzlich notwendige Back-up-Leistung verkleinern. Würden die Biogasanlagen auf das vierfache ihrer Leistung “überbaut”, stünden somit nach Angabe des Deutschen Biomasse-Forschungszentrum DBFZ in Leipzig bis zu 12,8 GW Leistung zu Verfügung. Dass könnte es zummindest erleichtern, die notwendige Back-up-Leistung in unserem Szenario unter 60 GW zu senken.
Tatsächlich sind jedoch derzeit keine Planungen der Bundesregierung in diese Richtung zu erkennen. Auch die von uns für die Entwickung des Szenarios verwendeten Studien deuten nicht darauf hin, dass in der Forschung mit einem Ausbau von Biogas-Anlagen oder einer deutlichen Ausweitung der bedarfsorientierten Fahrweise gerechnet wird. Wir haben daher Forscherinnen und Forscher gefragt, warum das so ist - und ob das geändert werden sollte.
Alle Daten zur Stromerzeugung, zur installierten Leistung und zur Netzlast stammen von der Transparenz-Plattform des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E). Die Daten werden von den Netzbetreibern der einzelnen Länder bereitgestellt. Daten zur Erzeugung und zur Last werden mit einem Verzug von circa 2 Stunden bereitgestellt und haben eine Auflösung von 15 Minuten. Daten zum Stromhandel sind stündlich aufgelöst. Die Daten zur installierten Leistung werden nur jährlich aktualisiert. Die Erzeugungsdaten beschreiben die realisierte Erzeugung, also das was tatsächlich in das Netz eingespeist wurde. Der Eigenbedarf der Kraftwerke ist nicht in den Daten enthalten.
Für die Berechnung der Auslastung verwenden wir interpolierte Werte zwischen den bereitgestellten Werten – beziehungsweise schreiben den aktuellen Wert für das laufende Jahr fort. Dies führt möglicherweise zu einer geringen Überschätzung der Auslastung, da der Erzeugung real eine etwas höhere Leistung zu Grunde liegt. Diese Abweichung ist aufgrund der geringen Ausbaugeschwindigkeit im Verhältnis zur bereits installierten Leistung sehr gering und für die qualitativen Aussagen des Reports nicht relevant.
Wenn Sie Fragen zu diesen Daten haben oder weitere Auswertungen erhalten wollen, kann das SMC Lab Auswertungen erzeugen.
Sönke Gäthke, Redakteur für Energie und Mobilität
Bernhard Armingeon, Software Entwickler
Lars Koppers, Datenwissenschaftler
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