Globale Übersterblichkeit durch COVID-19
aktualisierte WHO-Schätzung zur Übersterblichkeit durch COVID-19
in Deutschland demnach 122.000 zusätzliche Todesfälle
Methodik für manche Länder sehr grob, Kritik an früheren Ergebnissen
In der Fachzeitschrift „Nature“ ist am 14.12.2022 eine aktualisierte Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur globalen Übersterblichkeit bedingt durch COVID-19 (siehe Primärquelle) erschienen. Demnach kam es in den Jahren 2020 und 2021 weltweit zu rund 14,8 Millionen zusätzlichen Todesfällen. Die Schätzung ist fast dreimal so hoch wie die Zahl der offiziell gemeldeten 5,4 Millionen COVID-19-Todesfälle in dieser Zeit. Die durchschnittliche globale Pro-Kopf-Übersterblichkeitsrate im Jahr 2020 lag den Forschenden zufolge bei 0,06 Prozent, 2021 stieg sie auf 0,13 Prozent. Dies übertrifft die Influenzapandemien von 1957 (0,04 Prozent), 1968 (0,03) und 2009 (0,005). In Deutschland starben der WHO-Statistik zufolge rund 122.000 Menschen mehr, als zu erwarten gewesen wäre. Für fast die Hälfte aller Staaten ist es aufgrund der schwachen Datenlage nicht möglich, die Übersterblichkeit mit hoher Sicherheit anzugeben.
Direktor der Sektion Medizinische Statistik und Informatik, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
„Die Wahl der statistischen Methoden sollte in Ordnung sein, die konkreten Berechnungen und Ergebnisse hängen dann von den in den einzelnen Ländern zur Verfügung stehenden Daten ab. Eine globale Schätzung wie diese ist problematisch, es greifen die verschiedensten Limitationen. Die Autoren gehen selbst auf einige dieser Limitationen ein (Seite sechs, rechte Spalte).“
„Der Wunsch der WHO, die COVID-19-Pandemie mit einigen wenigen Zahlen zur Übersterblichkeit einordnen zu können, ist verständlich. Letztlich handelt es sich jedoch um eine sehr grobe Schätzung, die für einzelne Länder nicht zutreffend sein muss. Es erscheint zusätzlich notwendig, die Situation in den einzelnen Ländern separat zu beleuchten, damit die Übersterblichkeit durch COVID-19 richtig eingeschätzt werden kann.“
„Peru beispielsweise hat laut Studie die weltweit mit Abstand höchste Übersterblichkeit. Dort ist es aber offenbar während der Pandemiejahre zusätzlich zu starken Denguefieber-Ausbrüchen gekommen. Hohe Übersterblichkeit kann auch dann passieren, wenn die Referenzjahre vor der Pandemie besonders gute Jahre waren, also Jahre ohne besondere Outbreaks und geringer Mortalität.“
„Letztlich würde ich die vorliegende Arbeit nicht unbedingt als Schätzung zu den COVID-19-Toten sehen, sondern als Arbeit zur Übersterblichkeit in den Pandemiejahren 2020 und 2021. Ein kleiner, aber feiner Unterschied, der ja nach Land und Region stark variieren kann.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Population Health Lab, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
„Das Modell der WHO ist State of the Art, und kann nach den jetzigen Korrekturen zuverlässig die Übersterblichkeit in Ländern mit gut ausgebauten demografischen Meldesystemen messen – das schließt Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland und Teile Asiens und Südamerikas ein. In weiten Teilen Afrikas und in Teilen Asiens und Südamerikas werden Todesfälle jedoch nur sehr unzuverlässig registriert und Übersterblichkeit kann daher nicht aufgrund von gemeldeten Todesfällen geschätzt werden, sie wird indirekt aufgrund von Korrelationen zwischen Übersterblichkeit und vorhandenen Variablen wie dem Bruttoinlandsprodukt geschätzt. Hier hat das WHO-Modell dieselben Limitationen wie alternative Modelle von IHME (Institute for Health Metrics and Evaluation; Anm. d. Red.) oder Economist, nämlich dass ohne Kenntnis der Anzahl der Verstorbenen in einem Land, wie in weiten Teilen Afrikas, nur eine sehr unsichere Schätzung vorgenommen werden kann.“
„Die WHO geht mit diesen Unsicherheiten in der Schätzung transparent um und veröffentlicht Unsicherheitsintervalle um die geschätzte Übersterblichkeit und im Ranking verschiedener Länder. Diese Unsicherheit ist höher bei kleinen Ländern (zum Beispiel Dänemark) und bei Ländern ohne direkte Informationen zu der Anzahl der Verstorbenen. Jenseits dieser statistischen Unsicherheit gibt es aber immer auch einen Rest Modellierungsunsicherheit, so auch beim WHO-Modell. Ähnlich wie bei Klimamodellen gibt es verschiedene plausible Modelle, die aber leicht unterschiedliche Zahlen produzieren. Hier ist es wichtig, sich auf die Trends zu fokussieren, die von allen Modellen sicher reflektiert werden (etwa die höhere Übersterblichkeit in Osteuropa oder die generell historisch hohe Übersterblichkeit), anstatt kleine Unterschiede zu interpretieren (zum Beispiel ob die Übersterblichkeit in Dänemark höher oder niedriger als in Schweden war). Zur Frage der Modellrobustheit gibt es auch aktuelle Studien [1] [2].“
Auf die Fragen, wie die Qualität zur Schätzung der Übersterblichkeit in Deutschland zu bewerten ist und warum für Deutschland (und Schweden) eine andere Berechnungsweise gewählt wurde:
„Es wurden für Deutschland und Schweden andere Modelle gewählt, da die ursprünglichen Schätzungen zur erwarteten Sterblichkeit seit 2020 für beide Länder unplausibel waren. Diese Fehler wurden von verschiedenen Seiten erkannt und von Jon Wakefield (Statistiker für die WHO mit Verantwortung für die Modellierung der Übersterblichkeit) zeitnah öffentlich zugegeben, erklärt, und dann bereinigt [3]. Der Fehler ist technischer Natur und gut analysiert: Die WHO verwendet ein Modell, welches sich bei der Trendextrapolation von jährlichen Sterbefällen vereinzelt zu sehr davon leiten lässt, was im Jahr 2019 passiert ist, anstatt dass wie beabsichtigt ein mittelfristiger Trend fortgeschrieben wird. In Schweden und Deutschland kam es hier in Kombination mit unnötigen Korrekturen für zeitlich verzögerte gemeldete Sterbefälle zu unplausiblen Resultaten. Dass es bei großen Modellen vereinzelt zu Problemen kommen kann, ist nicht ungewöhnlich, hier verhält es sich wie bei komplexen Bau- oder Softwareprojekten – wenn Fehler unweigerlich passieren, müssen sie transparent kommuniziert und dann berichtigt werden. Dies ist hier geschehen.“
Auf die Frage, wie die für Deutschland berechnete Übersterblichkeit im Vergleich zu jener des Statistischen Bundesamts zu bewerten ist:
„In dem angehängten Artikel werden für Deutschland für die Jahre 2020/21 rund 122.000 (101.000–143.000) vorzeitig Verstorbene geschätzt. Da das Statistische Bundesamt meines Wissens keine vergleichbare Statistik veröffentlicht hat, kann ich hier keinen Vergleich vornehmen (Destatis veröffentlicht monatliche Übersterblichkeit in Prozent).“
„Das Statistische Bundesamt verwendet zur Berechnung der monatlichen Übersterblichkeit den Median der monatlichen Sterbefallzahlen der vier vorangegangenen Jahre als Referenz. Diese wurde vermutlich gewählt, da sie in einem Satz erklärt, und damit transparent ist. Es gibt aber genauere, wenngleich komplizierte Methoden, zum Beispiel die der WHO, um die erwarteten Sterbefälle in Abwesenheit der COVID-19-Pandemie zu berechnen. Ein wichtiger Unterschied der WHO-Methode zur Methode des Statistischen Bundesamts besteht darin, dass die WHO Unsicherheitsintervalle um die geschätzte Übersterblichkeit angibt. Da die Zahl der erwarteten Sterbefälle unter Abwesenheit der Pandemie nur geschätzt werden kann und nicht sicher bekannt ist, resultiert dies auch in einer Unsicherheit in der Übersterblichkeit im Vergleich zur erwarteten Sterblichkeit. Die Angabe der damit verbundenen Unsicherheit ist nützlich, um keine falschen Schlüsse auf Basis von Zufallsschwankungen zu ziehen.“
„Die durch COVID-19 verursachte Übersterblichkeit ist in ihrer Höhe und in ihrem globalen Ausmaß einzigartig in den letzten 70 Jahren. Dies können wir auch an Rückgängen in der Periodenlebenserwartung für die Jahre 2020/21 sehen [4], die in solch einem Ausmaß wie seit Februar 2020, zumindest für Westeuropa und die USA, in der Nachkriegszeit nicht beobachtet wurde.“
„Bereits in der ersten Welle 2020 konnte klar gesehen werden, dass die COVID-19 bedingte Übersterblichkeit in stark betroffenen Ländern weit höher liegt als während einer schweren Grippesaison. Hier nur Belgien als Beispiel unter vielen: in Woche 15 2020 erreichte die Übersterblichkeit in Belgien einen Spitzenwert von 99 Prozent (88 bis 110 Prozent; 90 Prozent Unsicherheitsintervall) und dann erneut eine Spitze von 79 Prozent (70; 91 Prozent) in Woche 45. Diese Werte liegen trotz Maßnahmen zur Eindämmung weit jenseits dessen, was zur Spitze einer schweren Grippesaison passiert (hier würden wir vereinzelt 20 bis 30 Prozent erwarten). Studien zeigen auch sehr deutlich, dass der Effekt von COVID-19 auf die Übersterblichkeit im Jahr 2020 in den meisten europäischen Ländern weitaus größer war als jener der schweren Grippesaison 2015 [5]. Die außergewöhnlich hohe Übersterblichkeit hat sich während der Winterwelle 20/21 und während der Deltawelle im Winter 21/22 wiederholt und vor allem in Osteuropa zu drastischen Werten in der Übersterblichkeit geführt.“
„Generell hat die COVID-19-Pandemie bestehende Ungleichheiten in der Bevölkerungsgesundheit verschärft. Die skandinavischen Länder (Dänemark, Norwegen, Finnland, Schweden), Länder mit ausgezeichneter Gesundheitsversorgung und hoher Lebenserwartung, erfuhren im internationalen Vergleich über die Jahre 20/21 eine relativ geringe Übersterblichkeit. Osteuropa hingegen, auch vor der Pandemie mit einer im europäischen Vergleich geringeren Lebenserwartung, erfuhr über die Jahre 20/21 eine anhaltend hohe Übersterblichkeit. Unter anderem spielen auch Unterschiede in den Impfquoten – hoch in den skandinavischen Ländern, niedrig in Osteuropa – eine Rolle in diesen unterschiedlichen Resultaten.“
„Das Risiko an COVID-19 zu sterben, ist keine Größe, die über die Zeit konstant bleibt und wird durch Impfungen substanziell reduziert. So sahen wir im Herbst 22/23, dass COVID-19 nicht mehr hauptsächlich für die in Deutschland registrierte Übersterblichkeit verantwortlich war und stattdessen vermutlich die klassischen Infektionskrankheiten wieder eine größere Rolle in der saisonalen Übersterblichkeit spielen. Die mittel und langfristigen Effekte der COVID-19-Pandemie auf die Sterblichkeit können jedoch noch nicht abgeschätzt werden.“
Leiter des Lehrstuhl für Statistik, Universität Mannheim
„Die „Nature“-Studie beschreibt das von der WHO verwendete Verfahren zur Berechnung der globalen Übersterblichkeit während der COVID-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021, und seine Ergebnisse. Die Zahlen entsprechen im Wesentlichen den von der WHO bereits im Mai veröffentlichten Werten, und sind in diesem Sinne nicht neu.“
„Die Berechnung einer globalen Übersterblichkeit ist insbesondere deshalb kompliziert, weil es für viele Länder keine verlässlichen Daten zu Sterbefällen vor und während der Pandemie gibt. Die Autoren schätzen diese Werte daher mithilfe statistischer Verfahren aus den Daten vergleichbarer Länder mit besserer Informationsbasis. Die sich aus dem Verfahren ergebende globale Übersterblichkeit von etwa 14,8 Millionen Todesfällen in den Jahren 2020 und 2021 ist daher mit einer gewissen Unsicherheit verbunden, sollte aber von der richtigen Größenordnung sein.“
„Die Studie liefert auch Schätzungen für die Übersterblichkeit in einzelnen Ländern. Diese Werte beruhen auf einem statistischen Verfahren, das leider recht stark durch zufällige Schwankungen in den Sterbezahlen vor der Pandemie beeinflusst werden kann. Daraus ergab sich für Deutschland zum Beispiel ein unplausibel hoher Wert von 195.000 zusätzlichen Todesfällen. Die Autoren der Studie verwenden deshalb für Deutschland eine separate Ad-hoc-Berechnung, die mit 122.000 zusätzlichen Todesfällen in den Jahren 2020 und 2021 aber noch immer deutlich über den verlässlicheren Schätzungen des Statistischen Bundesamts von etwa 70.000 Fällen, und der aus Studien von De Nicola, Kauermann und Höhle von etwa 35.000 Fällen, liegt [6] [7].“
„Jon Wakefield und ich waren im vergangenen Jahr in Kontakt bezüglich der Methodik der WHO. Herr Wakefield hat mich vor Veröffentlichung der ersten Zahlen um eine Einschätzung zu einem Teil des Papers gebeten. Ich bin aber nicht Co-Autor der Studie oder anderweitig an der Veröffentlichung der Zahlen beteiligt. Nach Veröffentlichung der Zahlen habe ich die Ergebnisse für Deutschland kritisiert und Herr Wakefield und ich waren in Kontakt, bezüglich der statistischen Gründe für das Problem.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Msemburi W et al. (2022): The WHO estimates of excess mortality associated with the COVID-19 pandemic. Nature. DOI: 10.1038/s41586-022-05522-2.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Schöley J (2021): Robustness and bias of European excess death estimates in 2020 under varying model specifications. Medrxiv. DOI: 10.1101/2021.06.04.21258353.
Hinweis der Redaktion: Es handelt sich hierbei um eine Vorabpublikation, die noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und damit noch nicht von unabhängigen Experten und Expertinnen begutachtet wurde.
[2] Nepomuceno MR et al. (2022): Sensitivity Analysis of Excess Mortality due to the COVID-19 Pandemic. DOI: 10.1111/padr.12475.
[3] Van Noorden (01.06.2022): COVID death tolls: scientists acknowledge errors in WHO estimates. Nature. News Feature.
[4] Schöley J et al. (2022): Life expectancy changes since COVID-19. Nature. DOI: 10.1038/s41562-022-01450-3.
[5] Islam N et al. (2021): Effects of covid-19 pandemic on life expectancy and premature mortality in 2020: time series analysis in 37 countries. BMJ. DOI: 10.1136/bmj-2021-066768.
[6] De Nicola G et al. (2022): On assessing excess mortality in Germany during the COVID-19 pandemic. AStA Wirtschafts- und Sozialistisches Archiv. DOI: 10.1007/s11943-021-00297-w.
[7] De Nicola G et al. (2022): An update on excess mortality in the second year of the COVID-19 pandemic in Germany. AStA Wirtschafts- und Sozialistisches Archiv. DOI: 10.1007/s11943-022-00303-9.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Rothe C (31.05.2022): WHO-Studie zur Corona-Übersterblichkeit nutzt störanfällige Methode. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Pressemitteilung.
Prof. Dr. Hanno Ulmer
Direktor der Sektion Medizinische Statistik und Informatik, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
Ph.D. Jonas Schöley
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Population Health Lab, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
Prof. Dr. Christoph Rothe
Leiter des Lehrstuhl für Statistik, Universität Mannheim