Umfrage: Anfeindungen gegen Fachleute in der Pandemie
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich öffentlich äußern, werden immer wieder bedroht oder beleidigt – insbesondere in den sozialen Medien. Aus anekdotischen Berichten ergibt sich der Eindruck, dass dieses Problem durch die COVID-19-Pandemie noch zugenommen hat. Eine internationale, nicht repräsentative Umfrage unter Forschenden, die sich im Zuge der Pandemie öffentlich geäußert haben, hat jetzt ergeben, dass 22 Prozent der Befragten Androhungen von Gewalt erfahren haben, 15 Prozent sogar Morddrohungen.
Leiter des Kompetenzzentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (CHESS), Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ), Universität Zürich, Schweiz
„Grundsätzlich muss man in Rechnung stellen, dass die publizierte Studie nicht in allen Punkten höchsten wissenschaftlichen Standards genügt. Beispielsweise ist die Auswahl der befragten Expertinnen und Experten dafür nicht systematisch genug, die Stichprobe ist vergleichsweise klein, die Grundgesamtheit bleibt etwas unbestimmt. Damit liefert die Studie eher empirische Indizien zu einer Situation, zu der es bereits eine große Zahl von anekdotischen Befunden gibt. Diese Befunde sind teils besorgniserregend und machen unter anderem den dringenden Forschungsbedarf zu diesem Thema deutlich.“
„Was die Befunde selbst angeht: Es wird deutlich, dass ein beträchtlicher Teil von Forscherinnen und Forschern, die während der COVID-19-Pandemie öffentlich auftraten, beleidigt, beschimpft oder gar bedroht wurden. Das ist schon für sich genommen ein unerträglicher Zustand, schließlich werden viele der Kolleginnen und Kollegen damit zu kämpfen haben.“
„Diese Situation hat aber vermutlich auch Folgen für die weitere Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft: Wir wissen schon länger und aus unterschiedlichen Ländern, dass viele Forschende es grundsätzlich wichtig finden, sich öffentlich zu äußern und ihre Befunde und Expertise in gesellschaftliche Debatten einzubringen. Aber wir sehen auch, dass viel weniger Forschende das tatsächlich auch tun. Es gibt also eine Kluft zwischen der Bereitschaft und dem Handeln. Diese Kluft hat verschiedene Ursachen. Da spielen zum Beispiel auch die Reaktionen der wissenschaftlichen Peers (Forschende aus dem gleichen Fachbereich; Anm. d. Red.) und die Anreizstrukturen im Wissenschaftssystem eine Rolle, die Kommunikation in die Gesellschaft hinein teils nicht ausreichend fördern.“
„Aber die Kluft hat auch mit der Angst von Forschenden vor genau den Rückmeldungen zu tun, die in ‚Nature‘ gerade beschrieben werden: Viele wollen sich diesen Beschimpfungen nicht aussetzen. Und viele fühlen sich auch – in vielen Fällen zu Recht – in solchen Situationen allein gelassen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten sich öffentlich äußern. Das erwartet auch die Mehrheit der Bevölkerung von ihnen, wie unsere Wissenschaftsbarometer-Studien in der Schweiz zeigen [1]. Und wenn sie es tun, dann müssen sie unterstützt werden: emotional, sozial, notfalls sogar juristisch. In diesen Bereichen müssen scientific communities, wissenschaftliche Forschungseinrichtungen, aber auch Hochschulen noch besser werden.“
Lehrstuhlinhaberin für Germanistische Sprachwissenschaft, Institut für Deutsche Philologie, Universität Greifswald
„Die Ergebnisse dieser eher informellen (nicht repräsentativen) Umfrage überraschen mich überhaupt nicht. Bereits vor der COVID-19-Pandemie gab es eine sehr ernstzunehmende Hate-Speech-Problematik im öffentlichen Diskurs. Alle in dem Artikel erwähnten Erfahrungen sind so bereits in anderen Zusammenhängen dokumentiert, etwa für Journalist*innen, Transpersonen, Autor*innen, Politiker*innen oder Vertreter*innen der Klimabewegung.“
„Die Pandemie wirkte jedoch wie ein doppeltes Brennglas. Alle Dynamiken, die wir in der Forschung bereits beschrieben hatten, traten nun in hoher Konzentration und Blitzgeschwindigkeit zutage.“
„Anstatt die einmalige Chance anzunehmen, Zeuge eines beispielhaften wissenschaftlichen Prozesses der Erkenntnisgewinnung zu werden (wie es beispielsweise durch den NDR-Podcast geschehen ist), haben viele traditionelle Medien ihre Chance verpasst, die Komplexität einordnend zu reduzieren und informierend tätig zu werden. Sie sind vielmehr in alte Muster zurückgefallen. Da Wissenschaft nicht in diese Muster passt, wurde sie eingepasst – zum Beispiel durch künstlich generierte Kontraste. In einer Situation, in der es kaum gesicherte Informationen zu dem Virus gab, war das kontraproduktiv.“
„Anfeindungen gegenüber Wissenschaftler*innen finden sich auf unterschiedlichen Plattformen und unterschiedlichen Kanälen. Die sogenannte Hate Speech ist zwar einerseits ein Phänomen, das man besonders in den sozialen Medien erwarten würde. Dafür gibt es schließlich gute Gründe, denn die Dynamiken hier begünstigen die Verbreitung vor dem Hintergrund aufmerksamkeitsökonomisch günstiger Bedingungen: Negatives erregt mehr und schneller Aufmerksamkeit. Andererseits wissen wir, zum Beispiel auch durch die Republikation in den sozialen Medien durch Betroffene, dass Hate Speech in den E-Mail-Fächern landet, dass Hass über (häufig mehrere Seiten umfassende) Briefe versendet wird. Und auch im Straßenbild, etwa durch Aufkleber an Laternen oder Autos oder durch Plakate auf Demonstrationen, wird Hass gegen Wissenschaftler*innen sichtbar. Das zeigt, dass bei den Personen, die Hass verbreiten, kaum Befürchtungen bestehen, dass die verbalen oder in multimodalen Kommunikaten ‚verpackten‘ Gewalttaten geahndet werden. Keinesfalls ausgeblendet werden dürfen in diesem Fall aber die privaten Messenger. Die Verbreitung von Hass und Desinformationen gelingt hier deshalb so schnell, weil die Kommunikation durch die persönliche Nähe und einen Vertrauensvorschuss zwischen den Interagierenden gekennzeichnet ist.“
„Hate Speech ist keine neue Problematik. Gerade im Kontext der Corona-Pandemie sollte die Rolle der traditionellen Medien nicht außer Acht gelassen werden. Durch gezielte und inhaltlich nicht fundierte Schwarz-weiß-Konstruktionen, die zwanghafte und dem Thema nicht angemessene undifferenzierte Kontrastierung von Position und Kontraposition in Talkshows und Schlagzeilen hat gerade in Deutschland zu Beginn der Pandemie dazu beigetragen, dass ein Pseudostreit im Diskurs installiert worden ist. Es ist also wichtig, dass traditionelle Medien ihre Verantwortung innerhalb von Hass-Spiralen reflektieren und wahrnehmen. Es ist darüber hinaus wichtig, ein Klima der Wissenschaftsfreundlichkeit zu etablieren. Alles andere ist Nährboden für Hass und Hetze. Daher ist es wichtig, dass sich auch Politiker*innen ihrer Rolle in dieser Dynamik bewusstwerden und sich selbst stärker dafür sensibilisieren, bevor sie sich zu wissenschaftlichen Themen äußern. Auch Plattformen sind in der Pflicht, das strafrechtlich relevante Geschehen zu monitoren. Ich sehe also eher Handlungsbedarf in einem generellen Diskursklima, weniger bei den einzelnen von Hate Speech betroffenen Personen. Sie brauchen sichtbare Unterstützung durch andere Nutzer*innen auf den Plattformen, wie man es durchaus häufig schon beobachten kann, und den Rückhalt der Gesellschaft.“
„Gerade für Wissenschaftler*innen ist es wichtig, dass der Beitrag, den sie durch ihre Öffentlichkeitsarbeit leisten, anerkannt wird. Dass sie derzeit mit der Social-Media-Arbeit weitestgehend allein sind, darf kein Dauerzustand bleiben. Es braucht in den Hochschulen institutionalisierte Anleitung und Unterstützung im Krisenfall.“
Professor für Kommunikationswissenschaft, Klima- und Wissenschaftskommunikation, Universität Hamburg
„Der Artikel in ‚Nature‘ weist auf durchaus gravierende Probleme hin, die einige Wissenschaftler:innen bekommen haben, die sich zum Thema COVID-19 geäußert haben. Allerdings beruht die zugrundeliegende Umfrage auf einer für einige Länder sehr schwachen Datengrundlage. Es ist leider keine wissenschaftlich begleitete Umfrage, so wissen wir zum Beispiel nichts über die Antwortrate in den verschiedenen Ländern. Daher ist es so, dass wir die Prozentwerte in der Befragung mit größter Zurückhaltung interpretieren müssen. Offenbar gibt es ein Problem mit Aggression gegenüber Wissenschaftler:innen. Aber offen ist: Wie weit verbreitet ist diese Aggression wirklich und in welchen Ländern und Randbedingungen trat sie auf? Die Befunde sind also ein Ansporn für eine systematische, wissenschaftliche Untersuchung.“
„Die Studie sollte niemanden entmutigen, sich frei gegenüber Journalist:innen und auf Social Media zu äußern. Nur müssen wir in einer polarisierten Debatte auf sozialen Netzwerken auch mit unsachlichen und überzogenen Reaktionen rechnen. Das heißt umgekehrt nicht, dass wir Beleidigungen, Verleumdungen oder Drohungen passiv erdulden müssen. Sowohl die Arbeitgeber, also Universitäten und Forschungsinstitute, sollten eine Anlaufstelle für Betroffene anbieten, aber auch die Science Media Center selbst könnten überlegen, ob Sie eine zentrale Anlauf- und Beratungsstelle anbieten können.“
Juniorprofessor für Kommunikationswissenschaft, Universität Erfurt
„Die Umfrage ist methodisch sauber durchgeführt und ausgewertet. Allerdings ist die Stichprobe nicht repräsentativ und die Rekrutierung war rein selbstselektiv. Diese Problematik wird zwar transparent gemacht, dennoch sind die Zahlen im Artikel prominent genannt, obwohl sie keine Aussagen über eine Grundgesamtheit zulassen. Dass etwa 15 Prozent der befragten Wissenschaftler*innen Morddrohungen bekommen haben, bezieht sich nur auf die kleine, medial sehr aktive Gruppe, die hier befragt wurde.“
„Die Studie und vor allem die Fallbeispiele im Artikel geben wichtige Einblicke in das Problem von Hass gegen Wissenschaftler*innen. Bei polarisierenden und politisch stark aufgeladenen Themen werden Forschende zunehmend zum Ziel von Anfeindungen [2]. Online-Hass kommt in Deutschland überwiegend von rechts [3], daher sind Wissenschaftler*innen besonders gefährdet, die sich zu Themen wie Migration oder Populismus äußern. Die Corona-Pandemie hat hier für eine deutliche Verschärfung gesorgt: Wissenschaftler*innen werden teilweise massiv aus dem Impfgegner- und Querdenker-Spektrum angefeindet und bedroht.“
„Die Folge von Online-Hass ist für die Betroffenen vor allem Stress und psychische Belastung [4] [5]. Das kann Rückzug und Selbstzensur zur Folge haben. Besonders wichtig ist aber, dass sich viele Wissenschaftler*innen auch ohne eigene negative Erfahrungen präventiv nicht mehr zu bestimmten Themen äußern, wenn sie Hass und Anfeindungen erwarten (müssen). Eine Konfrontation der Anfeindungen (zum Beispiel durch Anzeige) oder ihre öffentliche Thematisierung können zwar sinnvolle Strategien im Umgang sein, kosten aber zusätzlich Zeit und Kraft.“
Auf die Frage nach der Rolle von sozialen Medien und inwiefern Medien über Aussagen und Debatten in sozialen Medien berichten sollten:
„Hasserfüllte Kommentare sind in der Online-Kommunikation besonders häufig, wie die Forschung zum Online-Enthemmungseffekt schon früh gezeigt hat [6]. Anonymität, asynchrone Kommunikation, Unsichtbarkeit und geringere Hinweise auf Autorität fördern enthemmte Reaktionen, hinzu kommt die Wahrnehmung, dass inziviles Verhalten online häufig toleriert oder normal ist.“
„Allerdings berichten die meisten Wissenschaftler*innen vor allem von gesteigerten Anfeindungen, wenn sie Auftritte in reichweitenstarken journalistischen Medien hatten. Einerseits werden viele Menschen erreicht, andererseits lösen solche Auftritte bei ohnehin aggressiven Personen häufig das Bedürfnis aus, ‚korrektiv‘ tätig zu werden, weil vermeintlich negative Wirkungen auf die Öffentlichkeit angenommen werden (Corrective Actions beziehungsweise Influence of Presumed Influence [7]).“
„Berichterstattung und öffentliche Sensibilisierung ist wichtig, denn als Gesellschaft brauchen wir in der Auseinandersetzung mit Hass im Netz zivilgesellschaftliches Engagement ebenso wie konsequente strafrechtliche Verfolgung und strengere Maßnahmen der Plattformen. Gerade Wissenschaftler*innen sind aber nicht zuletzt auch auf mehr Unterstützung durch Universitäten und andere Arbeitgeber*innen angewiesen.“
„Interessenkonflikte habe ich keine.“
„Ein Interessenkonflikt meinerseits liegt nicht vor.“
„Keine. Als Wissenschaftler habe ich allerdings ein Eigeninteresse, dass sich Forschende öffentlich über kontroverse Themen äußern können, ohne Opfer von Hasskommentaren zu werden.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquellen
Nogrady B (2021): Scientists Under Attack. News Feature. Nature.
Nogrady B (2021): Scientists Under Attack. Supplementary Information. Nature.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Wissenschaftsbarometer Schweiz. Homepage.
[2] Schmid-Petri H et al. (2021): Twittern für die Wissenschaft? Forschende und soziale Medien. Forschung und Lehre.
[3] Frischlich L et al. (2021): Roots of Incivility: How Personality, Media Use, and Online Experiences Shape Uncivil Participation. Media and Communication. DOI: 10.17645/mac.v9i1.3360.
[4] Springer N et al. (2021). „Du stehst unter genauer Beobachtung, unangenehmer Beobachtung“: Wie Journalistinnen kommunikative Gewalt aus dem Publikum wahrnehmen und verarbeiten. Publizistik. DOI: 10.1007/s11616-020-00637-w.
[5] Schmid-Petri H (2021): Krisenkommunikation in der Wissenschaft – Die Reaktion auf Anschuldigungen und der Umgang mit Skandalen. Beiträge zur Hochschulforschung.
[6] Suler J (2004): The online disinhibition effect. Cyberpsychology & Behavior. DOI: 10.1089/1094931041291295.
[7] Rojas H (2010): "Corrective" actions in the public sphere: how perceptions of media and media effects shape political behaviors. International Journal of Public Opinion Research. DOI: 10.1093/ijpor/edq018.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] SMC UK (13.10.2021): Expert reaction to Nature survey on experiences of harassment and abuse of scientists who spoke to the media about COVID-19.
[II] Scimex.org (14.10.2021): EXPERT REACTION: Pandemic levels of abuse directed at COVID-19 experts.
Prof. Dr. Mike S. Schäfer
Leiter des Kompetenzzentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (CHESS), Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ), Universität Zürich, Schweiz
Prof. Dr. Konstanze Marx
Lehrstuhlinhaberin für Germanistische Sprachwissenschaft, Institut für Deutsche Philologie, Universität Greifswald
Prof. Dr. Michael Brüggemann
Professor für Kommunikationswissenschaft, Klima- und Wissenschaftskommunikation, Universität Hamburg
Jun.-Prof. Dr. Fabian Prochazka
Juniorprofessor für Kommunikationswissenschaft, Universität Erfurt