Tempolimit: 130 km/h könnte großen ökonomischen Nutzen entfalten
Studie: Kosten-Nutzen-Analyse von Tempolimit ergibt Wohlfahrtsgewinne von knapp einer Milliarde Euro pro Jahr
Auch ohne Klimaschutzeffekt nutzt Tempolimit demnach erheblich
Forscher: Zahlen sind plausibel, der Rechenweg aber nicht immer nachvollziehbar
Ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde in Deutschland würde Wohlfahrtsgewinne von mindestens 950 Millionen Euro pro Jahr bewirken. Besonders der eingesparte Treibstoff, weniger Unfälle, geringere Lieferkettenkosten und Einsparungen bei der Infrastruktur sind dafür neben dem Klimaschutzeffekt relevant – werden die Emissionseinsparungen ignoriert, ergibt sich noch immer ein Wohlfahrtsgewinn von 660 Millionen Euro jährlich. Das ist das Ergebnis einer schwedisch-deutschen Forschergruppe, deren Paper im Fachjournal „Ecological Economics” veröffentlicht wurde (siehe Primärquelle). Sie bewerten das Tempolimit daher als Win-win-Situation: Gut fürs Klima und mit erheblichem Gewinn für die Gesellschaft.
Professor für Verkehrsökologie, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Technische Universtität Dresden
„Eigentlich ist es ganz einfache Physik, und jeder lernt es in der Mittelstufe: Der Energieverbrauch steigt mit dem Quadrat der Geschwindigkeit an, und schnellere Fahrt erzeugt mehr Emissionen und erhöht die Lärmbelastung. Dennoch hört man im Autofahrerland Deutschland immer wieder, ein Geschwindigkeitslimit auf Autobahnen sei gefährlich und wirtschaftlich schädlich. Die vorliegende Studie eines internationalen Autorenteams hat nun alle wichtigen volkswirtschaftlichen Nutzen und Kosten eines Tempolimits von 130 km/h auf deutschen Autobahnen untersucht.“
„Die Studie greift das Argument des Verbands der Automobilindustrie (VDA) auf, dass ein Tempolimit nur wenig Energie sparen würde, die wirtschaftlichen Verluste durch Zeitkosten aber groß seien. Demgegenüber untersuchen die Autoren in ihrer Betrachtung neben den Zeitkosten auch die Effekte des schnellen Fahrens auf die Kapazität der Autobahnen – diese Kapazität wäre dann am höchsten, wenn alle ähnlich schnell fahren würden – auf die Unfallkosten und -risiken, auf den Flächenverbrauch und die Zerschneidung, auf die Lärm- und Klimakosten sowie eben auf die Zeitkosten der Verkehrsteilnehmer. Dabei werden sowohl die Kosten für die Fahrenden, also zum Beispiel Zeit- und Kraftstoffkosten, als auch für die restliche Gesellschaft – zum Beispiel Klimakosten, nicht durch Versicherungen gedeckte Unfallkosten, Kosten der Gesundheitssysteme durch Abgas und so weiter – einbezogen. Für die Berechnungen werden vor Allem die offiziellen deutschen Daten verwendet; in Zweifelsfällen werden immer die vorsichtigsten Werte verwendet: Das Endergebnis stellt also eine Unterschätzung der Vorteile des Tempolimits dar.“
„Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass ein Tempolimit volkswirtschaftlich sehr vorteilhaft ist und dass die gesamte Kosten-Nutzen-Betrachtung Gewinne von etwa 950 Millionen Euro jährlich erbringen würde. Die Fahrerinnen und Fahrer würden durch ein Tempolimit insgesamt 766 Millionen Liter Kraftstoff pro Jahr sparen.“
„Die Studie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass nicht ein einzelner Effekt des Tempolimits, sondern alle wesentlichen Wirkungen einbezogen wurden. Die Kosten-Nutzen-Betrachtung erlaubt es, auch verschiedene physikalische Effekte gemeinsam zu bewerten. Von daher stellt die Studie die umfassendste aktuelle Untersuchung dar. Alle Datengrundlagen sind belegt und nachprüfbar: Da immer die ‚vorsichtigsten Werte‘ verwendet werden, wird in der Realität ein deutlich höherer Nutzen zu erwarten sein.“
„Um die Klimaprobleme ebenso wie die Flächenverbrauchs-, Abgas- und Lärmprobleme des Verkehrs zu reduzieren, ist ein Tempolimit auf Bundesautobahnen damit ein volkswirtschaftlich sinnvolles Vorgehen. Ähnliche große Umweltentlastungen wären wohl nur durch eine drastische Erhöhung der Benzin- und Dieselsteuern möglich. Die Ergebnisse sind wissenschaftlich abgesichert und insgesamt beeindruckend. In der Schlussbetrachtung werden auch noch weitere verschiedene andere Argumente gegen das Tempolimit diskutiert beziehungsweise entkräftet.“
Leiter der Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport, Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change gGmbH (MCC), Berlin
„Die Annahmen und Methodik der Studie sind plausibel. Die Annahmen sind konservativ getroffen, insbesondere bei den sozialen Kosten der CO2-Emissionen. Aufgrund fehlender Daten konnte die Auswirkungen auf Lärm nicht mit einbezogen werden, eine möglicherweise zusätzliche relevante Kategorie, die Herzkreislaufkrankheiten induziert.“
„Wünschenswert wäre gewesen, wenn die Studie nicht nur eine Punktabschätzung, sondern eine Bandbreite von Abschätzungen der Kosten und Nutzen geliefert hätte.“
Auf die Frage, inwiefern das Instrument der Kosten-Nutzen-Analyse für die Bewertung des Tempolimits geeignet sei:
„Eine Kosten-Nutzen-Analyse ist geeignet. Ihre große Schwäche ist, dass nur Dimensionen einbezogen werden, die gut messbar sind. So wird Verkehrslärm durch Rasen hier nicht adäquat präsentiert.“
„Eine Alternative ist die Klimaschutzperspektive. Diese bewertet Maßnahmen nach Klimaschutzwirkung. Aber auch hier spielt eine Kosten-Nutzen-Analyse eine Rolle. So sollten Klimaschutzmaßnahmen mit besserem Verhältnis von Kosten und Nutzen bevorzugt werden. Die vorliegende Studie zeigt, dass ein Tempolimit sogar negative Kosten hat, also unabhängig vom Klimaschutzeffekt Nutzen bringt. Daran erkennt man auch, warum Deutschlands Alleinstellungsmerkmal des fehlenden Tempolimits von anderen Ländern nicht nachgeahmt wird.“
„Wichtigstes Instrument aus Klimaperspektive, und um das 15-Millionen E-PKW Ziel bis 2030 zu erreichen, ist ein Instrument, welches den Pkw-Verkauf beeinflusst. Das könnte eine E-Pkw Quote sein, oder ein Bonus-Malus-System, wonach E-Pkws mit niedrigem Steuersatz bei Kauf, Verbrenner mit höherem Steuersatz und progressiv nach CO2-Emissionsintensität besteuert werden.“
„Luftverschmutzung und Lärm schadet vor allem in Städten. Hier ist die anvisierte Reform der Straßenverkehrsordnung zentral, die es Kommunen ermöglichen soll, eigenständig vor Ort Maßnahmen zum Klima- und Anwohnerschutz zu treffen.“
Fachgebietsleiter Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik, Institut für Land- und Seeverkehr (ILS), Technische Universität Berlin
„Die Studie von Gössling et al. stützt sich zu einem erheblichen Teil auf eine Webseite des Umweltbundesamtes (UBA), welche zum Zeitpunkt des Zugriffs eine Studie von Lange et al. [1] zusammengefasst hat. Seitdem wurde die Webseite verändert und fasst derzeit eine spätere Studie von Schmaus et al. [2] zusammen. Das macht es zunächst schwierig, die Studie von Gössling et al. nachzuvollziehen.“
„Die Studie von Gössling et al. wandelt die durch das Tempolimit erhöhten Fahrzeiten in monetäre Verluste um. Dafür werden für den Verkehrsbereich in Deutschland hohe, aber immer noch plausible Zeitwerte von circa 20 Euro pro Stunde verwendet, was zu monetarisierten Verlusten von circa einer Milliarde Euro pro Jahr führt. Dem wird gegenübergestellt, dass allein die durch das Tempolimit reduzierten Kraftstoffkosten in ähnlicher Höhe liegen. Weitere Nutzen ergeben sich durch reduzierte Kosten für Fahrzeuge, Infrastruktur, Unfälle oder CO2-Ausstoß. Die resultierenden Größenordnungen sind plausibel, die Berechnungsmethode für diese weiteren Nutzen kann ich aber nicht nachvollziehen, weil Einsparungen durch langsameres Fahren umgerechnet werden in äquivalente nicht-gefahrene Kilometer, ohne dass die Zulässigkeit einer solchen Umrechnung diskutiert wird.“
„Andere Studien ergeben monetarisierte Zeitverluste in ähnlicher Größenordnung.“
Auf die Frage, inwiefern das Instrument der Kosten-Nutzen-Analyse für die Bewertung des Tempolimits geeignet sei:
„Wesentlicher Vorteil der Kosten-Nutzen-Analyse ist, dass die Umrechnung von Gewinnen und Verlusten – zum Beispiel von Fahrzeit – in vergleichbare Einheiten auf einer wissenschaftlich etablierten Methodik beruht. Wegen der Komplexität der Methodik ist es von Vorteil, wenn mehrere Arbeitsgruppen ähnliche Untersuchungen durchführen und dabei auf ähnliche Resultate kommen. Und selbst dann sollten diese nicht technokratisch angewandt, sondern als Input für eine gesellschaftliche Diskussion genutzt werden.“
Auf die Frage, Welche anderen Maßnahmen sinnvoll sein könnten, um CO2-Emissionen, Staus, Lärm oder Schadstoff-Emissionen zu bekämpfen?
„‚Push‘-Maßnahmen richten sich direkt gegen die jeweiligen Herausforderungen, also zum Beispiel Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Maut gegen CO2-Ausstoß oder gegen Lärm. ‚Pull‘-Maßnahmen versuchen, die Autofahrer auf andere Verkehrsmittel – zum Beispiel Fahrrad oder öffentlichen Verkehr – umzulenken, indem man jene attraktiver macht. Alle Untersuchungen zeigen, dass Push-Maßnahmen deutlich besser als Pull-Maßnahmen wirken; sie finden aber auch deutlich weniger Akzeptanz. Die Herausforderung ist es, ein Paket zu finden, das gleichzeitig politisch akzeptabel und wirksam ist.“
„Es gibt keinerlei Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Gössling S et al. (2023): The economic cost of a 130 kph speed limit in Germany. Ecological Economics. DOI: 10.1016/j.ecolecon.2023.107850
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Lange M et al. (2020): Klimaschutz durch Tempolimit. Wirkung eines generellen Tempolimits auf Bundesautobahnen auf die Treibhausgasemissionen. UBA-Texte 38/2020
[2] Schmaus M et al. (2023): Flüssiger Verkehr für Klimaschutz und Luftreinhaltung. UBA-Texte 14/2023
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Diefenbacher H et al. (2010): Wohlfahrtsmessung in Deutschland. Ein Vorschlag für einen nationalen Wohlfahrtsindex. Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes, UBA Texte 02/2010.
[II] Europäische Kommission (2019): Handbook on the external costs of transport.
Prof. Dr. Udo Becker
Professor für Verkehrsökologie, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Technische Universtität Dresden
Prof. Dr. Felix Creutzig
Leiter der Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport, Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change gGmbH (MCC), Berlin
Prof. Dr. Kai Nagel
Fachgebietsleiter Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik, Institut für Land- und Seeverkehr (ILS), Technische Universität Berlin