Langfristige Wirkung von Antidepressiva auf die Lebensqualität
Menschen mit einer Diagnose einer depressiven Störung, die Antidepressiva einnehmen, entwickeln über einen Zeitraum von zwei Jahren keine erhöhte Lebensqualität verglichen mit depressiven Menschen, die keine Antidepressiva einnehmen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die Gesundheitsdaten von über 17 Millionen Patienten und Patientinnen aus den USA auswertete und am 20.04.2022 in „PLOS One“ erschienen ist (siehe Primärquelle). Es handelt sich um eine Beobachtungsstudie, die Daten aus dem „Medical Expenditures Panel Survey“ nutzt – einer nationalen, repräsentativen Gesundheitsbefragung aus den USA, welche die gesamte Bevölkerung repräsentieren soll. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität wurde über einen Fragebogen aus zwölf Fragen erhoben. Informationen darüber, ob die Patienten und Patientinnen eine Psychotherapie oder andere nicht-pharmazeutische Behandlung erhalten haben, sind in der Auswertung nicht enthalten. Auch die Schwere der Depression der Probanden ist nicht bekannt. Die beiden Gruppen – mit und ohne Antidepressiva – wurden nicht kontrolliert zusammengestellt und unterscheiden sich leicht in mehreren Faktoren, etwa Ethnizität, Einkommen oder Versichertenstatus. Wie in allen retrospektiven Beobachtungsstudien ist es darum nicht möglich, einen kausalen Zusammenhang zwischen den beobachteten Größen herzustellen, in diesem Fall der Einnahme der Antidepressiva und der Lebensqualität.
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, und Professor an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Technischen Universität Dresden
„Präsentiert wird eine Zweitauswertung einer großen Bevölkerungsbefragung in den USA, die primär zur Abschätzung von Gesundheitskosten durchgeführt wurde. Interessanterweise besteht das Autorenteam nur aus einer Wissenschaftlerin aus den USA und ferner fünf Forschern aus Saudi-Arabien. Die Autoren begründen ihre Analyse sehr stark mit den hohen Kosten, die Depressionen für die Gesellschaft verursachen. Da die Studie aber die gesundheitsbezogene Lebensqualität untersucht, hätte vielleicht erwartet werden können, dass die Autoren das subjektive Leid und die subjektiven Einschränkungen depressiver Menschen, am allgemeinen Leben zu partizipieren, als zentrale Motivation für ihre Studie präsentieren.“
„Über 17 Millionen Erwachsene mit einer Depressionsdiagnose wurden über zwei Jahre wiederholt untersucht. Wie in praktisch allen Erhebungen zur Depression werden Frauen doppelt so häufig als depressiv diagnostiziert wie Männer. Als Hauptergebnis präsentieren die Autoren, dass die gut 57 Prozent der Studienteilnehmer, die Antidepressiva erhielten, keine stärkere Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erzielten, als die knapp 43 Prozent, die keine solche Medikation einnahmen.“
„Tatsächlich kann man die Ergebnisse auch etwas anders lesen: Die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Studienteilnehmer blieb von der Baseline- zur Follow-up-Untersuchung erstaunlich konstant – ganz unabhängig davon, ob Antidepressiva eingenommen wurden oder nicht. Die für die gesundheitsbezogenen Lebensqualität verwendete Skala SF-12 – eine etablierte und geeignete Skala – reicht theoretisch von 0 bis 100 (100 steht für perfekte Lebensqualität). Zwischen Baseline und Follow-up fanden sich in beiden Gruppen – mit oder ohne Antidepressiva – vernachlässigbare Veränderungen zwischen -0,65 und +1,18. Dies weist darauf hin, dass sich unter realen Lebens- und Behandlungsbedingungen keine nennenswerten Veränderungen der gesundheitsbezogenen Einschränkungen der Lebensqualität ergeben. Dies gilt offensichtlich auch für den Einfluss von Antidepressiva. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass die Lebensqualität durch die Nebenwirkungen von Antidepressiva auch negativ beeinflusst werden kann – zum Beispiel durch starke Müdigkeit tagsüber oder durch sexuelle Beeinträchtigungen.“
„Präsentiert wird eine Längsschnittuntersuchung einer Bevölkerungsstichprobe. Die Entscheidung, welche Teilnehmer ein Antidepressivum erhielten und welche nicht, ist damit nicht durch Zufall bedingt, sondern wird durch relevante Unterschiede in den beiden Gruppen bedingt sein – etwa Zugang zum Gesundheitswesen, Krankenversicherungsstatus, Schwere der Depression, Bildung, Einstellung zu Medikamenten und vieles anderes. Damit ist es aus methodischen Gründen nicht möglich, das fehlende bessere Abschneiden der Antidepressiva-Gruppe kausal auf die Einnahme der Medikation zurückzuführen. Dennoch hat die Studie einen hohen Wert, da sie im Unterschied zu den nur auf wenige Wochen angelegten randomisierten Studien einen Verlauf von zwei Jahren beobachtete und da sie ein realistisches Abbild der tatsächlichen Behandlungssituation gibt. Die Behandlungsumstände in einer randomisierten Studie – mit zufälliger Zuteilung der Studienteilnehmer auf Antidepressivum oder Placebo – sind unter vielen Aspekten artifiziell.“
„In den randomisierten Antidepressiva-Studien findet sich im Vergleich zu Placebo in der Gesamtschau lediglich ein kleiner Effekt auf die depressive Symptomatik (Effektstärke: 0,3) [1] und ein inkonstanter oder allenfalls in den ersten zwei bis drei Monaten vorhandener Effekt auf die Lebensqualität [2]. Die aktuell vorgelegte Studie unterstützt damit die Erkenntnisse aus randomisierten Studien. Wenn die Ergebnisse von randomisierten Studien und von populationsbezogenen Studien – wie der vorgelegten – zum gleichen Ergebnis kommen, kann mit hoher Sicherheit angenommen werden, dass das Ergebnis die tatsächliche Situation beschreibt.“
„Die untersuchte Population dürfte nicht repräsentativ für die gesamten USA sein, da sie zu 89 Prozent weiß, zu 63 Prozent wohlhabend – mittleres oder hohes Einkommen – und zu 64 Prozent privat versichert war. Durch diese Ungleichheit könnte aber die Übertragung auf Deutschland sogar besser sein, wo zum Beispiel ein weitgehend vollständiger Krankenversicherungsschutz gegeben ist.“
„Auch wenn es kein direktes Ergebnis ihrer Studie ist, weisen die Autoren am Ende ihrer Publikation zurecht darauf hin, dass Ärztinnen und Ärzte eine stärkere Zurückhaltung bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen zeigen sollten, nicht nur wegen des fehlenden Effekts auf die Lebensqualität, sondern da sich die Befunde mehren, dass die Verordnung von Antidepressiva langfristig zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufes mit Chronifizierung und häufigeren Rückfällen der Depression und in der Folge der Notwendigkeit einer Dauerverschreibung von Antidepressiva führt. Die Autoren fordern, dass andere Behandlungsmöglichkeiten wie Psychotherapie, Hilfe zur Selbsthilfe, Aufklärung, Tagesstrukturierung und soziale Unterstützung vor der Verordnung von Antidepressiva eingesetzt werden sollten. Dem muss zugestimmt werden.“
Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP), Universität Greifswald
„In dem vorliegenden Paper wird eine sekundäre Analyse einer großen Bevölkerungsbefragung aus den USA beschrieben, wobei der Effekt von Antidepressiva auf die Gesundheitskosten untersucht wird. Derartige Analysen sind grundsätzlich sehr zu begrüßen, da die Depressionen für die Gesellschaft nachweislich hohe Gesundheitskosten verursachen. Das Hauptergebnis weist darauf hin, dass die Studienteilnehmer:innen, die Antidepressiva erhielten (57 Prozent), keine größere Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erzielten als die Betroffenen, die keine Medikation einnahmen (43 Prozent).“
„Ich sehe bei der Studie sowohl Stärken – vor allem praxisorientierte Forschung in der Routine und hohe externale Validität – als auch Limitationen – vor allem Nicht-Berücksichtigung der verschiedenen Verlaufsformen der Depression (persistierend oder episodisch) sowie der Behandlungsvorgeschichte (Therapieresistenz). Als Psychotherapieforscherin möchte ich mich an dieser Stelle auf eine Hauptlimitation fokussieren: Bei den über 17 Millionen Erwachsene mit einer Depressionsdiagnose, welche über zwei Jahre wiederholt untersucht wurden, wurde nicht erfragt, ob die Betroffenen während dieser Zeit eine Psychotherapie durchgeführt haben. Da mittlerweile sämtliche nationale und internationale Leitlinien für die Behandlung der Depression die Psychotherapie als Methode der ersten Wahl empfehlen – bei schweren Formen und chronischen Verläufen in Kombination mit Antidepressiva – erscheint mir diese Nicht-Berücksichtigung sowohl aus wissenschaftlicher als auch konzeptioneller Sicht gravierend.“
„Wissenschaftlich hätte kontrolliert werden müssen, ob die Teilnehmer:innen eine Psychotherapie zusätzlich zu der Antidepressiva-Einnahme oder als Monotherapie durchführen. Psychotherapie ist in der Behandlung der Depression nachweislich wirksam, was zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien, welche in Meta-Analysen zusammengefasst werden, belegen [3]. Ihre Effektstärke ist mit medikamentösen Behandlungen mindestens vergleichbar und entsprechend hat sie als evidenzbasierte Behandlungsempfehlung der ersten Wahl bei der Depression Einzug in nationale und internationale Leitlinien gehalten. Zudem weisen Studien deutlich auch auf die Wirksamkeit der Psychotherapie bezogen auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität hin [4], welche mit der von Antidepressiva mindestens vergleichbar ist, wobei die Kombination noch wirksamer zu sein scheint [2].“
„Bezüglich der Konzeption des Studiendesigns hätte beachtet werden müssen, dass ein beträchtlicher Anteil der Teilnehmer:innen aus beiden Gruppen eine Psychotherapie absolviert, da auch in den USA die Durchführung einer Psychotherapie als Mono- oder Kombinationstherapie verbreitet ist.“
„Die nicht Berücksichtigung der Psychotherapie ist somit ein entscheidender (weiterer) methodischer Grund, der es unmöglich macht, das fehlende bessere Abschneiden der Antidepressiva-Gruppe kausal auf die Einnahme der Medikation zurückzuführen.“
„Keine; keine finanziellen Beziehungen zur pharmazeutischen Industrie.“
„Keine; keine finanziellen Beziehungen zur pharmazeutischen Industrie.“
Primärquelle
Almohammed OA et al. (2022): Antidepressants and health-related quality of life (HRQoL) for patients with depression: Analysis of the medical expenditure panel survey from the United States. PLOS One. DOI: 10.1371/journal.pone.0265928.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Centre (2022): expert reaction to study looking at antidepressants and health-related quality of life. roundups for journalists. Stand: 20.04.2022
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Cipriani A et al. (2018): Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(17)32802-7.
[2] Kamenov K et al. (2017): The efficacy of psychotherapy, pharmacotherapy and their combination on functioning and quality of life in depression: a meta-analysis. Psychological Medicine. DOI: 10.1017/S0033291716002774.
[3] Cuijpers P et al. (2021): The effects of psychotherapies for depression on response, remission, reliable change, and deterioration: A meta-analysis. Acta Psychiatrica Scandinavica. DOI: 10.1111/acps.13335.
[4] Kolovos S et al. (2016): Effect of psychotherapy for depression on quality of life: meta-analysis. The British Journal of Psychiatry. DOI: 10.1192/bjp.bp.115.175059.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Cipriani A et al. (2018): Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(17)32802-7.
[II] Science Media Center (2018): Meta-Analyse bewertet Antidepressiva: sie sind wirksam & verträglich. Research in Context. Stand: 22.02.2018.
[III] Kamenov K et al. (2017): The efficacy of psychotherapy, pharmacotherapy and their combination on functioning and quality of life in depression: a meta-analysis. Psychological Medicine. DOI: 10.1017/S0033291716002774.
[IV] Rief W et al. (2009): Meta-analysis of the placebo response in antidepressant trials. Journal of Affective Disorders. DOI: 10.1016/j.jad.2009.01.029.
Prof. Dr. Tom Bschor
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, und Professor an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Technischen Universität Dresden
Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier
Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP), Universität Greifswald