Schätzen Autobesitzer den Nutzen ihres Wagens doch rational ein?
Autobesitzer und Autobesitzerinnen können durchaus rational begründen, warum sie an ihren Fahrzeugen festhalten. Das berichtet ein Team aus Forscherinnen und Forschern aus den USA in der Fachzeitschrift „Nature Sustainability“ (siehe Primärquelle). Die drei Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler hatten sich die Frage gestellt, warum so viele Menschen die Kosten für ihre Fahrzeuge einer Reihe von Studien zufolge offenbar deutlich unterschätzen. Ihr Experiment mit gut 4000 Teilnehmern aus den Regionen Chicago, Dallas, Seattle und Washington DC zeige, so das Team, dass die Menschen neben den direkten Kosten eine Reihe von weiteren Faktoren in ihre Kalkulation einbeziehen, wie zum Beispiel die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit. Die Auswertung zeige: Im Durchschnitt müsse man den Menschen in den USA rund 11.197 US-Dollar zahlen, damit sie für ein Jahr auf ihr Fahrzeug verzichten würden. Während der Pandemie habe die Wertschätzung des Fahrzeugs sogar noch zugenommen.
Institut für Automobilwirtschaft und Industrielle Produktion, Lehrstuhl für Produktion und Logistik, Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
„Die Schlussfolgerungen und die verwendete Methode sind nicht neu und basieren auf den in der Ökonomie seit vielen Jahren üblichen Kalkulationen zur Nutzenbewertung durch die Berechnung von Opportunitätskosten. Diese ergeben sich methodisch mittels Methoden der mathematischen Optimierung oder werden näherungsweise durch empirische Erhebungen bestimmt.“
„Die Ergebnisse können nicht unmittelbar auf Europa übertragen werden, da sich Opportunitätskosten immer an den vorhandenen Mobilitätsalternativen orientieren. Diese sind in hier und speziell auch in Deutschland deutlich weiterentwickelt als in den USA; im urbanen Raum sicherlich auch deutlich besser als im ländlichen Raum.“
Professor für Verkehrsökologie, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Technische Universität Dresden
„Ich kenne die Vorgehensweise und die Details der Studie nicht in allen Einzelheiten, vor allem die Art der Fragen wäre wichtig, die den Studienteilnehmenden gestellt wurden. Was man aber sagen kann: Gut an der Arbeit ist, dass die Autoren einmal mehr sagen, ein Auto ist mehr, als mich nur von A nach B zu bringen. Ein Auto ist außerdem oft auch noch Heimat, ist Wohlfühlen, ist Prestige, ist die Möglichkeit, auch nachts um halb vier einfach so loszufahren. Das sind alles legitime Gründe, die muss man einbeziehen.“
„Trotzdem: Die echten Kosten eines Autos, also das, was wirklich aus dem Geldbeutel abfließt, und der Nutzen, denn man mit diesem Gegenstand verbindet, das sind zwei Paar Schuhe: Wenn ich gefragt werde, was ich so im Monat oder Jahr für mein Auto ausgebe, dann kann ich eine Zahl nennen. Im ehrlichen Fall das, was ich wirklich denke. Wenn erfragt wird: Und was meinen Sie, wie viel ist Ihnen das Auto wert, zum Beispiel, um den Nachbar zu beeindrucken oder auch mal nachts um halb 4 einfach so loszufahren, dann kann ich auch eine Zahl nennen – zum Beispiel: ‚um den Nachbar zu beeindrucken, würde ich 2000 € mehr zahlen als für das Modell, das ich sonst genommen hätte‘. Das ist aber schon schwerer zu quantifizieren.“
„Wenn es aber darum geht, für wie viel Geld ich ein Jahr auf mein Auto verzichte, dann ist das was anderes. Dann muss ich überlegen, wie groß denn der Gesamtvorteil für mich ist. In den USA bedeutet das im Extremfall: Ein Jahr nicht zur Arbeit kommen, ein Jahr nicht einkaufen können, also eigentlich ist das fast unmöglich in manchen US-Bundesstaaten. Als Ökonom ist meine Zahlungsbereitschaft dafür, dass ich überhaupt richtig leben kann, sogar nahe unendlich: Ich gebe logischerweise alles dafür.“
„In Europa würden Sie zudem ganz andere Werte kriegen: Denn hier gibt es noch einen Öffentlichen Nahverkehr! Es wäre vielleicht schwieriger, aber Sie würden doch ein menschenwürdiges Leben führen können.“
„Was ich sagen will: Das kann man untersuchen, es ist aber nicht übertragbar und ökonomisch ohne Belang. Die Frage, warum die Menschen die objektiven Kosten ihrer Autos nicht angeben können, wird von den anderen Effekten überhaupt nicht berührt.“
Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin
„Die Autoren berücksichtigen neben den Pkw-Gesamtkosten auch ‚weiche Faktoren‘, wie die Option, zu jedem Zeitpunkt an (fast) jeden Ort reisen zu können. Dies ist vielversprechend, da der Pkw-Besitz selten ein Selbstzweck darstellt, sondern das Erreichen eines Ziels ermöglicht. Dieses Ziel kann zum Beispiel mit einem selten fahrenden Bus weniger gut erreicht werden, weswegen die Möglichkeit, mit diesem Bus zu fahren, einen geringeren Wert hätte. Die Monetarisierung erlaubt den direkten Vergleich und die Ableitung von Optimierungspotenziale bei der Angebotsgestaltung.“
„Die Gefahr der Überschätzung des monetären Werts entsteht, wenn Menschen unvereinbare Kognitionen haben, zum Beispiel, wenn eine Person viel Geld für ein Fahrzeug bezahlt hat, von dem sie weiß, dass es überteuert ist. Menschen lösen solche Zustände, indem sie ihre Überzeugungen – zum Beispiel vom Fahrzeugwert – anpassen. Sie glauben also die Überschätzung, so dass die Antwort aus subjektiver Sicht korrekt und nicht überschätzt ist.“
„Die Erkenntnis, dass der Wert des Pkw höher als dessen reine Gesamtkosten ist, ist übertragbar. In Europa ist allerdings der öffentliche Personennahverkehr leistungsfähiger, so dass dessen Bewertung hier besser abschneiden sollte. Für die Mobilitätswende lässt sich ableiten, dass alternative Angebote – zum Beispiel öffentlicher Personenverkehr – sehr gut verfügbar sein müssen, wenn es darum geht, Menschen davon zu überzeugen, auf ihren Pkw zu verzichten.“
Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin
„Aus europäischer Sicht werden da leider überhaupt keine überraschenden Ergebnisse vorgestellt. Dass Menschen ihre Arbeits- und Lebensbeziehungen um das Auto herum bauen, das Auto als Schutz, als Struktur und Ermöglichung begreifen, wissen wir bereits. Dass damit dann auch die prinzipielle Verfügbarkeit ein hohes Gut ist, kennen wir ebenfalls schon. Die Quantifizierung kann ich nicht nachvollziehen und ist auch nicht auf Deutschland übertragbar – Autofahren ist in den USA etwa knapp halb so teuer wie bei uns.“
„Dass Menschen, die eine deutlich geringere Abhängigkeit vom Auto haben, dann auch anders angesprochen und motiviert werden können, ist ebenfalls schon bekannt.“
„Es ist immer etwas – ich würde sagen eigentümlich – wenn die US-Amerikaner, auch in den Metropolregionen wie in dieser Studie, versuchen, jenseits des Autos eine Alternative für die Mobilität zu sondieren.“
„Es tut mir leid, dass ich hier leider nichts wirklich Neues erkennen kann. Methodisch gefällt mir das auch nicht wirklich, aber da sind die US-Amerikaner tatsächlich anders, weil sie viel besser alles direkt in US-Dollar umrechnen können. Die Durchkommerzialisierung des Lebens ist dort ja wesentlich weiter als bei uns.“
„Ein Interessenkonflikt besteht nicht.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Moody J et al. (2021): The value of car ownership and use in the United States. Nature Sustainability. DOI: 10.1038/s41893-021-00731-5
Prof. Dr. Thomas Spengler
Institut für Automobilwirtschaft und Industrielle Produktion, Lehrstuhl für Produktion und Logistik, Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Prof. Dr. Udo Becker
Professor für Verkehrsökologie, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Technische Universität Dresden
Prof. Dr. Meike Jipp
Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin
Prof. Dr. Andreas Knie
Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin