Glaube an Verschwörungstheorien nahm im Laufe der Zeit nicht zu
Glaube an Verschwörungstheorien hat laut Studie in den vergangenen Jahren nicht zugenommen
Thema ist aktuell wegen COVID-19-Verschwörungstheorien und QAnon medial sehr präsent
Fachleute: plausibel, Studie hat aber einige methodische Schwächen, was auch an mangelnden Daten liegt
Der Glaube an Verschwörungstheorien hat in den letzten Jahren nicht zugenommen. Zu diesem Schluss kommen die Autorinnen und Autoren einer Studie, die am 20.07.22 im Fachjournal „Plos One“ erschienen ist (siehe Primärquelle).
Professor für Kommunikationsmanagement, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Leipzig
„Auf den ersten Blick stellt die Studie eine einfache, deskriptive Frage: Hat die Zustimmung zu Verschwörungstheorien im Zeitverlauf zugenommen? Einfach zu beantworten ist diese Frage aber aus mehreren Gründen nicht. Das Forschungsfeld, das sich mit Verschwörungsglauben beschäftigt, ist relativ klein. Es fehlen daher umfangreiche, differenzierte Datenbestände, insbesondere Längsschnittdaten. Verschwörungstheorien unterscheiden sich erheblich voneinander, ebenso die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwird. Es entstehen auch immer wieder neue Verschwörungstheorien. Das Konzept der Verschwörungstheorie bleibt dabei oft etwas schillernd. Damit stellt sich die Frage, ob es ‚die‘ Zustimmung zu Verschwörungstheorien (Plural) im Zeitverlauf überhaupt geben kann.“
„Eine Herausforderung der vorliegenden Analyse ist zudem, dass es der zu prüfenden These – es gäbe eine Zunahme der Zustimmung zu Verschwörungstheorien – an einem theoretischen Fundament mangelt. Die Autoren argumentieren, es gäbe in der Öffentlichkeit die Annahme, digitale Medien trügen zu einer Verbreitung von Verschwörungstheorien bei. Ob dies tatsächlich so ist, ist jedoch schwierig zu belegen. Es ist auch nicht klar, dass selbst eine solche größere Verbreitung zu einer höheren Zustimmung zu Verschwörungstheorien führen würde. Frühere Studien zum Glauben an Verschwörungstheorien – auch solche durchgeführt durch Autoren der vorliegenden Studie – zeigen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien mit gewissen Voreinstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen verbunden sind, die eine hohe Stabilität aufweisen.“
„Die Studie stützt sich auf vier Datensätze, die sich zum Teil erheblich unterscheiden. Insbesondere der Datenfundus der US-Studie (Studie 1) ist beachtlich und vermutlich einer der besten zum Gegenstand verfügbaren. Das Argument der Autoren ergibt sich vor allem aus der Konsistenz der Befunde über die vier Erhebungen hinweg. Es ist erfreulich, dass nicht alleine der US-Kontext betrachtet wurde. Es sind dennoch vor allem die US-Daten, die aufschlussreich für die genannte Fragestellung sind.“
„Die vorliegende Studie argumentiert überzeugend, dass – zumindest in den USA – die Zustimmung zu Verschwörungstheorien im Durchschnitt über die letzten Jahre und Jahrzehnte nicht zugenommen hat. Vielmehr durchleben die untersuchten Verschwörungstheorien Konjunkturen – die Zustimmung nimmt mal zu, mal ab. Deutlich wird dabei aber auch, wie heterogen das Konzept der ‚Verschwörungstheorie‘ ist. Die Autoren kategorisieren diese etwa nach ihrem Gegenstand, wie Gesundheit, Außerirdische oder Fehlverhalten von Regierungen. In manchen Fällen liegt die Zustimmung zu den geprüften Aussagen bei über 50 Prozent, in anderen bei unter zehn Prozent.“
„Die Analyse der europäischen Befragungen deutet auch darauf hin, dass Verschwörungstheorien in Abhängigkeit vom kulturellen Kontext sehr unterschiedlich aufgenommen werden. Die Zustimmung zu einzelnen Verschwörungstheorien schwankt zum Teil zwischen ungefähr 10 und 50 Prozent in den untersuchten Ländern.“
„Aufgrund der Schwierigkeit, das Konzept der Verschwörungstheorie zu definieren, der hohen Varianz der Verbreitung einzelner Verschwörungsnarrative, ihrer stark variierenden öffentlichen Aufmerksamkeit, diversen kulturellen Kontexten und so weiter erscheint Studie 4 besonders relevant. Sie untersucht die Verbreitung konspirativen Denkens in den USA über etwa zehn Jahre hinweg und findet eine hohe Stabilität im Durchschnitt. Auch dies deutet darauf hin, dass es wichtig ist, zu verstehen, warum Individuen zu konspirativem Denken neigen, und daher mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einzelne oder mehrere Verschwörungstheorien glauben. Der bisherige Forschungsstand spricht hier eher für eine Stabilität zugrundeliegender Eigenschaften.“
„Es mag plausibel sein, dass Verschwörungstheorien im digitalen Zeitalter stärker und schneller verbreitet werden. Das ist möglicherweise eine Ursache dafür, dass der öffentliche Diskurs sich intensiv mit diesen Ideen befasst. Dies allein bedeutet aber nicht, dass tatsächlich im Zeitverlauf immer mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben oder auch nur anfällig für diese sind. Da die Ausgangsthese theoretisch und empirisch schwach fundiert ist, fechten die Autoren der vorliegenden Studie etwas gegen Strohmänner. Man mag die Studie hier und da kritisieren, etwa die Operationalisierung der Zustimmung zu Verschwörungstheorien – zu- oder abnehmende Tendenz bei einer ‚Mehrheit‘ der geprüften Verschwörungstheorien – oder den kurzen Zeitraum der europäischen Erhebung, aber das Ergebnis bleibt dennoch völlig plausibel. Es wäre vielmehr an den Vertretern der Gegenthese, theoretische und empirische Argumente für eine Zunahme des Verschwörungsglauben zu präsentieren.“
„Der öffentliche Diskurs zu Verschwörungstheorien im Netz hat damit eine Parallele zum ‚Fake News‘-Diskurs: Es wird überschätzt, wie weit diese verbreitet sind, und es wird deutlich überschätzt, wie leicht sich Menschen durch Inhalte im Internet beeinflussen lassen.“
Akademischer Rat am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Mannheim
„Die vorgelegte Studie versucht zu ermitteln, inwiefern der Glaube an Verschwörungstheorien in westlichen Ländern im Zeitverlauf zugenommen hat. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Hinweise auf ein Erodieren westlicher Demokratien in den vergangenen Jahren – etwa die Trump-Wahl, der Brexit und die Querdenker-Bewegung – ist dies eine hoch relevante Fragestellung.“
„Die Autor:innen kommen zu dem Schluss, dass sich kaum Anhaltspunkte für eine gewachsene Zustimmung zu Verschwörungsvorstellungen finden lassen. Dieses Ergebnis erscheint mir plausibel – und wirft die Frage auf, welche anderen Ursachen es womöglich für die oben beschriebene Häufung von Anzeichen demokratischer Entfremdung geben könnte.“
„Gleichzeitig will ich jedoch darauf hinweisen, dass ich die Aussagekraft der konkreten, vorgelegten Studie dennoch für methodisch eingeschränkt halte. Der Aufsatz besteht aus vier Teilstudien. Zwei davon (Studien 3 und 4) untersuchen tatsächlich über einen längeren Zeitraum (2012 bis 2020), ob innerhalb der US-Bevölkerung der generelle Glaube an Verschwörungsmuster beziehungsweise verschwörerische Tätigkeiten einzelner gesellschaftlicher Akteure zugenommen hat. Dies scheint nicht der Fall zu sein und das stellt aus meiner Sicht einen validen und in gewisser Weise beruhigenden Befund dar. Valide erscheint mir der Befund vor allem, da hier viermal über einen längeren Zeitraum mit der gleichen Formulierung gearbeitet wurde.“
„Dies ist in den anderen beiden Teilstudien nicht der Fall. In Studie 2 werden Antworten europäischer Teilnehmer:innen lediglich aus den Jahren 2016 und 2018 verglichen. In einem solch verhältnismäßig kurzen Zeitraum wäre jedoch ein deutlicher Anstieg des Verschwörungsglaubens kaum zu erwarten gewesen. Die Forschungsfrage, die die Studie bearbeiten will, erfordert aus meiner Sicht den Blick auf einen deutlich längeren Zeithorizont.“
„In Studie 1 wird dies punktuell versucht, allerdings in methodisch unzureichender Weise – was vor allem damit zu tun hat, dass keine besseren Daten verfügbar sind. Die Autor:innen tragen aus einer Vielzahl US-amerikanischer Bevölkerungsbefragungen die Zustimmung zu einzelnen verschwörungstheoretischen Aussagen zusammen, die wenigstens zweimal in den letzten Jahrzenten abgefragt wurden. Dabei finden sie in den allermeisten Fällen nur geringe Veränderungen der Zustimmung. Es fällt jedoch auf, dass sehr viele dieser Vergleiche ebenfalls nur auf kurzen zeitlichen Intervallen beruhen. Nur in wenigen Fällen können die Autor:innen tatsächlich Zustimmungsunterschiede zu einzelnen Verschwörungsnarrativen über mehrere Jahrzehnte hinweg vergleichen – zum Beispiel zwischen 1981 und 2021. In diesen Fällen finden sich dann häufig stärkere Zu- oder Abnahmen, was jedoch vor allem daran liegen dürfte, dass es sich um konkrete Narrative handelt – beispielsweise, dass die Ermordung Kennedys oder Martin Luther Kings Teil einer größeren Verschwörung gewesen sei. Solche Narrative haben zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten stärkere oder schwächere Konjunktur in gesellschaftlichen Diskursen, weshalb Schwankungen hier nicht weiter verwunderlich sind – zumal, wenn jeweils nur zwei weit auseinanderliegende Messzeitpunkte verglichen werden.“
„Um tatsächlich langfristige Trends beobachten zu können, müssten hingegen wie in Studie 3 und 4 die gleichen, bestenfalls etwas allgemeiner gehaltenen und damit zeitlosen Abfragen über einen längeren Zeitraum immer wieder vorgelegt werden – am besten mehrere Jahrzehnte überspannend. Nur dadurch ließe sich ein langfristiger Trend ermitteln. Dies lässt sich auf der Datengrundlage der vorgelegten Studie eigentlich nur für den Zeitraum von 2012 bis 2020 behaupten – und nur für die US-Bevölkerung. In diesem Zeitraum und für dieses Land sieht es tatsächlich so aus, dass der Verschwörungsglaube in der Bevölkerung nicht zugenommen hat. Schlussfolgerungen, die über diesen Zeitraum hinausgehen oder den Anspruch haben, die Befunde auf europäische Länder zu übertragen, erscheinen mir aufgrund der wackeligen Datenbasis – für die die Autor:innen natürlich nichts können – eher unzulässig.“
„Dennoch lädt die Studie dazu ein, darüber zu spekulieren, welche Ursachen die offenbar in Teilen der westlichen Bevölkerung wachsende demokratische Entfremdung haben könnte, wenn der Verschwörungsglaube allgemein nicht zugenommen haben sollte. Dies tun die Autor:innen auch in ihrem Fazit und werfen dabei einige wichtige Punkte auf. So lässt sich mit Recht unterstellen, dass digitale Kommunikationsumgebungen wie Social-Media-Plattformen zu einer gestiegenen Sichtbarkeit von Verschwörungsnarrativen und anderen populistischen Argumenten beigetragen haben. Dadurch animieren sie in der Folge stärker zur politischen Partizipation – also beispielsweise zum Besuch von Demonstrationen –, auch wenn insgesamt dadurch nicht mehr Menschen an die entsprechenden Narrative glauben als noch vor zehn Jahren.“
„In der Folge scheint diesem Phänomen auch in der gesellschaftlichen und politischen Debatte mehr Aufmerksamkeit zuzukommen. Das aber durchaus mit Recht, da ja tatsächlich eine verstärkte politische Aktivität von sozialen Bewegungen, die Verschwörungstheorien offensiv vertreten, festzustellen ist. Auf der Basis des Befunds, der Glaube an Verschwörungstheorien habe nicht wirklich zugenommen – so dieser denn überhaupt belastbar ist –, zu fordern, Journalismus und Politik mögen diesem Phänomen weniger Aufmerksamkeit schenken als derzeit, scheint mir daher nicht unbedingt gerechtfertigt.“
Kommunikationswissenschaftlerin und Medienpsychologin, Institut für Kommunikationswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
„Die Studie befasst sich mit einer spannenden Fragestellung, die viele Menschen derzeit bewegt: Hat der Glaube an Verschwörungstheorien – oder Verschwörungserzählungen, wie sie im deutschsprachigen Raum auch manchmal genannt werden – zugenommen? Leben wir in einer Zeit ‚nach der Wahrheit‘ (‚Post-Truth‘), in der Verschwörungstheorien aufblühen? Die Autor:innen beantworten diese Frage ziemlich eindeutig mit nein.“
„Die genannte Definition von Verschwörungstheorien ist dabei breit – darunter fallen aus Sicht der Autor:innen alle Erklärungen von Ereignissen durch das geheime Handeln weniger mächtiger Personen gegen das Gemeinwohl, die nicht als ‚wahrscheinlich wahr‘ durch die ‚angemessenen epistemologischen Organe‘ und auf Basis öffentlicher Evidenz bewertet werden. Verschiedene Autor:innen haben darauf hingewiesen, dass eine solche Definition nicht ausreichend berücksichtigt, dass mächtige Personen natürlich manchmal gegen das Gemeinwohl handeln – man denke nur an Watergate [1] – und dass, vor allem in autoritären Staaten, die ‚öffentliche Evidenz‘ deutlich eingeschränkt sein kann. Stattdessen wird etwa empfohlen, zusätzlich zu berücksichtigen, dass ungerechtfertigte oder demokratisch problematische Verschwörungstheorien oft weitere Eigenschaften haben. Sie sind nicht widerlegbar, gehen von einer unrealistischen Macht der Verschwörer:innen aus und postulieren einen apokalyptischen Kampf zwischen den ‚Guten‘ und den unkorrigierbaren ‚Bösen‘ [2]. Hier wäre eine etwas differenziertere Auseinandersetzung mit den eigenen verwendeten Begriffen wünschenswert.“
„Der methodische Ansatz der Studie ist interessant. Die Autor:innen vergleichen den selbstberichteten Glauben an verschiedene Verschwörungstheorien, indem sie eine Vielzahl von Befragungsdaten aus verschiedenen Ländern und Zeiten vergleichen. Die Studie kann daher einen Einblick in die generelle Verteilung des (Un-)Glaubens an Verschwörungstheorien über Zeiten und Kontexte hinweg geben. Dabei zeigt sich, dass alle möglichen Verschwörungstheorien heutzutage nicht viel populärer sind, als das früher der Fall war.“
„Bei den Datensätzen, die analysiert wurden, werden nicht immer die gleichen Menschen befragt – die Studie kann also nichts darüber aussagen, ob sich bei einzelnen Personen der Verschwörungsglaube im Zeitverlauf verändert, ob er wächst oder fällt. Auch lässt sich daraus nicht ableiten, wie Medien- und Medieninhalte auf diesen individuellen Glauben wirken. Hierfür sind jeweils andere methodische Zugänge notwendig – zum Beispiel Panel-Studien, bei denen immer die gleichen Personen befragt werden oder sozialwissenschaftliche Experimente.“
„Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass Personen zwar 2022 eher an Verschwörungstheorien glauben als 2010, aber weniger Personen offen dazu stehen. Allerdings zeigen auch die berücksichtigten Online-Befragungen, bei denen die Befragten anonym bleiben, keine massive Zunahme des Verschwörungsglaubens, daher argumentieren die Autor:innen überzeugend, dass es unwahrscheinlich sei, dass der reine Unwille, sich ehrlich zu äußern, die Ergebnisse erklären kann.“
„Viel mehr scheinen die Daten zu zeigen, dass sich die Inhalte ändern, an die Verschwörungsgläubige glauben, nicht aber der Anteil der Verschwörungsgläubigen an der Gesamtbevölkerung. Alte Theorien über Ereignisse, die lange zurückliegen, scheinen irgendwann an Popularität zu verlieren, neue Theorien kommen hinzu. Das ist erst einmal nicht verwunderlich: Wer schon 1600 an Mikrochips durch Impfungen glauben wollte, hätte erst einmal glauben müssen, dass es Mikrochips überhaupt gibt. Und wer denkt heute noch an die Verschwörungstheorien über die Brunnenvergiftungen zu Zeiten der Pest? Die Ergebnisse laden also dazu ein, sich nuancierter mit dem Phänomen zu beschäftigen.“
„Auch andere Studien berichten, dass der Anteil an Verschwörungsgläubigen in der Gesamtbevölkerung relativ stabil bleibt. Für Deutschland zeigt sich das etwa im COSMO-Monitoring [3].“
„Allerdings heißt das nicht, dass individuelle Personen immer gleichermaßen an unterschiedliche Verschwörungstheorien glauben. Zwar gehen Wissenschaftler:innen davon aus, dass es Personen mit einem mehr oder weniger starken Hang zum Glauben an unterschiedliche Verschwörungstheorien gibt – die sogenannte Verschwörungsmentalität. Allerdings zeigen eben auch die Ergebnisse der Autor:innen, dass sich der Glaube an spezifische Verschwörungstheorien im Zeitverlauf ändern kann. Auch gibt es Studien, die zeigen, dass der Konsum von Verschwörungstheorien negative Folgen haben kann, etwa indem das Vertrauen in demokratische Institutionen negativ beeinflusst wird [4].“
„Studien zeigen zudem, dass Personen, die an Verschwörungstheorien glauben, weniger bereit sind, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen und stattdessen eher abweichende Partizipationsformen inklusive Gewalt befürworten [5] – das ist also durchaus etwas, das man ernst nehmen darf.“
Auf die Frage, inwiefern die hohe mediale Aufmerksamkeit dem Thema Verschwörungstheorien gegenüber gerechtfertigt ist und ob anders oder weniger darüber berichtet werden sollte:
„Um zu verstehen, welche Rolle etablierte Medien für Verschwörungstheorien spielen, muss man sich verdeutlichen, dass etablierte Medien – trotz allem – immer noch eine enorme Reichweite genießen. Gerade für Themen, die nicht besonders viele Personen interessieren, ist es für einen Blog, der Verschwörungstheorien verbreitet, schwer, die gleiche Reichweite zu erreichen wie beispielsweise eine nationale Zeitung. Unsere eigene Studie zur COVID-19 Berichterstattung zeigte aber, dass Verschwörungsideologen teilweise mehr Berichterstattung bekamen als die damalige politische Opposition [6]. Hier kann man sich also durchaus fragen, über wen berichtet wird.“
„Das gilt insbesondere dann, wenn eben nicht legitime Theorien über das schadenswillige Handeln von mächtigen Personen berichtet werden – Medien haben ja auch eine Watchdog-Funktion –, sondern problematische Verschwörungsmythen beispielsweise antisemitischer Art verbreitet werden.“
„Gleichzeitig haben Medien aber auch eine Informationsfunktion – wo sonst soll man sich versichern können, dass doch keine blauen Aliens gelandet sind und böswillig dafür gesorgt haben, dass die eigene Lieblingsserie nach nur zwei Staffeln eingestellt wurde?“
Auf die Frage, ob es Teile der aktuellen Debatte um Desinformation und Polarisierung gibt, in denen sich die öffentliche Meinung vom wissenschaftlichen Konsens unterscheidet:
„Einen großen Unterschied sehe ich bei der Popularität der ‚Filterblasen‘-Hypothese. Diese postuliert, dass wir alle in unseren eigenen digitalen Blasen leben, in denen wir nur Inhalte gezeigt bekommen, die unsere Meinung unterstützen. Die Forschung zeigt aber: So ist das für die meisten Menschen nicht und gerade im Netz stoßen wir oft auf Inhalte, die nicht unserer Meinung entsprechen [7].“
Auf die Frage, wie sich die Weiterverbreitung und Wahrnehmung von Verschwörungstheorien durch das Internet und soziale Medien verändert hat:
„Online-Medien erleichtern den Zugang zu digitalisierten Öffentlichkeiten, virtuellen Gruppen und individuellen Smartphone-Nutzenden. Inhalte lassen sich leichter jenseits von zeitlichen und geografischen Einschränkungen verbreiten und die editorielle Kontrolle ist sehr viel geringer als das noch bei gedruckten Zeitungen der Fall war. Davon profitieren Katzenvideos und kreative Künstlerinnen aus weit entfernten Kontexten, aber eben auch Verschwörungstheorien. Die aktuelle Studie zeigt aber auch: Das heißt noch lange nicht, dass inzwischen massiv mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben, als das früher der Fall war. Einen Grund zur Panik scheint es also nicht zu geben.“
„Besonders wichtig finde ich in diesem Zusammenhang den Hinweis, dass Verschwörungstheorien auch auf einen ‚fruchtbaren Boden‘ fallen müssen. Die spannende Frage lautet also: Was macht Verschwörungstheorien für wen, wann und warum attraktiv und glaubhaft? Und nicht so sehr, ob Verschwörungstheorien auch bei Tiktok zu finden sind.“
„Einen Interessenkonflikt gibt es nicht.“
„Ich melde keine Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Uscinski J et al. (2022): Have beliefs in conspiracy theories increased over time? Plos One. DOI: 10.1371/journal.pone.0270429.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Keeley BL (1999): Of conspiracy theories. The Journal of Philosophy. DOI: 10.2307/2564659.
[2] Baden C et al. (2021): Blinded by the lies? Toward an integrated definition of conspiracy theories. Communication Theory. DOI: 10.1093/ct/qtaa023.
[3] Universität Erfurt: COSMO – COVID-19 Snapshot Monitoring.
[4] Pummerer L et al. (2021): Conspiracy theories and their societal effects during the COVID-19 pandemic. Social Psychological and Personality Science. DOI: 10.1177/19485506211000217.
[5] Imhoff R et al. (2020): Resolving the Puzzle of Conspiracy Worldview and Political Activism: Belief in Secret Plots Decreases Normative but Increases Nonnormative Political Engagement. Social Psychological and Personality Science. DOI: 10.1177/1948550619896491.
[6] Quandt T et al. (2021): Stooges of the system or holistic observers? In: Aelst PV et al.: Political Communication in the Time of Coronavirus. DOI: 10.4324/9781003170051.
[7] Bruns A (2019): Are filter bubbles real? Polity.
Prof. Dr. Christian Hoffmann
Professor für Kommunikationsmanagement, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Leipzig
Dr. Philipp Müller
Akademischer Rat am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Mannheim
Dr. Lena Frischlich
Kommunikationswissenschaftlerin und Medienpsychologin, Institut für Kommunikationswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster