Vorschlag zur Regulation von Zuchtpflanzen
Neuer Regulierungsvorschlag: alle neuartigen Zuchtpflanzen – ob konventionell oder GVO – sollten umfangreiche Omics-Analyse durchlaufen
Regulation von neuen Zuchtmethoden in der EU bleibt umstritten
Fachleute stimmen Kritik der Autoren zu, halten Vorschlag aber für zu ambitioniert
Im Fachjournal „Science“ ist ein „Policy Forum“ erschienen (siehe Primärquelle), in dem ein Autorenteam um Fred Gould beklagt, dass die prozessbasierten Regularien von neuen Sorten und gentechnisch veränderten Pflanzen nicht länger „fit for purpose“ seien. Die Autoren schlagen eine komplette Überarbeitung der internationalen Regulierungen hin zu einer „Produkt-basierten” Zulassung aller neuer Pflanzensorten vor – also sowohl für klassische Züchtungsverfahren, gentechnisch veränderte Pflanzen, aber neuere Züchtungsverfahren wie das „Genome Editing“ oder „Smart-Breeding“ umfassen sollte, um Akzeptanz auch in der Bevölkerung finden zu können.
Leiter des Instituts Biochemie der Pflanzen, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
„Ich stimme der Kritik der Autor:innen hinsichtlich der zunehmenden unscharfen und objektiv schwerlich zu begründenden Trennung zwischen ‚konventionellen‘ und ‚genetisch veränderten‘ Pflanzen zu. Ebenso folge ich grundsätzlich der Kritik an der aktuellen methodenbasierten Regulierung beziehungsweise Zulassungspraxis.”
„Die Vorschläge zur praktischen Umsetzung einer alternativen eigenschaftsbasierten Zulassung sehe ich jedoch zum Teil sehr kritisch. Für nachvollziehbar halte ich das Argument, dass man basierend auf der Methodik der Erzeugung einer Pflanze keine zuverlässige Einschätzung des möglichen Gefahrenpotentials machen kann. Die genannten Beispiele zeigen, dass ein ‚klassischer genveränderter Organismen‘ potenziell weniger Gefahrenpotential haben kann als eine ‚herkömmliche‘ Züchtung und vice versa.”
„Das grundsätzliche Problem dieses ‚Policy Forum‘-Beitrags ist, dass er zu sehr an der Oberfläche bleibt und in allen kritischen Punkten – welche Kriterien legt man an ‚unterschiedlich‘ an, wie kommt man zu international akzeptierten Standards, welche Beratungs- und Entscheidungsfindungsgremien würden implementiert – auf zukünftige Diskussionen verweist. Dabei gibt es bislang weder aus dem Bereich der konventionellen Züchtung noch aus den neueren Züchtungsverfahren Hinweise auf unbemerkt gebliebene Risiken und Gefahren, welche den gigantischen Regulierungsaufwand, wie er hier vorgeschlagen wird, rechtfertigen würden.“
Auf die Frage, wie praxistauglich der Vorschlag ist, durch OMICs-Technologien die Eigenschaften einer neuen Pflanzensorte mit den Eigenschaften aller bereits kultivierten Sorten einer Frucht zu vergleichen:
„Hier habe ich erhebliche Bedenken. Alle bereits kultivierten Sorten mit den Methoden zu screenen ist unrealistisch, daher wird man sicherlich eine Auswahl treffen müssen. Unklar bleibt, nach welchen Kriterien das geschehen kann? Genomische DNA-Sequenzierung sollte relativ einfach und günstig durchführbar sein, wobei hier Long-Read-Technologien wie von PacBio oder Nanopore zu bevorzugen wären, da diese auch strukturelle Änderungen des Erbguts wie zum Beispiel Inversionen erfassen würden. Das Epigenom zu untersuchen und zu vergleichen ist prinzipiell machbar, aber die Ergebnisse sind wahrscheinlich extrem von den Umweltbedingungen abhängig, in denen die Sorten wachsen. Welche wählt man da sinnvollerweise aus? Dies gilt ebenso für das Transkriptom, auf das viele Faktoren einwirken, wie zum Beispiel die Bedingungen bei der Anzucht oder nicht vorhersagbare Umwelteinflüsse im Feld. Auch post-transkriptionale Modifizierungen der RNA werden bislang nicht routinemäßig gemessen.“
„Auf den nächsten Ebenen (Proteom, Metabolom) wird es zunehmend komplexer, kostenintensiver und unvollständiger. Ein Genom ist vollständig sequenzierbar, ein Transkriptom kann man sehr tief erfassen. Bei Proteinen und Metaboliten wird es stets Lücken geben. Wo soll man hier die Grenzen ziehen, welche Änderungen werden als relevant betrachtet? All diese wichtigen Fragen bleiben in dem Policy Forum offen.“
„Insbesondere auf Ebene der Metabolite und bislang unbekannter post-transkriptionaler und post-translationaler Modifikationen werden sich Lücken auftun. Selbst bekannte Modifikationen (Phosphorylierungen, Glykosylierungen und andere) werden sich nicht routinemäßig in der erforderlichen Breite und Tiefe erfassen lassen.“
„Grundsätzlich sind zudem die Kosten für diese Ansätze nicht so sehr durch die eigentlichen Analysen (Genomsequenzierung kostet etwa 2000 Euro pro Sorte) sondern durch die Aufwände der Downstream-Analysen bestimmt. Diese sind arbeits- und zeitaufwendig und damit kostenintensiv. Es gibt hinsichtlich der Workflows für die Analytik nicht notwendigerweise generell akzeptierte Community-Standards – es müsste hier zunächst eine Standardisierung entwickelt werden. Ebenso müsste man Qualitätsstandards über die beteiligten Labore implementieren und deren Reproduzierbarkeit sicherstellen.“
Auf die Frage, wie realistisch es ist, dass eine solche konsequent produktbasierte Risikobewertung eingeführt wird:
„Ausgehend von dem grundlegenden Argument der Autoren, dass die Trennung zwischen ‚konventionellen‘ und ‚genetisch veränderten‘ Pflanzen zunehmend unscharf werde, würde eine konsequent produktbasierte Risikobewertung nur Sinn machen, wenn man sie unabhängig von der Züchtungsmethodik implementieren würde. De facto würde dies dazu führen, dass eine Vielzahl von kleinen und mittelständigen Züchtungsunternehmen den regulatorischen Aufwand für eine Neuzulassung von Sorten nicht mehr stemmen könnten. Konzentrierungsbewegungen und Verlust von Vielfalt wäre die Konsequenz. Eine konsequent produktbasierte Risikobewertung auf Basis tiefer Omics-Methoden halte ich für unrealistisch. Genomsequenzierung in Kombination mit klassischer Sortenprüfung könnte einen machbaren Weg darstellen.“
Auf die Frage, ob es alternativen Regulationsmethoden von neuen Pflanzensorten gibt, die bereits diskutiert werden oder potenziell eingesetzt werden könnten:
„Der klassische Prozess der Sortenzulassung ist nach meiner Ansicht bewährt und ‚fit for purpose‘. Man könnte diesen unterschiedslos sowohl auf konventionelle als auch neue Züchtungsmethoden anwenden.“
Geschäftsführender Direktor des Botanischen Instituts und Inhaber des Lehrstuhls Molekularbiologie und Biochemie der Pflanzen, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
„Ich stimme mit den Autoren völlig überein, dass die Unterscheidung von ‚konventionellen‘ und ‚genetisch veränderten‘ Pflanzen zunehmend unmöglich und unlogisch wird und man deshalb nur das Endprodukt, also die Pflanze, und nicht den Prozess der Entstehung bewerten sollte.”
„Der Hintergrund für diese wachsende Unschärfe ist, dass es in den vergangenen Jahren es mit Hilfe der molekularen Schere CRISPR/Cas möglich wurde, gerichtet einzelne genomische Veränderungen zu erzeugen, die man nicht länger von natürlichen Mutationen unterschieden kann. Zudem wurden in der konventionellen Landwirtschaft bereits seit 70 Jahren viele Sorten durch ‚Mutagenese‘, das heißt den Einsatz von radioaktiver Strahlung oder Genom-schädigender Chemikalien, erhalten.“
„Die deutsche Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat deshalb vorgeschlagen, alle auch mit CRISPR/Cas erhalten Sorten, wie die schon jetzt durch Mutagenese herstellte Sorten in der EU, von der Regulierung für genetisch veränderte Pflanzen auszunehmen. Dies ist in vielen Länder außerhalb der EU inzwischen auch gängige Praxis. Ich halte diesen Vorschlag für sinnvoller und praktikabler als den Vorschlag von Fred Gould et al.”
„Bei ihrem Vorschlag sehe ich zwei Probleme: Wenn man dieses Modell zu Ende denkt, müssten ja alle neuen Pflanzensorten, egal ob sie aus der klassischen Züchtung kommen oder mittels moderner Technologien verändert wurden, mit den Omics Technologien auf immerhin vier verschiedenen Ebenen (DNA, RNA, Protein und Metabolit) untersucht und verglichen werden. Das halte ich zum jetzigen Zeitpunkt weder für praktikabel – da technisch extrem aufwendig – noch für politisch durchsetzbar.”
„Auch ist die Diskussion zu diesem Thema in der Europäischen Union weit fortgeschritten und beschränkt sich darauf, wie zukünftig genetisch nicht unterscheidbaren CRISPR/Cas-Pflanzen reguliert werden sollten. Zudem würde der von Gould et al. propagierte Ansatz Pflanzensorten mit Fremd-DNA miteinbeziehen. Das ist nach meiner Einschätzung für eine Deregulierung in der Europäischen Union zumindest für die nächste Dekade kein politisch gangbarer Weg.“
Leiterin des Fachgebietes Bewertung gentechnisch veränderter Organismen/Gentechnikgesetz, Bundesamt für Naturschutz, Bonn
„Die Publikation von Gould et al. im ‚policy forum‘ der Zeitschrift ‚Science‘ ist aus Sicht des Bundesamts für Naturschutz (BfN) richtungsweisend, weil sie die Risiken aller Anwendungen der neuen Gentechniken anerkennt. Gleichzeitig sieht das BfN den von den AutorInnen vorschlagenden Regulierungsansatz als wenig ausgereift und nicht geeignet an, das Vorsorgeprinzip für Anwendungen der neuen Gentechnik sicherzustellen.“
„Gould et al. widersprechen in der Fachzeitschrift ‚Science‘ mit anschaulichen und schlüssigen Beispielen den Aussagen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) [1][2][3], der zufolge Genomeditierung und Cisgenese (Übertragung von Genen lediglich zwischen gleichen oder verwandten und miteinander kreuzbaren Arten; Anm. d. Red.) generell ein geringeres Risiko darstellen als Transgenese (Übertragung von Genen zwischen unterschiedlichen Arten; Anm. d. Red.). Diese Aussagen der EFSA sind aber wiederum eine wesentliche Grundlage für die aktuelle Initiative der Europäische Kommission. Diese hatte mit ihrer Studie vom April 2021 zu Neuen Genomischen Techniken (NGT) die aktuelle Gesetzgebung zur Gentechnik als überholungsbedürftig (‚not fit for purpose‘) eingestuft und angekündigt, die Regulierung für bestimmte NGT-Pflanzen anzupassen. Wie Gould et. al hat das BfN immer wieder darauf hingewiesen, dass Größe und Veränderung im Genom keinen direkten Rückschluss auf das potenzielle Risiko einer gentechnisch veränderten Pflanze erlauben [4]. Diese wissenschaftliche Einschätzung steht auch im Einklang mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (C 528/16) [5], der die Risiken von Transgenese und Genomeditierung als vergleichbar ansieht.“
„Im Gegensatz zu den AutorInnen ist aus Sicht des BfN aber das aktuelle europäische Gentechnikrecht mit seiner prozessorientierten Regulierung weiterhin geeignet (‚fit for purpose‘), um die Bandbreite der zu erwartenden Anwendungen der Neuen Gentechnik im Sinne des Vorsorgeprinzips in Bezug auf ihre Risiken für Mensch und Umwelt zu überprüfen. Das geltende Gentechnikrecht wird der Bandbreite der gentechnischen Anwendungen bereits jetzt gerecht und berücksichtigt unterschiedliche Risikoprofile auf Basis einer Einzelfallprüfung. Diese Einzelfallprüfung nimmt sowohl den Prozess als auch das Produkt in den Blick. Die geforderten Informationen und Untersuchungen können daher bereits nach den derzeitigen Rechtsvorschriften je nach Art der betreffenden genetisch veränderten Organismen (GVO), ihrer Verwendung und den Umwelten, in denen die GVO genutzt werden sollen, variieren.“
„Gould et al. schlagen eine produktbasierte Vorprüfung aller Pflanzenlinien vor, die durch Omics-Techniken realisiert werden sollen. Das BfN sieht diesen Vorschlag nicht als geeignet an. Die Omics-Techniken sind ein vielversprechender Ansatz, um die aktuelle Risikobewertung zu unterstützen. Dementsprechend unterstützt das BfN die Weiterentwicklung von Omics-Techniken für die Umweltrisikobewertung bereits durch gezielte Förderung im Rahmen der Ressortforschung [6].”
„Allerdings wäre eine solche Risikobewertung durch Omics-Techniken, wenn technisch möglich, wesentlich komplexer, zeitaufwendiger und teurer als durch Gould et al. dargestellt, da umfangreiche Tests in verschiedenen Umwelten der Sorten notwendig wären, um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen. Der Einsatz von Omics-Techniken ist als alleiniges Werkzeug zudem nicht geeignet, um ein Risiko für GVO per se auszuschließen und ist zusätzlich noch lange nicht als praxistauglich anzusehen.“
„In dem Regulierungsvorschlag von Gould et al. werden zudem Fragen der Koexistenz verschiedener Anbausysteme nicht berücksichtigt. Wahlfreiheit und Koexistenz sind aber eine wesentliche Säule des aktuellen Gentechnikrechts. Die Koexistenz zwischen konventionellen, GVO- und biologischen Anbausystemen ist gesetzlich verankert und muss auch zukünftig sichergestellt sein. (Das Prinzip der Koexistenz bedeutet rechtlich, dass landwirtschaftliche Systeme mit und ohne gentechnisch veränderte Pflanzen auf Dauer nebeneinander (ko-)existieren können. Koexistenz gewährleistet, dass Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln mit und ohne Gentechnik auch langfristig möglich bleibt; Anm.d.Red).“
Direktor, Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Tübingen
Auf die Frage, inwiefern die Kritik der Autor*innen an den derzeit geltenden Regulierungen zur Zulassung neuer Pflanzensorten berechtigt ist – insbesondere der, dass die Trennung zwischen „konventionellen” und „genetisch veränderten” Pflanzen zunehmend unscharf ist:
„Ja - konventionelle Sorten unterscheiden sich fast immer viel stärker voneinander als geneditierte (GE) oder anders genmodifizierte (GM) Sorten von den Ausgangssorten.“
Auf die Frage, wie praxistauglich der Vorschlag ist:
„Er wäre praxistauglich, aber ich halte ihn für nicht besonders aussagekräftig. Das könnte nur dadurch gelöst werden, dass ein erheblicher Teil der angebauten Sorten solchen Omics-Tests unterzogen wird und dann geschaut wird, wie groß die Unterschiede zwischen GM/GE-Sorte relativ zu allen anderen Sorten sind.“
Auf die Frage, ob es Lücken gibt, die sich bei einer solchen modernen Version des Prinzips der „Substanziellen Äquivalenz” auftun:
„Es gilt das Straßenlampenprinzip: Man sieht nur das, was man misst. Beispiel: RNA-Sequenzierungsdaten werden gegen bestehende Genomsequenzen kartiert. Wenn die Sorte neue Sequenzen hat, würde man diese unter Umständen nicht sehen.“
Auf die Frage, wie realistisch es ist, dass eine solche konsequent produktbasierte Risikobewertung eingeführt wird – zum Beispiel in der EU:
„Wenig realistisch, da es das grundsätzliche ‚Whataboutism‘ nicht löst.“
Auf die Frage, ob es alternativen Regulationsmethoden von neuen Pflanzensorten gibt, die bereits diskutiert werden oder potenziell eingesetzt werden könnten:
„Aus Sicht der Forschung wäre es wichtiger, dass Maßstäbe einbezogen werden, was über biologische Mechanismen in Pflanzen bekannt ist. Wird ein Gen verändert, dass sehr gut untersucht ist und von dem man genau weiß, in welche Prozesse es eingreift, sollte das anders behandelt werden, als wenn etwas ganz Neues gemacht wird. In dem Sinne stimme ich zu, dass zum Beispiel die Expression artfremder Gene – wie beim Beispiel BT-Toxin in Mais – stärker überprüft werden sollte als die Expression von Erbanlagen derselben Art – zum Beispiel ein Resistenzgen aus einer wilden Kartoffel, das in eine Kultursorte eingebaut wird – oder durch das Ausschalten von einzelnen Genen.“
Professorin für Völkerrecht und Rechtsethik, Institut für Öffentliches Recht, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
„In der EU unterfallen alle Pflanzen, auch die, die durch moderne Genomeditierungsverfahren erzeugt sind, dem EU-Gentechnikrecht und den darin verankerten Zulassungsverfahren, insbesondere nach der sogenannten Freisetzungsrichtlinie von 1990, nicht nur die, die durch herkömmliche gentechnische Verfahren (also herkömmliche Mutageneseverfahren) erzeugt werden. Das war lange umstritten, ist aber so verbindlich vom Europäischen Gerichtshof, EuGH, 2018 entschieden worden.“
„Vor jeder Zulassung muss eine Risikobeurteilung stattfinden: Gentechnisch veränderte Organismen (GVO) müssen von Fall zu Fall geprüft werden, mit Blick auf schädliche Auswirkungen; zudem gibt es Kennzeichnungs- und Monitoringspflichten; und die Möglichkeit für EU-Staaten GVO-Anbau ganz zu verbieten (derzeit in 18 der 27 Mitgliedstaaten).“
„In der Tat kann man die EuGH-Entscheidung verstehen als eine eher prozessbezogene Interpretation der Definition, was ein genetisch veränderter Organismus (GVO) ist; so ist es in der seit den 1990er geltenden Freisetzungsrichtlinie angelegt, die den Begriff GVO definiert. Allerdings gibt es im EU-Recht eine sogenannte Mutageneseausnahme, wonach die herkömmlichen Mutageneseverfahren aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert werden, da sie bereits 1990 ‚als sicher gelten konnten‘. Das wurde vom EuGH 2018 eng ausgelegt: nur solche Verfahren können als Mutagenese gelten, die ‚seit Langem als sicher gelten‘ und daher auch zutreffend nicht dem Zulassungsverfahren nach der Richtlinie unterfallen müssen.“
„Nach der EuGH-Entscheidung 2018 folgte ein Aufschrei in der Wissenschaft, dass so das ‚alte‘ EU-Gentechnikrecht nicht auf neue Verfahren angewandt werden dürfe, da die neuen Verfahren viel risikoärmer seien; eine Diskussion über Reformen setzte ein.“
„Erst im April 2021 hat sich die EU-Kommission mit einer Studie geäußert, aber selbst keine Reformvorschläge gemacht; ein Vorschlag wird nun erst für 2023 erwartet. Insgesamt geht es im Rahmen der EU-Biotech-Regulierung, bisher darum, dass ‚sichere‘ Techniken nicht streng reguliert werden müssen; andere Technologien, die keine langen ‚safety record‘ haben, aber schon. Das entspricht auch dem sogenannten Vorsorgeprinzip, das in der EU gilt, in anderen Staaten, wie Kanada oder den USA aber nicht gilt; die USA jedenfalls, und das wird oft in der Debatte oft vergessen, haben allerdings grundsätzlich strengere Haftungsregelungen, wenn es zu Personen- oder Umweltschäden durch ein Unternehmensprodukt kommen sollte.“
„Jedenfalls für Pflanzen, die durch sogenannte Cisgene-Verfahren erzeugt werden (also neue Verfahren, bei denen arteigenes Material zwischen Sorten einer Nutzpflanze übertragen wird), sieht die Kommission Reformbedarf, da und wenn genetisch identische Produkte, auch wenn unterschiedlich erzeugt, die gleichen Risiken hätten. Anders sei dies aber gerade bei transgenen Verfahren, bei denen Fremd-DNA eingefügt werde.“
„Die Frage, die sich jede Gesellschaft und jeder Regulierer stellen muss, lautet im Kern: was sind sichere Biotechnologien und wie kann beziehungsweise muss diese Sicherheit nachgewiesen werden? Reicht es aus, dass das Ergebnis der jeweiligen Verfahren ununterscheidbar ist, also Pflanzen, die durch neue Genomeditierungsverfahren erzeugt werden, nicht von Pflanzen zu unterscheiden sind, die auf herkömmliche Verfahren zurückgehen?“
„Gould et al. gehen hier noch einen Schritt weiter in der De-Regulierung und wollen auch diese Differenzierung (Cisgene Verfahren / transgene Verfahren) aufheben; aus ihrer Sicht soll mit Omics-Technologien zunächst geprüft werden, ob eine neue Pflanzenmodifikation, die auch durch biotechnologische Verfahren erzeugt werden kann, einer strengeren Zulassung unterfallen soll oder nicht.“
„Keine Fall-zu-Fall Sicherheitsprüfung soll bereits erfolgen, wenn die Unterschiede zwischen einer neuen zu einer bestehenden Pflanzen Varianten verstanden werden (understood) und keine erwartbaren oder zu erwartenden (no expected) Gesundheits- oder Umweltfolgen haben (Kategorie 2). Es geht den Autor*innen also gerade nicht mehr um unterschiedliche Verfahren und ‚identische‘ Produkte, sondern um eine neue Klassifizierung (Kategorien 1-4) auch nicht völlig identischer Produkte und eine neue Art des Nachweises der Klassifizierung.“
„Unklar bleibt bisher, auf welcher Datenlage genau nachgewiesen werden soll, dass negative Effekte auf Umwelt und Gesundheit nicht ‚erwartbar‘ (no expected health/environmental effects) sind (Kategorie 2) und welche ein Potential für solche Effekte haben (with potential, Kategorie 3), die einem Sicherheitstest unterliegen müssten. Hier scheint von den Autor*innen eine De-Regulierung vorgeschlagen zu werden für alle Kategorie 2 Pflanzen, wobei ihre Klassifizierungsgrundlage und ihre Datengrundlage bisher nicht hinreichend genau definiert ist.“
„Grundsätzlich scheint, anders als die Autor*innen argumentieren, daher ein echter produktbasierter Regulierungsansatz nur gegeben, wenn es wirklich identische Pflanzen-Produkte wären, die entstehen und dies nachweisbar ist.“
„International und interdisziplinär muss darüber diskutiert werden, wie eine effektive und verhältnismäßige Regulierung in diesem Bereich aussehen kann, die alle Staaten umfasst, die die Produkte zulassen und exportieren (wollen), da beispielsweise die USA an wichtige internationale Verträge, wie das Cartagena Protokoll, bisher nicht gebunden sind.“
„Dies sollte auch eine genauere Diskussion darüber beinhalten, aufgrund welcher Datenlage von einer hinreichenden Sicherheit eines Biotech-Produktes ausgegangen werden kann und wie schnell – und adaptiv – auf neue Datenlagen regiert werden kann und muss, wenn doch Sicherheitsrisiken aufscheinen. Wichtig wäre auch genauer zu prüfen, durch welche Technologien diese Fragen besser beantwortet werden können, ob Omics-Analysen ausreichen, und welche Grenzen diese selbst besitzen.“
„Schließlich sollte die internationale Diskussion sich nicht nur auf Zulassungsfragen fokussieren, sondern gleichzeitig Fragen der Haftung mitbeantworten, wenn Zulassungsgrenzen gesenkt werden: Wer Schäden durch die Pflanzen ersetzen muss und kann, die zugelassen werden, wenn diese doch entstehen sollten; und ob Staaten gegebenenfalls eine Ausfallhaftung übernehmen sollten, wenn es dabei Kappungsgrenzen für die Hersteller gibt. Das wäre ein weiterer Anreiz für die Beteiligten, Produkte nicht zuzulassen, die nicht hinreichend sicher sind.“
„Befangenheit besteht nach bestem Wissen und Gewissen nicht. Ich habe mit den Autoren keine wissenschaftlichen, geschäftlichen, oder persönliche Beziehungen. Auch keine finanziellen Interessen meinerseits hinsichtlich Zulassungsprozessen oder Anwendung der genannten Methoden.“
„Patente: zwei, mit BASF. Aus der Industrie eingeworbene Drittmittel: Keine. Beratung für einen Interessenverband: Nein. Vorträge für Institutionen: Nein. Geschäftsanteile an einem Unternehmen: NeinBeratertätigkiet : Meiogenix, Paris.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Gould F et al. (2022): Toward product-based regulation of crops. Science. DOI: 10.1126/science.abo3034.
Weiterführende Recherchequellen
Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina: Grüne Gentechnik – Die rechtliche Regulierung – und die Vorschläge zur Änderung.
Science Media Center (2021): Grüne Gentechnik im Dienst der Ökologie – Welchen Beitrag können gentechnisch veränderte Pflanzen beim Schutz der Umwelt leisten? Press Briefing. Stand: 30.04.2021.
Turnbull C et al. (2021): Global Regulation of Genetically Modified Crops Amid the Gene Edited Crop Boom – A Review. Frontiers in Plant Science. DOI: 10.3389/fpls.2021.630396.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] European Food Safety Authority (2020): Applicability of the EFSA Opinion on site‐directed nucleases type 3 for the safety assessment of plants developed using site‐directed nucleases type 1 and 2 and oligonucleotide‐directed mutagenesis. EFSA Journal. DOI: 10.2903/j.efsa.2020.6299.
[2] European Food Safety Authority (2012): Scientific opinion addressing the safety assessment of plants developed using Zinc Finger Nuclease 3 and other Site-Directed Nucleases with similar function. EFSA Journal. DOI: 10.2903/j.efsa.2012.2943.
[3] European Food Safety Authority (2012): Scientific opinion addressing the safety assessment of plants developed through cisgenesis and intragenesis. EFSA Journal. DOI: 10.2903/j.efsa.2012.2561.
[4] Bundesamt für Naturschutz (2017): Hintergrundpapier zu Neuen Techniken – Neue Verfahren in der Gentechnik: Chancen und Risiken aus Sicht des Naturschutzes. Stand: 12.07.2017.
[5] InfoCuria Rechtsprechung: Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 25. Juli 2018.
[6] Benevenuto RF et al. (2022): Alterations in genetically modified crops assessed by omics studies: Systematic review and meta-analysis. Trends in Food Science and Technology. DOI: 10.1016/j.tifs.2022.01.002.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine (2016): Genetically Engineered Crops: Experiences and Prospects. National Academies Press.
[II] Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Deutsche Forschungsgemeinschaft und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2019): Wege zu einer wissenschaftlich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter Pflanzen in der EU.
Prof. Dr. Andreas Weber
Leiter des Instituts Biochemie der Pflanzen, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Prof. Dr. Holger Puchta
Geschäftsführender Direktor des Botanischen Instituts und Inhaber des Lehrstuhls Molekularbiologie und Biochemie der Pflanzen, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Dr. Margret Engelhard
Leiterin des Fachgebietes Bewertung gentechnisch veränderter Organismen/Gentechnikgesetz, Bundesamt für Naturschutz, Bonn
Prof. Dr. Detlef Weigel
Direktor, Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Tübingen
Prof. Dr. Silja Vöneky
Professorin für Völkerrecht und Rechtsethik, Institut für Öffentliches Recht, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg