Web-Rechner modelliert Todeszeitpunkt von Pflegebedürftigen
Ein kanadisches Forscherteam hat nach eigenen Angaben einen Online-Rechner zur statistischen Vorhersage des wahrscheinlichen Todeszeitpunkts von Pflegebedürftigen mit bestimmten Einschränkungen entwickelt. Die dazugehörige Studie ist am 5. Juli im Fachblatt „Canadian Medical Association Journal“ veröffentlicht worden. Das Web-Tool soll es vor allem Familien und Angehörigen ermöglichen, besser zu planen, wann Pflege in welchem Maße (noch) notwendig ist beziehungsweise wann palliative Maßnahmen ergriffen werden sollten.
Stellvertretender Leiter, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
„Das Prognosemodell ist im Wesentlichen gemäß methodischer Standards entwickelt worden [1] [2] [3]. Positiv hervorzuheben ist eine Designpublikation, in der die wesentlichen Entwicklungsschritte a priori beschrieben wurden [4]. Das ist bei dieser Art Forschung nicht selbstverständlich. Sehr bemerkenswert ist die in der Designpublikation angegebene, extrem niedrige Rate von fehlenden Werten im zugrundeliegenden Datensatz (0,02%).“
„Die letztendlich in das Modell eingeflossenen Merkmale wirken vernünftig gewählt. Die Vorhersagegüte des Modells ist entsprechend gängiger Einteilungen gut (c-Statistik: 0,75), wenngleich deutlich von einer perfekten Vorhersage entfernt (c-Statistik: 1). Dass bestimmte Vorerkrankungen (zum Beispiel Schlaganfall) einen prognostisch günstigen Einfluss haben sollen, wäre eigentlich erklärungs- beziehungsweise diskussionswürdig.“
„Eine Schwäche der Arbeit besteht darin, dass die Validierungskohorte nicht einer tatsächlich unabhängigen Datenquelle entstammt – sie unterscheidet sich nur im Zeitraum des Assessments. Das könnte zu einer Überschätzung der Güte geführt haben. Im Übrigen bleibt unklar, inwieweit die Ergebnisse eines in Kanada entwickelten Modells auf andere Länder mit deutlich anderen Versorgungsstrukturen übertragbar sind.“
„Die Entwickler haben die Hypothese, dass das Modell dazu beiträgt, älteren Menschen in ambulanter Pflege frühzeitig(er) das Angebot einer palliativen Versorgung (beziehungsweise vergleichbarer Konzepte) zukommen zu lassen. Angesichts der wachsenden Evidenz zum Nutzen einer (frühzeitigen) integrierten Palliativversorgung [5] [6] [7] ist das Ansinnen nachvollziehbar, und es ist durchaus vorstellbar, dass damit die Anwendung des Modells tatsächlich einen Nutzen erbringt. Allerdings ist das eine Hypothese, die in vergleichenden Studien (Anwendung des Modells vs. übliche Versorgung) überprüft werden sollte [1]. Das ist auch deshalb wichtig, da neben einem möglichen Nutzen auch negative Effekte vorstellbar sind.“
„Die Studie lässt die Frage offen, ab welchem Mortalitätsrisiko das Angebot für eine integrierte Palliativversorgung gemacht werden sollte. Das ist aber für eine eventuelle Implementation unerlässlich. Die Risiken liegen auf der Hand: Ergebnisse eines solchen Modells könnten dafür missbraucht werden, nicht etwa Versorgung zu verbessern, sondern – im schlimmsten Fall – Versorgung minimalistisch („preiswert“) zu gestalten und damit zu verschlechtern. Die besondere Betroffenheit von Pflegeheimbewohnerinnen und –bewohnern durch die Corona-Pandemie und daraus vereinzelt abgeleitete Schlussfolgerungen sind dafür beredtes Beispiel. Auch könnten Betroffene durch die Mitteilung einer (gegebenenfalls auch nur vermeintlich – denn die Güte des Modells ist nicht nahe einer perfekten Vorhersage) schlechten Prognose jeglichen Lebensmut und damit verbunden Lebensqualität verlieren, mit nachfolgend negativen Konsequenzen. Deshalb wäre eine vergleichende Studie zur Evaluation einer möglichen Anwendung des Modells so wichtig.“
Oberärztin Klinische Ethik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
„In den vergangenen Jahren hat es bereits mehrere Vorschläge zur Todeszeitbestimmung auf Grundlage verschiedener Parameter gegeben mit vielversprechenden Akronymen wie CriSTAL [8], CARING [9] oder PREDICT [10]. Eine Übersichtsarbeit hat bereits 2011 allein für ältere Menschen 16 verschiedene Mortalitäts-Prognose-Scores analysiert [11]. Viel diskutiert wurde insbesondere ein auf deep-learning beruhendes Vorhersagetool der Universität Stanford aus dem Jahr 2018 [12].“
„Die aktuelle Studie bezieht sich auf das Setting der häuslichen Pflege und nutzt passend dazu Parameter, die leicht auch im ambulanten Setting zu erheben sind. Hier ist jedoch kritisch zu fragen, ob eine niederschwellige Möglichkeit, einen Prognose-Score zu nutzen zum aktuellen Zeitpunkt eher als Vorteil oder als Risiko zu bezeichnen ist. Die prognostische Ungenauigkeit des RESPECT-Tools wird von den Autoren selbst eindeutig benannt, dass bereits eine Überarbeitung des hier vorgestellten Modells geplant sei.“
„Einen nachgewiesenen Nutzen für den einzelnen Menschen von Vorhersagemodellen zu Mortalitätsrisiken gibt es aktuell nicht. Oft, so auch hier, wird als potenzieller Nutzen benannt, dass Patienten, die von palliativer Versorgung profitieren könnten, schneller als bisher detektiert werden könnten. Ziel sei es, unnötige medizinische Maßnahmen aufgrund zu optimistischer Einschätzung zu verhindern. Ob die Berechnung von Mortalitätsrisiken bei medizinischen Entscheidungen gemeinsam mit älteren Menschen tatsächlich hilfreich ist, ist derzeit ebenfalls nicht klar.“
„Für spezifischere klinische Entscheidungssituationen sind Scoring-Systeme, die aber nicht das Mortalitätsrisiko ermitteln, hingegen bereits hilfreich. Beispielsweise bei der Frage, ob einem Patienten eine Blutverdünnung bei Vorhofflimmern zur Verhinderung von Schlaganfällen empfohlen werden sollte. Hier kann die Zuordnung in eine bestimmte Risikogruppe die Entscheidung unterstützen und weniger anfällig für kognitive Verzerrungen machen [13].“
„Mit dieser Studie wird deutlich, dass die Organisation von Pflege am Ende des Lebens einer differenzierten Analyse bedarf. Forschung dazu muss weiterhin die Belange des Einzelnen in den Blick nehmen. Es bedarf einer besonderen Berücksichtigung ethischer Aspekte, insbesondere bevor derartige Tools klinische oder gesundheitspolitische Anwendung finden, um die Rechte besonders vulnerabler Bevölkerungsgruppen zu schützen.“
„Der Bedarf an palliativmedizinsicher Versorgung lässt sich auch nicht allein an einer vermuteten oder vermeidlich errechneten Restlebenszeit festmachen. Er ergibt sich aus der individuellen Situation des Patienten/-in im sozialen Umfeld und den körperlichen und psychischen Symptomen einer Erkrankung. Insbesondere in der Neurologie und Pädiatrie kann dieser Bedarf auch bereits Jahre vor dem Tod bestehen. Dazu brauchen wir weiter die Beurteilung des Einzelfalls.“
„Vorhersagemodelle über Mortalitätsrisiken bringen die Gefahr der selbsterfüllenden Prophezeiung mit sich, indem sie zum einen Ängste, Depressionen und Selbstaufgabe beim Patienten/-in auslösen können und von Versorgungsseite zu früh Leistungen vorenthalten werden könnten. Benachteiligungen zum Beispiel beim Abschluss von Versicherungen für Hochrisikogruppen sind denkbar. Auch Beispiele von kommerziellen Interessen für den Einsatz von derartigen Prognosemodellen gibt es bereits. Hier muss es eine Qualitätskontrolle und Transparenz über den zugrundeliegenden Algorithmus geben. Ärzte/-innen müssen jederzeit verstehen können, wie eine Risikoeinschätzung zustande gekommen ist, wie hoch die Fehlerquote ist und welche konkrete Bedeutung das Ergebnis überhaupt für den individuellen Patienten hat. Alle diese Aspekte müssen dem Patienten verständlich erklärt werden, falls dieser seine Risikoeingruppierung wissen möchten. Dazu werden Ärzte/-innen aktuell aber noch nicht ausgebildet.“
„Es erscheint aktuell sehr fraglich, ob überhaupt und wenn ja wie Kommunikation über derartige Risikoberechnungen Eingang in die Patientenversorgung finden sollten. Aktuell eignen sie sich nicht, um im Einzelfall medizinische Entscheidungen zu unterstützen.“
Leiter der Abteilung für Interdisziplinäre Alterns- und Pflegeforschung am Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen
„Die Grundlage für das Tool RESPECT sind Versicherungs-Routinedaten von Menschen über 50 Jahre aus verschiedenen Provinzen in Kanada. Eingeschlossen wurden die Daten von über 435.000 Personen mit Anspruch auf eine häusliche Langzeitpflege, bei denen zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 31. Dezember 2012 ein RAI-HC Assessment durchgeführt wurde. Hinzu kommt eine Validierungskohorte von etwa 140.000 älteren Erwachsenen, die mit einer RAI-HC-Bewertung zwischen dem 1. Januar und 31. Dezember 2013 untersucht wurden. Dieser Big Data-Ansatz macht es möglich, den Überlebenszeitraum oder den Sterbezeitpunkt ab der zuletzt durchgeführten RAI-HC-Bewertung vorherzusagen. Die sehr aufwendig, methodisch anspruchsvoll und mit belastbaren Daten durchgeführte statistische Analyse erfolgte über eine Proportional-Hazard-Regression. RESPECT ist dazu in der Lage, eine 6-Monats- und 12-Monats-Risikovorhersage zum Sterbezeitpunkt zu machen. Vom Design her handelt es sich um eine offene Kohortenstudie unter Verwendung der Daten des Resident Assessment Instrument for Home Care (RAI-HC). Der endgültige Algorithmus für das Mortalitätsrisiko soll als webbasierter Rechner implementiert werden, der von pflegebedürftigen älteren Erwachsenen und ihren Betreuern genutzt werden kann.“
„Das zentrale Instrument der RESPECT-Studie, ist das Resident Assessment Instrument-Home-Care (RAI-HC), das auch in Deutschland bekannt ist, wegen seines hohen Aufwands – anders als zum Beispiel in der Schweiz – aber kaum über den Modellstatus hinauskam. Es enthält fast 400 Datenelemente und trägt dazu bei, pflegebedürftige Personen umfassend im Hinblick auf ihren Hilfs- und Pflegebedarf einschätzen zu können. Es wird über längere Zeiträume regelmäßig wiederholt, um den aktuellen Status der jeweiligen Person aktuell neu bestimmen zu können. Die im RESPECT-Tool aufgenommenen ausgewählten Prädiktorvariablen resultierten aus dem Variablen-Pool des RAI-HC, beruhen aber auch auf klinischer Erfahrung und den Ergebnissen der wenigen, ähnlich gelagerten Studien. Erfasst wurden soziodemographische Daten, kognitive und funktionale Fähigkeiten, der Morbiditätsstatus und das Frailty-Syndrom (Altersgebrechlichkeit), Einschränkungen in den Alltagsfunktionen, die Selbst- oder Unselbstständigkeit betreffend, Erkrankungen aller Art, Daten zur Person, Krankenhausaufenthalte, Therapien, der physiologische Status (Gewicht) einschließlich der Wünsche der Betroffenen u.a. zu ihrer Lebensqualität.“
„Die life expectancy calculators – Forschung zur Lebenserwartung – haben spätestens seit Beginn der 90er-Jahre stark zugenommen und gegenwärtig ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Allein für das vergangene Jahrzehnt finden sich in der National Library of Medicine nahezu 2000 Publikationen unterschiedlicher Güte, davon sind etwa 120 ernstzunehmende klinische Studien oder Metanalysen. In aller Regel beziehen sich die Studien auf die Lebenserwartung (life expectancy) in Verbindung mit bestimmten Diagnosen von zumeist chronischen Erkrankungen (zum Beispiel Krebs, Herzinfarkt, Diabetes, Demenz).“
„Bei ermittelten Durchschnittswerten der Lebenserwartung geht es um prospektive Studien zur Sterblichkeit von Populationen: etwa starke Raucher, Altersgruppen, von Armut Betroffene oder Ländervergleiche. Bei RESPECT dagegen geht es um die Vorhersage des Todeszeitpunktes (predicting death) konkreter Personen. Neu bei RESPECT ist also die Personalisierung des Todeszeitpunktes. Auch dies ist in der klinischen Praxis nicht unüblich. Wie oft wird man als Angehöriger eines nahen Verwandten von der zuständigen Ärztin oder dem Arzt beiseite gezogen mit den Worten: ,Unter uns, ich gebe ihrer Mutter noch etwa drei Monate‘. Die Basis sind Erfahrungswerte der Medizin oder der jeweiligen Person, die mit der Behandlung betraut ist. Die Nutzung von datenbasierten Algorithmen als kalkulatorischer Maßstab ist aber noch etwas anderes. Den Todeszeitpunkt für konkrete Menschen auf einer ausschließlich rationalen Grundlage und mittels Algorithmen vorauszusagen, überschreitet scheinbar eine Grenze. Warum eigentlich? Der Nutzen ist in beiden Fällen ähnlich.“
„Laut der RESPECT-Studie sollen vor allem die Betroffenen selbst sowie ihre Angehörigen einen Nutzen haben, wenn es darum geht, in Kenntnis des sicheren Todeszeitpunktes die letzte Lebensphase so angenehm wie möglich zu gestalten, rechtzeitig die notwendigen Dienste zu organisieren und frühzeitig eine vorausschauende Pflegeplanung einzuleiten (Advanced Care Planning) oder mit einer palliativen Pflege zu beginnen (End-of-Life-Care). Kurzum: Das Modell ist vor allem als Entscheidungshilfe für alle Beteiligten, die Betroffenen, die Angehörigen und die beteiligten Professionen aus Medizin, Therapie und Pflege gedacht und gleichzeitig können auf dessen Erkenntnissen auch Verpflichtungen der Versicherungsträger und der Leistungserbringer als Anspruch für umfangreiche, angemessene Hilfeleistungen abgeleitet werden. Deren Gewährung ist nicht immer selbstverständlich und das Ringen um Bewilligung eine zusätzliche Belastung – manchmal auch unwürdig – für alle Beteiligten zweifellos also ein Nutzen.“
„Eine geregelte End-of-Life-Care beziehungsweise die Anwendung des ACP-Modells (Advanced Care Planning) einer vorausschauenden Pflegeplanung ist in Deutschland bisher noch die Ausnahme, vor allem im Home-Care-Bereich. Diesen Zustand zu beenden, ist die Chance des RESPECT-Tools. Das Konzept des „Advance Care Planning“ (ACP) – vorwiegend in der stationären Langzeitpflege angewendet – soll auf der Basis wohlüberlegter Planungen und Entscheidungen dabei unterstützen, dass Behandlungen und Pflege auch dann verlässlich gemäß dem eigenen wohlerwogenen Willen der Bewohner durchgeführt werden, wenn dieser bereits in der letzten Phase seines Lebens ist und oft selbst seinen Willen nicht mehr äußern kann. Ein erfolgreiches ACP beginnt mit der Eröffnung eines Gesprächs anhand eines Interviewleitfadens über die Lebensgeschichte der Bewohner. Es schließen sich Fragen zum Alltagsleben und der gewünschten Lebensqualität der verbleibenden Monate der Bewohner an und wechselt dann allmählich zu den Fragen der Pflege am Lebensende. Der Abschluss des Gesprächs widmet sich Inhalten von Patientenverfügung und dem Umfang beziehungsweise den Grenzen der Palliativversorgung. Forschungsergebnisse verschiedener internationaler Studien deuten darauf hin, dass ACP den Prozess der vorausschauenden Pflegeplanung für die Bewohner und ihre Familien wesentlich erleichtert. Vor allem kann ACP den Bewohnern dabei helfen, eine Pflege zu erhalten, die ihren Präferenzen entspricht, und damit die Qualität der Pflege am Lebensende positiv beeinflussen. Wichtig ist, dass ACP auch psychosoziale Inhalte beinhaltet, um die durch professionell Pflegende Akzeptanz in der Langzeitpflege zu verbessern und eine entsprechende Unterstützung zu erfahren.“
„Neben der Frage, wem nutzt es, gibt es noch weitere: Wer zum Beispiel soll die aufwendige Befragung durchführen? Die Kassen, Pflegende? Per se liegen die notwendigen Daten in Deutschland ja nicht vor. Das RAI-HC-Instrument wird nicht routinemäßig erhoben. Mehr aber noch: ist alles, was die Wissenschaft ermöglicht, auch richtig? Worin besteht der eigentliche Erkenntnisgewinn oder gibt es beim Erkenntnisgewinn eine ,Schranke‘? Wenn ja, kann diese zumindest in diesem Falle, neben der praktischen Umsetzung, nur eine ethische sein. Und dabei sind wir beim Kern der notwendigen Reflexion angelangt: ,Drum wachet, denn ihr wisset weder den Tag noch die Stunden‘ (Matthaeus 25:13), heißt es im Evangelium. Sollen wir uns mit Algorithmen über diese Ungewissheit des bevorstehenden Todes und all den (zugegeben oft irrationalen aber tröstenden) Hoffnungen, er möge noch nicht eintreten, hinwegsetzen, damit wir bis in die letzte Sekunde auch diese Phase planen können oder akzeptieren wir die Ungewissheit und überlassen sie einem ,allmächtigen Schöpfer‘?“
„Natürlich ist eine Planung i.S. von End-of-Life Care oder ACP wichtig und auch als Anspruch der Betroffenen einzufordern. Eine professionelle Pflege erkennt diese Notwendigkeit aber auch ohne einen Algorithmus und deshalb wäre dies kein Grund für dessen Einsatz an dieser Stelle, wo es darum geht, etwaige Schwachstellen einer unangemessenen Pflege zu entdecken. Zudem wird durch die Prognose des Todeszeitpunktes – den wir vielleicht ja auch gar nicht kennen wollen – durch das Instrument ein Mechanismus, wenn nicht Automatismus, in Gang gesetzt, der leicht übergeht in etwas, dass man Sterbe-Management nennen könnte. Dann hätten wir es geschafft, auch diese Phase, die letzte, zu ,vermanagen‘ zur Freude all jener professionellen Dienstleister, die hier ein Geschäft wittern würden. Und natürlich wird Sterben auch aus Sicht der Versicherer ökonomisch kalkulierbarer.“
„Dem Fortschritt zum Trotz: Sterben ist immer noch eine ganz persönliche Angelegenheit und soll in Würde stattfinden können. Dass sich besonders die Pflegeheime und Krankenhäuser in dieser Hinsicht verbessern können – denn die Mehrzahl der Menschen verstirbt nicht zu Hause –, steht außer Frage. Offen bleibt aber die Frage, die im Roman von Heiner Kipphardt ,In der Sache J. Robert Oppenheimer‘ schon im Zusammenhang mit der Entwicklung der Atombombe im Fokus steht, nämlich die Verantwortung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, die Schaffung neuer Möglichkeiten, wie sie etwa die Robotik, die Digitalisierung oder die Gentechnologie bieten. Dazu gehören auch Möglichkeiten der Vorhersage des Todeszeitpunktes, seine Überwachung und Planung, die dann oft Prozesse in Gang setzen, deren Konsequenzen nicht mehr bis zuletzt zu kontrollieren sind. Diese Doppelgesichtigkeit von Wissenschaft, die auch im Roman von Kipphardt zentral ist, muss bei der Beurteilung der Studie hinsichtlich ihres Nutzens unter ethischen Gesichtspunkten als Maßstab angelegt werden: nicht mehr und nicht weniger. Frei nach Julian Nida-Rümelin, dem ehemaligen Kulturstaatsminister, könnte man sagen: Der wahre Fortschritt einer Gesellschaft liegt in der Humanität. Algorithmen folgen wir schon genug, jedes Mal, wenn wir unser Handy benutzen, der Humanität noch zu wenig.“
Wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer, Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Potsdam
„Wird ein diagnostisches oder prädiktives Risikomodell veröffentlicht, sollten sich Betroffene, Anwender*innen (z.B. Ärzte/Ärztinnen), Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Regulator*innen (zum Beispiel im Bereich der Medizinproduktegesetz-Regelungen) folgende Schlüsselfragen stellen, um das Risikomodell einschätzen zu können:
„Es bestehen keine potenziellen Interessenkonflikte.“
„Die Abgabe meines Statements ist frei von jeglichen Interessen und entspricht meiner persönlichen Meinung.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Hsu AT et al. (2021): Predicting death in home care users: derivation and validation of the Risk Evaluation for Support: Predictions for Elder-Life in the Community Tool (RESPECT). CMAJ. July 5; 193: E997-1005. DOI: 10.1503/cmaj.200022 .
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Pencina MJ et al. (2020): Prediction models — Development, evaluation, and clinical application. N Engl J Med; 382: 1583-86. DOI: 10.1056/NEJMp2000589.
[2] Collins GS et al. (2015): Transparent reporting of a multivariable prediction model for Individual Prognosis or Diagnosis (TRIPOD): the TRIPOD statement. Ann Intern Med; 162: 55-63. DOI: 10.1186/s12916-014-0241-z.
[3] Collins GS et al. (2015): Transparent Reporting of a multivariable prediction model for Individual Prognosis or Diagnosis (TRIPOD): Explanation and Elaboration. Ann Intern Med; 162: W1-W73. DOI: 10.1186/s12916-014-0241-z.
[4] Hsu AT et al. (2016): Algorithm for predicting death among older adults in the home care setting: study protocol for the Risk Evaluation for Support: Predictions for Elder-life in the Community Tool (RESPECT). BMJ Open; 6: e013666. DOI: 10.1136/bmjopen-2016-013666.
[5] Oluyase AO et al. (2021): Hospital-based specialist palliative care compared with usual care for adults with advanced illness and their caregivers: a systematic review. Health Serv Deliv Res; 9(12). DOI: 10.3310/hsdr09120.
[6] Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung, Langversion 2.2, 2020, AWMF-Registernummer: 128/001OL, (abgerufen am: 30.06.2021).
[7] Gärtner J et al. (2017): Effect of specialist palliative care services on quality of life in adults with advanced incurable illness in hospital, hospice, or community settings: systematic review and meta-analysis. BMJ; 357: j2925. DOI: 10.1136/bmj.j2925.
[8] Cardona-Morrell M et al. (2015): Development of a tool for defining and identifying the dying patient in hospital: Criteria for Screening and Triaging to Appropriate aLternative care (CriSTAL). BMJ supportive & palliative care; 5 (1): 78–90, 3 2015. DOI: 10.1136/bmjspcare-2014-000770.
[9] Fischer SM et al.: A Practical Tool to Identify Patients Who May Benefit from a Palliative Approach: The CARING Criteria. JPSM; Apr; 31 (4): 285-92. DOI: 10.1016/j.jpainsymman.2005.08.012.
[10] Richardson P et al. (2015): PREDICT: a diagnostic accuracy study of a tool for predicting mortality within one year: Who should have an advance healthcare directive?. Palliative Medicine; 29 (1): 31–37. DOI: 10.1177/0269216314540734.
[11] Yourman LC et al. (2012): Prognostic Indices for Older Adults: A Systematic Review. JAMA; 307(2): 182–192. DOI:10.1001/jama.2011.1966.
[12] Avati A et al. (2018): Improving palliative care with deep learning. BMC Med Inform Decis Mak 18, 122 (2018). DOI: 10.1186/s12911-018-0677-8.
[13] Gage BF et al (2001): Validation of Clinical Classification Schemes for Predicting Stroke: Results From the National Registry of Atrial Fibrillation. JAMA; 285(22): 2864–2870. DOI:10.1001/jama.285.22.2864.
PD Dr. Stefan Lange
Stellvertretender Leiter, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
Dr. Annette Rogge
Oberärztin Klinische Ethik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Prof. Dr. Stefan Görres
Leiter der Abteilung für Interdisziplinäre Alterns- und Pflegeforschung am Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen
Dr. Felix Rebitschek
Wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer, Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Potsdam