Sind E-Autos weniger umweltfreundlich als angenommen?
Seit dem 21.06.2021 macht das Argument die Runde, in den Berechnungen der zukünftigen Stromerzeugung und des zukünftigen Stromverbrauchs gäbe es einen Rechenfehler. Dieser würde zum Beispiel den CO2-Ausstoß für das Aufladen von Elektroautos massiv schönen. Die Argumentation stützt sich im Grundsatz auf ein Paper von Prof. Dr. Thomas Koch, laut dem bei der Berechnung der CO2-Bilanz der Elektromobilität ein Rechenfehler vorliege [I]. In einem offenen Brief [II] an die EU-Kommission legt der Verbrennungsmotorexperte mit Koautoren dar, die CO2-Emissionen beim Ladeprozess von E-Autos könnten dadurch mindestens um den Faktor zwei unterschätzt werden. Gemeinsam mit weiteren Automobilexperten argumentiert er dafür, für den Klimaschutz im Verkehr auch in Zukunft Verbrennungsmotorfahrzeuge einzusetzen, die dann aber mit Bio- oder künstlich erzeugten Treibstoffen betrieben werden sollten (zu synthetischen Treibstoffen siehe [III] und [IV]).
Institutsleiter, Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3), Technische Universität Dortmund
„Der Brief ist hochgradig peinlich. Es ist ein wissenschaftlich verbrämtes Lobbyistenschreiben, welches krampfhaft versucht, die Kolbenmaschinen (Lehrstuhldenomination von Prof. Koch des KIT) zu retten.“
„Die vereinfachte Formel, die kritisiert wird, besagt Folgendes: Zusätzliche elektrische Leistung multipliziert mit den durchschnittlichen CO2-Emissionen soll die Emissionen der Elektromobilität ergeben. Es wird behauptet, dass viele Studien so vorgehen. Welche das sind, wird nicht gesagt. Im Bereich der Energieexperten ist völlig klar, dass dieses eine sehr grobe Abschätzung ist und die nicht ausreicht.“
„Die vorgeschlagene Ergänzung der Formel bedeutet, dass ein Faktor hinzugenommen werden muss, der bedeutet, dass durch die zusätzliche Leistung der Durchschnitt der CO2-Emissionen steigt. Das heißt: Wenn noch konventionelle Kraftwerke im System sind, werden die zur Deckung der zusätzlichen Last hochgefahren und der zusätzlichen Last zugeschlagen. Das bedeutet, wenn ich Stand heute ein Elektroauto tanke und nicht gerade erneuerbarer Strom im Überfluss vorhanden ist, wird ein Kohle- oder Gaskraftwerk hochgefahren. Somit dürfte ich erst dann E-Autos, Wärmepumpen, effiziente Stromverbraucher und so weiter nutzen, wenn genügend EE-Strom produziert wird. Das ist aber ein Henne-Ei-Problem, denn es müssen gleichzeitig die effizienten Stromnutzer mit der erneuerbaren Stromproduktion erhöht werden, damit ein zukünftiges Gesamtsystem entsteht.“
„Es ist aber völlig richtig, dass ein extrem schneller Hochlauf der Elektromobilität, dem der Ausbau der Erneuerbaren nicht Schritt hält, deutlich weniger CO2-Minderungen bringt, als wenn Erneuerbare Energien (EE) schnell damit Schritt halten.“
„Genau dies wird aktuell in der Wasserstoffdiskussion gemacht. Überall schießen Elektrolyseure in Gemeinden aus dem Boden, um innovativ zu sein, und damit wird EE-Strom aus dem System mit Verlusten in H2 umgewandelt – und der EE-Strom fehlt woanders. Auch hier machen wir aktuell aus Braunkohle H2, was sehr dumm ist und sich erst langfristig technologisch auf dem Weltmarkt auszahlt.“
„Hier fällt dem Brief das Lobbying auf die Füße. Genau dieses Problem haben E-Fuels, die genauso erneuerbaren Strom benötigen, nur im Vergleich zu Batteriefahrzeugen um ein Vielfaches (ungefähr Faktor 8) mehr. Die E-Fuel Produktion unterliegt genauso dem obigen Aspekt. Die genannten Biofuels mit der Konkurrenz zu Nahrungsmitteln, Regenwaldrodung und so weiter sollten am besten überhaupt nicht erwähnt werden, da sie schon vom Ansatz her eine Sackgasse sind.“
„Seriöse Energiesystemtechniker berechnen den oben kritisierten Effekt übrigens sehr realistisch in den Modellen. Unser europäisches Markt- und Netzmodell des gesamten Elektrizitätssystems mit Sektorenkopplung kann genau ausweisen welches CO2-Delta sich durch zusätzliche Elektrofahrzeuge ergibt. Das können alle Modelle. Daher ist die Kritik bezogen auf seriöse Forscher in diesem Bereich unberechtigt. Natürlich gibt es immer wieder vereinfachte Abschätzungen und Darstellungen, wie genau dieser Brief bezüglich E-Fuels zeigt.“
„Ich würde mich freuen, das Thema mit Journalisten zu diskutieren.“
Auf die Frage, wie stark Elektroautos den Stromverbrauch erhöhen werden und wie viele konventionelle Kraftwerke diesen Verbrauch decken müssen:
„Das Ziel der ganzheitlichen Energiesystemplanung ist es, die erneuerbaren Energien möglichst optimal zu nutzen. Die Digitalisierung ermöglicht ein flexibleres Lademanagement von Elektrofahrzeugen, um die Nutzung von EE-Strom zu maximieren, ohne die Mobilitätsnutzung einzuschränken. Am Ende soll die installierte und genutzte konventionelle CO2-Kraftwerksleistung minimiert werden, indem die residuale Last, die Differenz aus Last und erneuerbarer Einspeisung, zum Beispiel durch Steuerung der Ladung von Elektroautos so geglättet und minimiert wird, dass der Bedarf möglichst vollständig durch EE-Strom abgedeckt wird.“
„Das mit der Integralrechnung haben die Autoren liebevoll in dem Paper hergeleitet. Letztendlich ist das aber auch noch eine Vereinfachung, da die zeitübergreifende Optimierung, die hinter der Energiesystemsimulation steckt, noch viel mehr Abhängigkeiten berücksichtigt. Zum Beispiel wird die Frage heute und in naher Zukunft kommen, was wir mit abgeregelter Überschussenergie machen und ob man die in Elektrofahrzeugen oder im Wärmesektor nutzen kann. Die Systemzusammenhänge sind dann noch komplexer, sodass der vereinfachte Term der Autoren auch nicht mehr ohne weiteres gilt.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Competence Center Energiepolitik und Energiemärkte, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe
„Eine generelle Einordnung vorab: Die von Koch und Böhlke als Rechenfehler bezeichnete Auslassung der Änderung der Emissionsintensität durch zusätzlichen Stromverbrauch ist keineswegs neu, sondern wohlbekannt. Dies entspricht der Frage, ob für den von E-Autos verbrauchten Strom die Emissionen des Strommix oder des sogenannten Grenzstrommix anzusetzen sind. Bei letzterem handelt es sich um den zusätzlich nötigen Strom im Vergleich zum fiktiven Fall, dass keine E-Autos geladen werden. Die Diskussion, ob man die durchschnittlichen Treibhausgas (THG)-Emissionen aus der Stromproduktion ansetzt oder die Grenzemissionen, wird immer wieder geführt und es gibt Argumente für beide Positionen. Wissenschaftlicher Standard in der Ökobilanzierung ist die Verwendung der Durchschnittsemissionen. Hier für E-Autos den Strommix anzusetzen ist also kein Versehen, sondern eine bewusste Annahme in den kritisierten Studien. Folgende Argumente können dafür herangezogen werden:“
„A1. Grenzstromemissionen lassen sich nicht klar zuordnen: Bei Verwendung der Emissionen des Grenzkraftwerkes besteht eine Zuordnungsproblematik. Bisherige konventionelle Stromnachfrage, zum Beispiel für Beleuchtung und Weiße Ware, geht zurück, und eine Reihe an neuen Stromnachfragern kommt aus Anwendungen wie Elektrofahrzeugen, Wärmepumpen, IKT-Anwendungen oder Strom für Niedertemperatur-Wärmenachfrage in der Industrie hinzu. Wer entscheidet nach welchen Kriterien, welche der Anwendungen Grenznachfrager nach Strom ist und deshalb mit den Grenzemissionen zu belasten ist?“
„A2. Zeitliche Flexibilität beim Laden verringert das Problem: Es ist festzuhalten, dass Elektrofahrzeuge sehr gut gesteuert beladen werden können (sie stehen zu 95 Prozent ihrer Zeit, meisten in der Nähe von Lademöglichkeiten). Aktuell geplante beziehungsweise schon umgesetzte Gesetzesvorhaben wie die Förderung von Wallboxen, die Spitzenlastglättung oder die Einführung zeitvariabler Stromtarife zielen darauf ab. Als flexible Lasten können Elektrofahrzeuge gut zur Systemintegration erneuerbarer Stromerzeuger beitragen und unterstützen somit den Ausstieg aus der fossilen Stromproduktion.“
„A3. Strom für E-Autos wird beim Ausbau erneuerbarer Energien eingeplant: Wegen der zeitlichen Flexibilität beim Laden ist für E-Autos nicht die unmittelbare Änderung des Strommix die relevante, sondern die längerfristige Entwicklung des Erzeugungsmixes. Da der zusätzliche Strombedarf durch die E-Autos bei der Planung des Ausbaus der erneuerbaren Stromerzeugung berücksichtigt wird, ist es gerechtfertigt, davon auszugehen, dass keine zusätzliche fossile Stromerzeugung erfolgt und für alle Stromverbrauchen inklusive E-Autos den Strommix zu unterstellen.“
„A4. Energiepolitische Realitäten einbeziehen: Rein theoretisch wäre es aus einer rein auf THG-Emissionen und -kosten bezogenen Minderungsstrategie richtig, zuerst alle Kohlekraftwerke abzuschalten und durch Erneuerbare zu ersetzen – und dann erst auf Elektrofahrzeuge oder Wärmepumpen zu setzen. Allerdings muss man in der Energiepolitik verschiedene Ziele verfolgen, Aspekte wie Versorgungssicherheit, Strompreise oder Strukturwandel in den Kohleregionen sind zu beachten. Und dies führt dazu, dass erst langsam aus der Kohle ausgestiegen wird. Wenn man aber mit anderen Maßnahmen wie Elektromobilität oder Großwärmepumpen in Wärmenetzen noch wartet, bis das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet ist (nach aktueller Planung 2038), dann wird man die bestehenden politischen Klimaziele sehr deutlich verfehlen.“
„Weiterhin schlagen die Autoren einen Mix aus fossilen Kraftstoffen, Biokraftstoffen und eFuels (synthetische Kraftstoffe auf Strombasis) als sinnvolle Alternative vor. Hiergegen sprechen folgende Argumente:“
„B1. eFuels sind von Grenzstromproblematik noch stärker betroffen: Wenn man der Argumentation der Treibhausgasbelastung des Grenzstroms für jede neue Stromnachfrage folgt, dann ist diese Argumentation auch auf eFuels (synthetische Kraftstoffe auf Strombasis) anzuwenden. Da diese pro gefahrenen PKW-Kilometer einen fünffach höheren Stromverbrauch haben, ist ihre Klimabilanz extrem schlecht (deutlich schlechter nach unseren Berechnungen im Vergleich sogar zu konventionellen Treibstoffen und weit schlechter als Elektro-PKW mit Treibhausgasbelastung von Grenzstrom berechnet). Die Begründung, dass eFuels ja aus dem Ausland aus wind- und sonnenreichen Regionen bezogen werden können, hat dieselbe Argumentationsproblematik. Auch im Ausland sind dann die Treibhausgasemissionen des Grenzstroms anzusetzen. Und viele der aktuell diskutierten Länder wie Marokko oder Australien haben einen Kohlestromanteil von mehr als 50 Prozent (höhere THG-Emissionen aus Stromproduktion im Vergleich zu Deutschland). Nur wenige Länder wie Island oder Norwegen kämen dann noch auf eine gute Treibhausgasbilanz für eFuels. Allerdings braucht es noch viele Jahre, bis hier nennenswerte Produktionskapazitäten für eFuels aufgebaut werden (nach IEA wurden weltweit 2019 nur 19 Megawatt an Elektrolyseurleistung installiert). Erst nach 2025 sind überhaupt erste erwähnenswerte Mengen zu erwarten – zu spät, um einen wichtigen Beitrag zur THG-Zielerreichung in Deutschland nach der Novelle des Klimaschutzgesetzes für 2030 erreichen zu können.“
„B2. Bei der Produktion von eFuels ist die Verwendung von erneuerbarem Strom nicht vollständig gesichert: Weiterhin soll nach der deutschen nationalen Wasserstoffstrategie bis 2030 ungefähr ein Drittel des Wasserstoffs und der synthetischen Brenn- und Kraftstoffe in Deutschland produziert werden. Welche Ansprüche dabei an ‚grünen‘ Wasserstoff und ‚grüne‘ eFuels gestellt werden, ist noch offen. Nach der Definition des BMWi zur EEG-Befreiung für grünen Wasserstoff reicht es aus, dass die Elektrolyseure maximal 5000 Volllaststunden im Jahr laufen und die Erneuerbaren zu 85 Prozent in derselben Preiszone (sprich Deutschland) liegen. Von einer überwiegend auf erneuerbarem Strom basierten Herstellung ist man damit sehr weit weg. Unsere Berechnungen zeigen, dass man damit sogar über den THG-Emissionen eines konventionellen Pkw liegt (wenn man durchschnittliche Treibhausgasemissionen der 5000 Volllaststunden mit den niedrigsten Werten aufaddiert; bei Grenzstrom sind die Treibhausgasemissionen noch einmal deutlich höher).“
„B3. Potenzial nachhaltiger Biokraftstoffe ist stark begrenzt: Nachhaltig produzierte Biokraftstoffe können eine wichtige Rolle in der Verkehrswende spielen. Ihre Potenziale sind aber stark begrenzt. Sie sollten daher primär dort zum Einsatz kommen, wo keine Elektrifizierung möglich ist, wie im internationalen Flug- und Schiffsverkehr.“
„B4. Grenzemissionen fossiler Energien werden ebenfalls ausgelassen: Wenn man den Ansatz der Grenzemissionen verfolgt, so muss man ihn dann konsequenterweise auch auf Erdöl anwenden – Erdöl ist ein Weltmarktprodukt. Die Grenzemissionen kommen dann aus Ölsanden aus Kanada oder Venezuela oder Öl-Fracking aus den USA – und diese sind in der Gewinnung ungefähr fünf Mal höher als bei dem konventionellen Erdöl. Eine gute Klimabilanz erreicht man dann mit der vorgeschlagenen Mischung von konventionellem Benzin/Diesel mit eFuels nicht.“
„Wenn es um die Frage geht, was die Änderung der Treibhausgas-Emissionen beim Hinzufügen eines E-Autos und Fortlassen eines Verbrennungsmotorfahrzeugs ist, kommt man mathematisch zu der Aussage von Herrn Koch. Lässt man dort die marginale Änderung der Emissionen wegfallen, fehlt ein Term in der Gleichung, was der Verletzung des Hauptsatzes entspricht. Nur ist das eben aus klimapolitischer Sicht nicht die Frage, die man beantworten will. Diese Argumente ließen sich auf jeden Stromverbrauchenden anwenden, deswegen ergibt es keinen Sinn, sie einem bestimmten Verbraucher – seien es E-Auto, Wärmepumpen oder Gaming-PCs – zuzurechnen.“
„So ist auch nicht verwunderlich, dass die Veröffentlichung in einer mathematischen Zeitschrift akzeptiert wurde, denn mathematisch gibt es hier nichts zu bemängeln. Was fehlt, ist der energie- und klimapolitische Kontext wie oben skizziert.“
Dieses Statement entstand in Zusammenarbeit mit:
Prof. Dr. Martin Wietschel
Leiter des Competence Centers Energietechnologien und Energiesysteme, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe
Abteilungsleitung Energiesystemanalyse, Institut für Vernetzte Energiesysteme, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Stuttgart
„Der Artikel greift einen validen Punkt auf, der aber in der Tat nicht ganz neu ist. Bereits andere Studien haben diesen Marginaleffekt analysiert [2]. An einer Stelle greift der Artikel aber zu kurz: Bei Abregelung von Erneuerbaren Energien (zum Beispiel Wind und Solar), die im künftigen Energiesystem unabdingbar sind, kann ein gesteuerter Ladeprozess zu sehr geringen (gegebenenfalls sogar negativen) Marginalemissionen führen. Dies wird auch von neueren Studien gezeigt: E-Pkw können die Energiewende in der Stromerzeugung sogar beschleunigen und somit zu negativen marginalen Emissionen führen. Dies gilt insbesondere, wenn man die E-Pkw als mobile Speicher, mit der sogenannten Vehicle-to-Grid-Technologie, in das Energiesystem integriert. Im Dekarbonisierten Energiesystem 2050 stimmen die Analysen des Artikels dann nicht mehr.“
„Eine Anwendung des Hauptsatzes der Integral- und Differentialrechung zur Berechnung der CO2-Emissionen von Elektroautos ist nicht zwingend notwendig. Eine alternative Methode, die sich insbesondere auch gut für die Analyse zukünftiger Energiesysteme eignet, ist die Analyse mit Energiesystemmodellen [2][3].“
Postdoctoral Fellow am Department für Umweltsystemwissenschaften, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Schweiz
„Koch und Böhlke leiten in ihrer Studie her, dass eine wachsende Stromnachfrage bei unverändertem Kraftwerkspark zu einem Anstieg der CO2-Emissionen führt. Dieser Anstieg könne jedoch nicht mittels Multiplikation der zusätzlichen Nachfrage mit den durchschnittlichen CO2-Emissionen beschrieben werden. Stattdessen müsse man die zusätzliche Stromnachfrage mit den Grenzemissionen multiplizieren.“
„Der Neuheitswert der Ergebnisse ist mikroskopisch klein; die Herleitung und Resultate sind allgemein bekannt und unstrittig. Wie die Autoren selber anmerken, ist die zugrunde liegende Mathematik 300 Jahre alt und wird in Grundvorlesungen zu Analysis vermittelt.“
„Die dargestellten Resultate haben keinen Einfluss auf die moderne Energiesystem-Modellierung, weil die kritisierte Mittelung bei diesen überhaupt nicht gemacht wird. Moderne Modelle bilden Erzeugung und Nachfrage sowie die entstehenden CO2-Emissionen räumlich und zeitlich hoch aufgelöst ab [4][5]. Zudem umfassen solche Modelle heute viele Sektoren und kombinieren insbesondere den Verkehrs- und Strombereich. Kurzfristig ansteigende Emissionen aufgrund zusätzlicher Stromnachfrage, wie von den Autoren diskutiert, bilden diese Modelle also explizit ab. Die Autoren decken hier keine Schwachstelle auf.“
„Darüber hinaus stellt sich eine strategische Frage, welche die Autoren ausklammern: Wie können die Netto-Gesamtemissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts auf null sinken? Dazu braucht es zwingend einen Übergang zu CO2-armer und CO2-freier Mobilität, welcher sich durch die zunehmende Elektrifizierung des Sektors erreichen lässt. Es ist allgemein bekannt, dass Lern- und Skaleneffekte auftreten, wenn sich neue Technologien etablieren. Um den Verkehr bis 2050 nahezu emissionsfrei zu gestalten, ist es notwendig, der Elektromobilität jetzt zum Durchbruch zu verhelfen.“
„Schließlich schreibt der Europäische Emissionshandel für den Stromsektor einen Absenkpfad vor. Das bedeutet, dass die Stromemissionen entlang eines festgelegten Pfades bis auf null sinken müssen, unabhängig von der Anzahl der E-Autos. Der von den Autoren suggerierte Zielkonflikt (mehr E-Autos bedeuten mehr CO2-Emissionen) existiert also im Europäischen System nicht.“
Teamleiter und Senior Scientist, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam
Auf die Frage, inwiefern die Argumentation, ein Rechenfehler führe zu seiner systematischen Unterschätzung von CO2-Emissionen beim Laden von Elektroautos, zutrifft:
„Dies trifft nicht zu. Schon der Kern der Argumentation und der Ansatz für die Berechnung sind fragwürdig. Hier wird dem Laden eines Elektroautos ein anderer CO2-intensiverer Strommix zugeordnet als dem Stromverbrauch anderer Anwendungen, sogar wenn beide physikalisch (im selben Moment am selben Ort) den gleichen Strom verbrauchen. Der Grund laut Autoren: Elektroautos sind eine vergleichsweise neue Stromnachfrage. Jedoch, dem Klima hilft eine solche Diskriminierung nicht. Wichtig – und nicht neu – ist die Erkenntnis, dass das Stromsystem noch schneller zu hohen Anteilen von EE-Strom transformiert werden muss, um auch die zusätzliche Nachfrage der Elektrifizierung und Sektorenkopplung decken zu können.“
„Energiesystemmodelle bedürfen keiner Korrektur und berücksichtigen vollständig die Treibhausgasemissionen verschiedener Technologiepfade in Energieszenarien. Die meisten dieser Modelle bestätigen, dass Elektroautos eine notwendige – und wahrscheinlich sogar die wichtigste – Klimaschutzoption zum Erreichen insbesondere der 2030-Klimaschutzziele im Verkehr sind. Im Übrigen sind Elektroautos die Option, die am effizientesten EE-Strom nutzt. Würde man dem (fragwürdigen) Ansatz für Brennstoffzellen-Fahrzeuge (zwei bis drei Mal mehr Strom) oder E-Fuel-PKW (fünf Mal mehr Strom) folgen, so sähen die Ergebnisse entsprechend dramatischer aus.“
Auf die Frage, wie die Berechnung zu bewerten ist:
„Die Berechnung selbst ist mindestens sehr ungenau, ich würde sagen, teilweise sogar fehlerhaft, sodass das Ergebnis auch dann fragwürdig ist, wenn man die Zweifel am Ansatz ignoriert. Für das Elektroauto wurde weder ein stundengenauer Lastgang noch die Möglichkeit des flexiblen Ladens berücksichtigt. Wenn Elektroautos flexibel laden, können sie teilweise dem Angebot von CO2-armen Wind- und Solarstrom folgen und sogar EE-Strom nutzen, der sonst hätte ‚weggeworfen‘ werden müssen. Die CO2-Intensität ihres Ladestroms könnte somit auch kleiner sein als die des durchschnittlichen Strommixes.“
„Auf der Stromangebotsseite wurden die CO2-Intensitäten der Erzeugungsprofile scheinbar stundenscharf berücksichtigt. Allerdings wurden die Erzeugungstechnologien entsprechend ihrer CO2-Intensität teilweise aufsteigend sortiert. Das entspricht nicht der tatsächlichen ökonomischen ‚Merit Order‘ im Strommarkt und verzerrt das Ergebnis, da so die zusätzliche Nachfrage von Strom durch Elektroautos per Annahme die höchste CO2-Intensität erhält.“
Professor für Elektrochemische Energiewandlung und Speichersystemtechnik, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH), Aachen
„Wir haben nicht die einzelnen Zahlen genau nachrechnen oder nachvollziehen können, das würde deutlich mehr Zeit brauchen. Aber folgende grundlegenden Aussagen kann man bereits jetzt sicher machen.“
„Im Wesentlichen argumentieren die Autoren ja, dass für die CO2-Emission nicht der mittlere CO2-Ausstoss pro Kilowattstunde (kWh) Strom heranzuziehen ist, sondern dass die Elektromobilität zusätzlichen Strom braucht und dieser dann im Wesentlichen aus einem fossil befeuerten Kraftwerk stammen wird und eine damit entsprechend höhere Emission darstellt.“
“Dieser Argumentation kann man folgen. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) argumentiert in seiner aktuellen Stellungnahme zu Wasserstoff [6] mit der gleichen Betrachtungsrichtung und sagt, grün kann Wasserstoff nur heißen, wenn er aus EE-Erzeugungsanlagen kommt, die zusätzlich zu den sowieso für die Transformation des Stromsystems vorgesehenen Erzeugungsanlagen errichtet werden. Wenn keine Zusatzkapazitäten gebaut werden, dann kommt der additive Strom für die Wasserstofferzeugung aus einem fossil befeuerten Kraftwerk (oder im Moment sogar noch aus einem AKW, was die Betrachtung ganz schwierig macht). Diese Rechnung muss für die Elektromobilität dann im Prinzip genauso gelten.“
„Allerdings machen auch spezielle Anlagen für den Zusatzstrom nur Sinn, wenn der Stromsektor bereits sehr stark dekarbonisiert ist, ansonsten erzielen die zusätzlichen EE-Anlagen die größte CO2-Reduktionswirkung, wenn die fossile Stromerzeugung reduziert wird.“
„Außerdem wird schätzungsweise zwischen 2035 und 2040 die Stromerzeugung in Deutschland im Prinzip CO2-frei sein und dann entfällt das Argument vollends.“
„In dem Zusammenhang bleibt bei den Autoren zudem auch unerwähnt, dass der Aufbau einer synthetischen Kraftstoffwirtschaft zum einen noch einige Jahre dauern wird und zum anderen dann aber vielleicht nur 10 weitere Jahre genutzt werden könnten, bis sie endgültig abgelöst werden würde.“
„Sofern synthetische Kraftstoffe jetzt an anderen Orten der Welt produziert werden, wie die Gruppe argumentiert, dann gilt zum einen in der Tat, dass dort bereits heute sicher höhere EE-Erträge erzielt werden könnten. Damit reduzierten sich Kosten und CO2-Emissionen der EE-Anlagen pro kWh durch Umlage der Investitionen und der Herstellungsemissionen auf mehr kWh. Wird lokal aus dem Wasserstoff dann ein synthetischer Kraftstoff hergestellt, sind die Transportkosten zudem sehr überschaubar.“
„Allerdings sind an den abgelegenen Standorten, an denen diese günstigen EE-Anlage betrieben werden können, in der Regel keine konzentrierten CO2-Quellen vorhanden, die für die Herstellung der synthetischen Kraftstoffe gebraucht werden. Entweder muss also CO2 vor Ort geschafft werden oder es muss per 'Direct Air Capture' gewonnen werden, was für sich genommen wieder erheblich Energie und auch Geld kostet. Dieser Aspekt fehlt in vielen Rechnungen im Übrigen ebenso, wie die Versorgung mit dem für die Wasserstoffherstellung notwendigen Wassers (siehe dazu auch den SRU-Bericht [6]).“
„Der erhöhte EE-Ertrag in den dafür geeigneten Ländern reicht aber nicht aus, um die Effizienznachteile auszugleichen. Bei den Argumentationen ist darauf zu achten, dass Verbrenner- und elektrische Fahrzeuge gleicher Effizienzklasse miteinander verglichen werden. Daher wird der Weg über synthetische Kraftstoffe insgesamt mehr Ressourcen in Form von Stahl, Beton oder Silizium verbrauchen, als dies für einen batterie-elektrischen Verkehr notwendig ist.“
„Der wichtigste Punkt ist aber, dass quasi alle Länder, die heute als mögliche Standorte für die Wasserstofferzeugung angesehen werden, selber noch eine stark fossile Stromversorgung haben. Die höchste Klimawirkung wird also erzielt, wenn die neuen EE-Anlagen in diesen Ländern die fossilen Kraftwerke ersetzen und nicht synthetische Kraftstoffe für Deutschland erzeugen. Die lokalen Staaten hätten von der eigenen Nutzung der EE-Anlagen auch neben der globalen Klimawirkung ganz direkt lokale Effekte: Weniger Luftverschmutzung und Reduktion des Devisenbedarfs für die Einfuhr fossiler Energieträger.“
„Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Argumentation bezüglich der CO2-Emissionen von batterie-elektrischen Fahrzeugen gefolgt werden kann. Aber das Argument fällt wie ein Bumerang auf Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe zurück, und das in vollem Umfang.“
„Das Fraunhofer ISI ist an einer Vielzahl an Studien zu dieser Thematik beteiligt und hat dabei selbst bewusst den Standpunkt bezogen, dass der Strommix anzusetzen ist. Weitere Informationen sind in den auf der folgenden Webseite verlinkten Dokumenten zu finden [1].“
„Ich habe keine privaten Investitionen in Unternehmen des konventionellen Energiesystems oder Unternehmen der Mobilitätsbranche. Ich habe auch keine privaten Investitionen in Unternehmen, die im erweiterten Sinn der Kraftstoff-, Gas- oder Wasserstoffwirtschaft zuzuordnen sind.“„Am Institut arbeiten wir in gemeinsamen Forschungsprojekten oder im direkten Auftrag mit Unternehmen unter anderem aus der Automobilwirtschaft, Schienenfahrzeugen, Energieversorgern, Batterieherstellern.“„Als Inhaber eines Lehrstuhls, der sich mit Batterietechnik beschäftigt, wird mir von außen immer wieder gerne vorgeworfen, in Wasserstoff eine Bedrohung meines Forschungsthemas zu sehen und mich daher in Teilbereichen skeptisch zu äußern. Dies weise ich ausdrücklich zurück. Ansonsten wäre ich nicht seitens der nationalen Wissenschaftsakademien mit der Leitung des gemeinsamen Projekts zur wissenschaftsbasierten Politikberatung zum ‚Energiesystem der Zukunft (ESYS)‘ berufen worden. Ich habe schon seit den 1990er Jahren an Projekten gearbeitet, die jeweils ein Nebeneinander von Batterie und Wasserstoff, jeder Technologie mit ihren systemischen Stärken, zum Inhalt hatten.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Fraunhofer ISI: Elektroautos, die heute gekauft und in Deutschland genutzt werden, haben eine deutlich bessere Klimabilanz als Diesel und Benziner. Presseinformation.
[2] Jochem P et al. (2015): Assessing CO2 emissions of electric vehicles in Germany in 2030. Transportation Research Part A: Policy and Practice (78): 68-83. DOI: 10.1016/j.tra.2015.05.007.
[3] Xu L et al. (2020): Greenhouse gas emissions of electric vehicles in Europe considering different charging strategies. Transportation Research Part D (87): 102534. DOI: 10.1016/j.trd.2020.102534.
[4] Brown T et al. (2018): Synergies of sector coupling and transmission reinforcement in a cost-optimised, highly renewable European energy system. Energy; 160: 720-739. DOI: 10.1016/j.energy.2018.06.222.
[5] Pfenninger S et al. (2018): Calliope: a multi-scale energy systems modelling framework. JOSS, The Journal of Open Source Software; 3 (29): 825. DOI: 10.21105/joss.00825.
[6] SRU (2021): Wasserstoff für den Klimaschutz. Klasse statt Masse.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Koch T et al. (2021): The averaging bias - a standard miscalculation, which extensively underestimates real CO2 emissions.
[II] Benajes J et al. (2021): Open letter to the European Commission about severe concerns regarding calculus of CO2 emissions and consequent measures. IASTEC.
[III] Science Media Center (2020): Welche Rolle können synthetische Treibstoffe für PKW beim Klimaschutz spielen? Fact Sheet. Stand: 15.12.2020.
[IV] Science Media Center (2020): Welche Rolle können synthetische Treibstoffe für PKW beim Klimaschutz spielen? Science Response. Stand: 22.12.2020.
Prof. Dr. Christian Rehtanz
Institutsleiter, Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3), Technische Universität Dortmund
Dr. Jakob Wachsmuth
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Competence Center Energiepolitik und Energiemärkte, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe
PD Dr. Patrick Jochem
Abteilungsleitung Energiesystemanalyse, Institut für Vernetzte Energiesysteme, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Stuttgart
Dr. Jan Wohland
Postdoctoral Fellow am Department für Umweltsystemwissenschaften, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Schweiz
Dr. Falko Ueckerdt
Teamleiter und Senior Scientist, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam
Prof. Dr. Dirk Uwe Sauer
Professor für Elektrochemische Energiewandlung und Speichersystemtechnik, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH), Aachen