Droht uns im Winter eine schwere Grippewelle?
Grippesaison könnte in diesem Jahr besonders stark ausfallen
geringe Immunität in der Bevölkerung durch ausbleibende Grippewellen in Vorjahren
Forschende raten Risikogruppen zur Grippeschutzimpfung
Mit Beginn der nasskalten Jahreszeit startet auch hierzulande die jährliche Grippesaison. Neben Befürchtungen vor einer Doppelbelastung des Gesundheitssystems durch eine gleichzeitige Infektionswelle von Influenza und COVID-19 wird die öffentliche Debatte zurzeit auch von Warnungen vor einer besonders schweren Grippewelle geprägt.
Professorin für Vakzinologie, Institut für Medizinische Mikrobiologie, Universität Groningen, Niederlande
„Durch den COVID-19-bedingten Lockdown, Maske tragen und Isolation trat die echte Grippe, die Influenza, in den letzten vergangenen zwei Wintern praktisch gar nicht auf. Wiederholt wurden und werden darum Befürchtungen geäußert, dass uns in diesem Winter eine besonders schwere Grippewelle bevorsteht. Daten aus Australien, wo die Grippesaison inzwischen zuende geht, stützen diese Befürchtung allerdings nicht. Zwar begann die Grippewelle in Australien ungewöhnlich früh und zeigte einen sehr steilen Anstieg, aber dann waren die Zahlen relativ schnell wieder rückläufig, so dass die Grippewelle insgesamt durch die australischen Behörden als gering bis moderat eingestuft wird. Auch waren vor allem Kinder und Jugendliche betroffen, bei denen schwere Krankheitsverläufe selten sind.“
„Es ist schwer vorherzusehen, ob Grippe und COVID-19 in diesem Winter zu einer Doppelbelastung führen werden. Das ist zum Teil von den Verläufen der jeweiligen Infektionskurven abhängig. Im Moment sehen wir bei COVID-19 trotz deutlichem Anstieg der Infektionszahlen zum Glück nur wenige schwere Fälle. Trotzdem kann das gleichzeitige oder kurz nacheinanderfolgende Auftreten von Infektionspeaks zu einer Belastung des Gesundheitssystems führen, durch mehr Patienten einerseits und Personalausfälle andererseits. Inzwischen wissen wir, dass Maßnahmen wie Abstand halten und Maske tragen gegen beide Infektionskrankheiten wirksam sind und zum Begrenzen von Infektionen beitragen können.“
„Für Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko und erhöhtem Risiko füreinen schweren Krankheitsverlauf ist neben einer Booster-Impfung für COVID-19 auch eine Grippeimpfung zu empfehlen. Die Grippeimpfung ist zwar weniger effektiv als eine COVID-19-Impfung, aber bietet doch zumindest einigen Schutz.“
Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Influenza, Robert Koch-Institut (RKI), Berlin
„Der Verlauf einer Grippesaison hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab und lässt sich generell nicht vorhersagen. Die Schwere einer Grippewelle kann immer erst im Nachhinein beurteilt werden [1]. Was wir anhand unserer Surveillance-Systeme aktuell sehen, ist, dass sich Atemwegsviren zurzeit weitgehend ungebremst in der Bevölkerung verbreiten können – und damit auch Influenzaviren.“
„Seit Ende September ist die Zahl der an das RKI übermittelten Influenzafälle im Meldewesen deutlich angestiegen. Die Interpretation dieses Anstiegs ist jedoch schwierig. Bei Anzeichen einer akuten Atemwegsinfektion wird ein Test auf COVID-19 und je nach Symptomatik und Grunderkrankung auf Influenza empfohlen, weshalb wahrscheinlich Influenza-Fälle detektiert werden und in den Meldedaten auftauchen, die in den vergangenen (vorpandemischen) Jahren um diese Zeit einfach nicht erfasst wurden. Das RKI beobachtet die Entwicklung aber natürlich weiter sehr genau und bewertet die Meldedaten im Kontext anderer Surveillance-Ergebnisse [2].
„Um die Verbreitung von Atemwegsviren wie COVID-19 und eben auch Influenza zu reduzieren, empfiehlt das RKI weiterhin unter anderem das Tragen von Masken, regelmäßiges Stoßlüften (wichtig ist, dass die gesamte Luft im Raum ausgetauscht wird), bei Atemwegssymptomen drei bis fünf Tage und bis zur deutlichen Besserung der Symptome zu Hause zu bleiben und sich gegen COVID-19 und gegebenenfalls auch Grippe impfen zu lassen. Eine Influenza-Impfung wird insbesondere Menschen ab 60 Jahren, chronisch Kranken und Schwangeren empfohlen, aber auch alle anderen können sich impfen lassen, das sollte man individuell in der Arztpraxis besprechen. Die Influenza-Impfstoffe wurden angepasst und sind wirksam. Die Wirksamkeit von Impfungen beim Einzelnen wird jedoch maßgeblich vom Immunsystem beeinflusst und unterliegt dessen Reaktionsmuster, das individuell variieren kann.“
„Die COVID-19- und Grippeimpfung können auch gleichzeitig beim selben Termin durchgeführt werden. Die Impfungen bieten einen guten Schutz vor schweren Verläufen – auch Geimpfte sollten aber die empfohlenen Schutzmaßnahmen einhalten, weil der Schutz vor Infektionen nach Impfung individuell variiert und zeitlich begrenzt ist.“
Direktor am Institut für Molekulare Virologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
„In den vergangenen beiden Wintersaisons ist die Grippewelle bei uns ja sozusagen ausgefallen, was insbesondere auf die Schutzmaßnahmen gegen Coronaviren – wie Abstand halten und Masken tragen – zurückzuführen ist. Mit den Lockerungen ist die Gefahr einer Grippe-Ausbreitung natürlich auch wieder gegeben. Zwei Dinge müssen uns hier zu denken geben: Zum einen zeigt die Vergangenheit, dass auf Jahre mit schwächeren Grippewellen meist wieder eine stärkere Grippewelle folgt. Dies liegt daran, dass die Erreger mehr Zeit hatten, sich zu verändern und so einer über die schwächeren Jahre hinweg schlecht angepassten Immunität in der Bevölkerung entkommen können. Zum anderen muss uns die derzeitige starke Grippewelle auf der Südhalbkugel in Australien aufhorchen lassen. Meist erreichen uns die Erreger von der Südhalbkugel in dem bei uns folgenden Winter, so dass wir davon ausgehen müssen, dass auch diesmal die Erreger aus Australien bei uns ankommen. Da sich Coronaviren und Influenzaviren unabhängig voneinander ausbreiten, kann es gerade bei der derzeit wieder ansteigenden Corona-Inzidenz auch zu Doppelinfektionen kommen, die besonders gefährlich sind. Die gute Nachricht: Gegen beide Erreger kann man sich impfen lassen, sogar gleichzeitig. Obwohl zur Passform der aktuellen Grippe-Impfstoffe noch nicht viel bekannt ist, kann man doch davon ausgehen, dass sie aufgrund der guten Vorhersagen einen guten Schutz vermitteln. Die Impfstoffe gegen Corona wurden ja gerade auf die noch zirkulierende Omikron-Variante angepasst. Auch die anderen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona, wie Maskentragen und Abstandhalten wirken auch gegen die Ausbreitung der Grippe, sodass man hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt.“
Ärztlicher Leiter des Bereichs Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Mukoviszidose, Olgahospital, Klinikum Stuttgart
„Über die vergangenen zwei Jahre haben wir und somit auch die Kinder nur eingeschränkten Kontakt untereinander gehabt. Durch die im Rahmen der Corona-Pandemie notwendigen Kontaktbeschränkungen fehlt unserem Immunsystem das natürliche Training, dass es braucht, um eine Immunität aufbauen zu können. Das macht sich besonders bei Kindern und Jugendlichen, die eigentlich jedes Jahr mit den Viren in Kontakt gekommen sind, bemerkbar. Krankheitserreger treffen auf ein unvorbereitetes Immunsystem. Parallel beobachten wir einen Anstieg der Allergiebereitschaft.“
„Mit Blick auf die Daten aus Australien kann auch bei uns eine schwere Grippewelle drohen. Allein im Stuttgarter Olgahospital, der Kinderklinik des Klinikums Stuttgart, liegen zurzeit sieben Kinder mit Lungeninfektionen, die durch Influenzaviren verursacht wurden. Im letzten Jahr hatten wir mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus eine ähnliche Situation, auch da waren die hohen Infektionszahlen aus Australien ein Vorbote für das, was uns erwartet hat.“
„Hierzulande empfiehlt die Ständige Impfkommission eine Impfung gegen Influenza nicht nur für ältere und chronisch kranke Menschen, sondern auch für Schwangere und Beschäftigte im Gesundheitswesen. Da Kinder eine wichtige Risikogruppe für die echte Virusgrippe sind wäre es noch besser, grundsätzlich alle Kinder von sechs Monaten bis fünf Jahren gegen Grippe impfen zu lassen, wie es die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt. Ein klares Argument für eine Impfung ist zudem, dass Kinder eine erhebliche Rolle bei der Übertragung der Viren spielen, deutlich mehr als zum Beispiel bei SARS-CoV-2, und können ungeimpft auch eine Gefahr für abwehrschwache Kontaktpersonen darstellen.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte. Ich arbeite zwar, wie jeder in meiner Branche, in Consortien mit Partnern aus der Pharmazeutischen Industrie, aber in diesen Projekten geht es nicht um die Produktion oder Vermarktung von Grippeimpfstoffen.“
„Ich bin Mitgründer und Mitglied im Beirat des Start-up Unternehmens Atriva Therapeutics GmbH, das sich mit der Entwicklung von Medikamenten gegen virale Erreger wie Influenza und COVID-19 befasst.“
„Prof. Rose hat finanzielle Unterstützung für Forschungsprojekte und Kongressbesuche sowie Rednerhonorare von Impfstoffherstellern erhalten. Dies hat keinen Einfluss auf die vorangehenden Darstellungen.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Weiterführende Recherchequellen
Das RKI hat einen Flyer zu Schutzmaßnahmen vor akuten Atemwegsinfektionen im Winter veröffentlicht: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Buerger/Flyer_Winter.pdf?__blob=publicationFile
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Robert Koch-Institut: Häufig gestellte Fragen und Antworten zur Grippe. Stand: 12.10.2022.
[2] Buda S et al. (2022): ARE-Wochenbericht KW 40/2022; Arbeitsgemeinschaft Influenza. Robert Koch-Institut. DOI: 10.25646/10638.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Australian Government (2022): Australian Influenza Surveillance Report No.13. Report des Department of Health and Aged Care.
Prof. Dr. Anke Huckriede
Professorin für Vakzinologie, Institut für Medizinische Mikrobiologie, Universität Groningen, Niederlande
Dr. Ralf Dürrwald
Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Influenza, Robert Koch-Institut (RKI), Berlin
Prof. Dr. Stephan Ludwig
Direktor am Institut für Molekulare Virologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Markus Rose
Ärztlicher Leiter des Bereichs Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Mukoviszidose, Olgahospital, Klinikum Stuttgart