SARS-CoV-2-Variante BA.2.75 – Verbreitung, Immunschutz, Gefahrenpotenzial
dreifach Geimpfte weisen höhere Antikörpertiter gegen die SARS-CoV-2-Variante BA.2.75 auf als gegen BA.5
im Vergleich zu anderen Mutanten wirken bei BA.2.75 einige monoklonale Antikörper
Gefahr durch diese Viruslinie im kommenden Winter eher gering
Im Mai tauchte in Indien erstmals die Coronavirusvariante BA.2.75 auf. Inzwischen ist sie für rund 30 Prozent der Infektionen vor Ort verantwortlich. In mindestens 35 Ländern und in 20 US-Bundesstaaten ist die Variante nachgewiesen [I]. Hierzulande spielt BA.2.75 bisher noch keine große Rolle [II]. Im Zuge einer neuen Winterwelle könnte die Variante jedoch einen bedeutenden Anteil am Infektionsgeschehen einnehmen. Doch inwieweit helfen die bisher verfügbaren und bereits oft verabreichten Impfstoffe gegen diese Viruslinie? Zwei aktuelle Studien beschäftigen sich unter anderem mit dieser Frage [III] [IV].
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Sektion Infektiologie, Schwerpunkt Emerging Infections, I. Medizinische Klinik und Poliklinik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
„Die Variante BA.2.75 ist erfolgreich in der Übertragung und könnte sich daher gut ausbreiten. Die Variante hat Aminosäuresubstitutionen in dem Spike-Protein gegenüber ihrer Ursprungslinie BA.2, und daher stellt sich die Frage, ob Impfstoff-induzierte Antikörper gegen Spike noch ihre Funktionen der Neutralisierung erhalten haben.“
„Neue Studien beschreiben die Fähigkeit von Antikörpern die SARS-CoV-2-Variante BA.2.75 zu neutralisieren und somit die Bindung der Viren an die Zellen und das Eintreten zu verhindern. Hier gibt es Daten von einer Zusammenarbeit der Uniklinik Köln und der Charité oder aus dem Labor von David Montefiori [III] [IV].“
„Die beiden Publikationen untersuchen die Immunantworten von geimpften Menschen, die zuvor eine Boost-Immunisierung erhalten haben. Nach Boost-Immunisierung wurden Seren analysiert und die Neutralisierung zu verschiedenen Virusvarianten untersucht. Beide Studien zeigen, dass es keine schwächere Antwort im Vergleich zu BA.5 gibt, was ich als positiv einschätze. Zusätzlich hat im Vergleich zu BA.2 und BA.4/5 eine größere Breite an monoklonalen Antikörpern bei BA.2.75 reagiert. BA.2.75 zeigt also eine insgesamt höhere Empfindlichkeit gegenüber monoklonalen SARS-CoV-2-Antikörpern, was für eine Behandlung positiv sein kann.“
„Es werden immer wieder Varianten auftauchen, die sich der Immunität durch den Impfstoff und frühere Infektionen entziehen, und wir können nie genau wissen, wie diese Varianten sich auf unsere Fallzahlen oder Krankheiten auswirken werden. Wir müssen abwarten, bis wir an dem Punkt ankommen und Real-World-Daten haben. Die früheren Impf- und Infektionsverläufe der Bevölkerung sind unterschiedlich und somit ist es komplex, Vorhersagen zu machen. Labordaten geben wichtige Hinweise, aber man muss das Ausbruchsgeschehen auch immer beobachten und sollte dementsprechend reagieren.“
„Die Daten aus den genannten Laboren sehen vielversprechend aus – allerdings fehlen hier noch die T-Zellantworten und man muss auch immer die Bevölkerung und deren Immunstatus im Blick haben. Die Bevölkerung hat unterschiedliche Impfungen und Infektionen mit verschiedenen Varianten erhalten und durchlebt, sodass der Immunschutz in der Bevölkerung sehr unterschiedlich ist. Zudem kommt noch, dass das Risiko, sich zu infizieren, abhängig von der Zeit ist, wann die dritte Impfung war und ob Infektionen stattgefunden haben, und mit welcher Variante. Neben dem Risiko sich zu infizieren, haben die T-Zellen einen wichtigen Einfluss auf die Krankheitsverläufe. Hier denke ich, dass wir einen guten Schutz aufgebaut haben. Allerdings empfehle ich Risikopatienten und älteren Personen, sich zweimal zu boostern (also eine vierte Impfung). Der Abstand der Impfungen zu vorherigen Impfungen beziehungsweise zu Infektionen sollte gut überlegt sein, da dieses einen Einfluss auf den Erfolg der Boost-Immunisierung haben kann. Und BA.2.75 sollte nicht als ,harmlos‘ angesehen werden, da eine geschwächte Immunantwort bei einer Infektion mit BA.2.75 auch zu schwereren Verläufen führen könnte.“
„Ich glaube, dass der Winter neue Varianten und bestimmt einige Maßnahmen mit sich bringen wird, wie zum Beispiel Masken in Innenräumen zu tragen. Zurzeit sehe ich in BA.2.75 keine Variante, die eine größere Rolle spielen wird. Aber das kann man zurzeit nur spekulieren, da es immer verschiedene Einflüsse gibt, die das Infektions- und Krankheitsgeschehen mitbestimmen. So beeinflusst auch die Zeit, wann es zuletzt zu einer Infektion oder einer Impfung kam, das Risiko einer Infektion und einer schwereren Krankheit. Zusätzlich gibt es viele Risikopatienten in der Bevölkerung – und im Laufe des Winters gibt es auch viele andere Krankheiten, die den Verlauf einer COVID-19-Infektion beeinflussen können, wie eine Co-Infektion mit Influenza. Ich empfehle daher, keine Panik vor dem Winter zu haben, aber vorsichtig die Infektionslage zu beobachten.“
Leiterin des Instituts für Transplantationsimmunologie, Medizinische Hochschule Hannover (MHH), und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie sowie derzeit Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung
„Bei all den Virusvarianten, die jetzt noch nicht in Deutschland, aber bereits in anderen Bereichen der Welt wieder oder erstmals verstärkt auftauchen, ist etwas sehr interessant: Diese ganzen Mutationen, circa 40, durch die sich das Virus im Spike-Protein noch mal optimiert, damit es noch besser auf den ACE2-Rezeptor passt, finden in der ersten Hälfte der insgesamt 1273 Aminosäuren des Spike-Proteins statt. Das heißt, da sitzt das Verbesserungspotenzial für das Virus in puncto Infektion. Im hinteren Teil des Spike-Proteins sind lediglich sechs Mutationen bei 600 Aminosäuren aufgetreten. Das bedeutet, dass dieser Teil nach wie vor sehr ähnlich, wenn nicht fast identisch ist zu dem Spikeprotein des Ursprungsvirus. Und gegen diesen Bereich produzieren wir auch sehr viele Antikörper. Die können zwar die Infektion nicht neutralisieren, weil sie quasi am falschen Ende von diesem großen Spike-Protein sitzen, aber sie können trotzdem helfen, das Immunsystem gegen das Virus zu aktivieren. Und deswegen sind diese Antikörper und die T-Zell-vermittelte Immunantwort gegen diese konservierten Bereiche, die sich nicht verändern, besonders wichtig.“
„Und die Varianten, die bis jetzt bekannt sind, auch wenn sie selten auftreten, haben die Mutationen bislang alle in diesem vorderen Bereich, weil dort eine Optimierung Sinn macht für das Virus: Es kommt dadurch leichter in die Zellen hinein. Die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe baut auch sehr auf dieser Immunität gegen diesen zweiten Bereich auf, der bis jetzt zum Glück sehr konstant geblieben ist. Darauf sollte man bei neuen Varianten immer schauen: Wo sitzen denn da die Veränderungen genau? Und solange diese im vorderen Bereich sind, sind wir auf einer relativ sicheren Seite.“
„Das ist auch bei BA.2.75 so. Auch dort befinden sich die meisten Mutationen im vorderen Teil der Aminosäure-,Perlenkette‘ des Spike-Proteins. Der hintere Bereich ist nicht betroffen, sodass unser Immunschutz auch dagegen hilft. Der einzige Immune Escape dieser Omikron-Varianten ist ja, dass sie sich im Nasen-Rachen-Raum noch weiter aufhalten und weiter infizieren können, weshalb man noch ansteckend sein kann, obwohl man geimpft ist oder sich vielleicht sogar schon mal angesteckt hat. Aber der Rest, unsere systemische Immunität im Blut, die steht wie eine Eins, wenn man dreimal geimpft ist oder sich auch dann noch mal angesteckt hat.“
Institutsleiter, Institut für Hygiene und Angewandte Immunologie, Medizinische Universität Wien, und Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese und antivirale Immunantworten, Forschungsinstitut für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM), Österreich
„In Österreich ist BA.2.75 das erste Mal Ende Juni beobachtet worden. In Kalenderwoche 36 wurde die Prävalenz für BA.2.75 auf 1,2 Prozent geschätzt, was einen langsamen, aber kontinuierlichen Anstieg über die letzten Wochen bedeutet. Im österreichischen Abwassermonitoring-System wurden charakteristische Signale für BA.2.75 seit Juni immer wieder mal in einzelnen Kläranlagen gefunden, jedoch zumeist im niedrigen einstelligen Prozentbereich und ohne eindeutigen Trend. Somit wäre ich vorsichtig mit Prognosen, inwieweit BA.2.75 in Österreich und in Europa in den nächsten Monaten übernimmt oder ob nicht eine andere neuentstehende Subvarianten von Omikron – zum Beispiel basierend auf BA.5 oder BJ.1 – das Infektionsgeschehen im Winter dominieren wird.“
Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien, Biozentrum, Universität Basel, Schweiz
„In Europa und vielen anderen Teilen der Welt wurde die Omikron-Variante BA.2 von BA.5 verdrängt. In Südasien hingegen blieb BA.2 dominant und hat sich zu BA.2.75 entwickelt. Diese Variante hat eine Reihe von Mutationen im Spike-Protein, hat sich außerhalb von Südasien gegen BA.5 aber nicht durchsetzen können. Verschiedene Studien zeigen, dass BA.2.75 ähnlich gut von menschlichen Antikörpern erkannt wird wie BA.5. Allerdings ist aus BA.2.75 eine weitere Variante, BA.2.75.2, mit den zusätzlichen Mutationen R346T, F486S und D1199N im Spike-Protein entstanden. Rezente Preprints aus China und Schweden haben gezeigt, dass diese Variante von menschlichen Antikörpern deutlich schlechter erkannt wird [1] [2]. BA.2.75.2 ist nicht die einzige Variante, die ein solches Immunfluchtpotenzial hat. BQ.1.1 (eine BA.5-Sublinie) zeigt eine vergleichbare Immunflucht und Mutationen an ähnlichen Positionen. Auch bei weiteren Linien erwarteten wir aufgrund des Mutationsprofils derartige Eigenschaften. Diese Varianten sind im Moment in Europa noch selten, nehmen aber an Häufigkeit zu.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Cao Y et al. (2022): Imprinted SARS-CoV-2 humoral immunity induces converging Omicron RBD evolution. BioRxiv. DOI: 10.1101/2022.09.15.507787.
Hinweis der Redaktion: Es handelt sich hierbei um eine Vorabpublikation, die noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und damit noch nicht von unabhängigen Experten und Expertinnen begutachtet wurde.
[2] Sheward DJ et al. (2022): Omicron sublineage BA.2.75.2 exhibits extensive escape from neutralising antibodies. BioRxiv. DOI: 10.1101/2022.09.16.508299.
Hinweis der Redaktion: Es handelt sich hierbei um eine Vorabpublikation, die noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und damit noch nicht von unabhängigen Experten und Expertinnen begutachtet wurde.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Outbreak.info (29.09.2022): SARS-CoV-2 (hCoV-19) Mutation Reports Location Tracker.
[II] Robert-Koch-Institut (22.09.2022): Wöchentlicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19).
[III] Gruell H et al. (2022): Neutralisation sensitivity of the SARS-CoV-2 omicron BA.2.75 sublineage. The Lancet Infectious Diseases. DOI: 10.1016/S1473-3099(22)00580-1.
[IV] Shen X et al. (2022): Neutralization of SARS-CoV-2 Omicron BA.2.75 After mRNA-1273 Vaccination. The New England Journal of Medicine. DOI: 10.1056/NEJMc2210648.
[V] Biontech (12.09.2022): Pfizer und BioNTech erhalten positive CHMP-Empfehlung für Auffrischungsimpfung mit an Omikron BA.4/BA.5-angepassten bivalenten COVID-19-Impfstoff in der Europäischen Union. Pressemitteilung.
Dr. Christine Dahlke
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Sektion Infektiologie, Schwerpunkt Emerging Infections, I. Medizinische Klinik und Poliklinik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Prof. Dr. Christine Falk
Leiterin des Instituts für Transplantationsimmunologie, Medizinische Hochschule Hannover (MHH), und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie sowie derzeit Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung
Dr. Andreas Bergthaler
Institutsleiter, Institut für Hygiene und Angewandte Immunologie, Medizinische Universität Wien, und Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese und antivirale Immunantworten, Forschungsinstitut für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM), Österreich
Prof. Dr. Richard Neher
Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien, Biozentrum, Universität Basel, Schweiz