AstraZeneca-Impfstoff: Aufgehobene Priorisierung und veränderte Impfabstände
Die Gesundheitsminister und -ministerinnen von Bund und Ländern haben sich in der Konferenz vom 06.05.2021 darauf geeinigt, die Priorisierung für den Impfstoff von AstraZeneca aufzuheben sowie Ärztinnen und Ärzten eine erhöhte Flexibilität im Festlegen des Abstands der beiden Impfdosen zwischen vier und zwölf Wochen einzuräumen. Die Idee brachte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Mittwochabend, 05.05.2021, auf. Der Vorschlag für einen schnelleren Abschluss des Impfschemas mit AstraZeneca ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass Kontaktbeschränkungen und andere Maßnahmen für vollständig Geimpfte aufgehoben werden könnten. Gerade junge Menschen hatten bisher kaum Chancen, solche etwaigen Freiheiten zeitnah zurückzugewinnen. Bundestag und Bundesrat haben einem Vorschlag der Bundesregierung für eine entsprechende Verordnung zugestimmt; sie tritt ab Montag in Kraft.
Leiter des Forschungsbereichs Immunologie, Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), Dortmund
„Zum Impfabstand: Immunologisch gibt es bei der Verkürzung der Impfabstände bei den mRNA-Impfstoffen keine Bedenken – 21 Tage bei BioNTech und 28 Tage bei Moderna waren die Abstände, bei denen die Impfstoffe ihre gute Effektivität von rund 95 Prozent gezeigt haben. Bei AstraZeneca ist das Bild aber anders: Studien haben klar gezeigt, dass die Effektivität bei einem Abstand von weniger als sechs Wochen nur 55 Prozent beträgt und erst bei einem Abstand von zwölf Wochen bei über 80 Prozent liegt! Das ist schon ein gewaltiger Unterschied. Daher muss man den Menschen klar sagen: Wenn Sie Ihren Impfabstand bei AstraZeneca verkürzen, um damit schneller in den Genuss von Lockerungen zu kommen, machen Sie das auf Kosten ihres Immunschutzes!“
„Für die Impfstrategie ist die Verkürzung der Impfabstände der falsche Schritt. Damit bekommen weniger Personen einen frühen Immunschutz durch die erste Impfung. Und gerade jetzt müssen wir noch viele Personen mit Vorerkrankungen durch eine Impfung schützen, um die Folgen der dritten Welle abzumildern. Im Sommer haben wir genügend Zeit, uns um die Zweitimpfungen zu kümmern, die natürlich absolut notwendig sind. Dann sind hoffentlich die Inzidenzen wieder so niedrig, dass alle in den Genuss von Lockerungen kommen und nicht nur die 15 bis 20 Prozent, die wir jetzt mit einer Verkürzung des Impfabstandes schnell vollständig impfen würden.“
„Zur Freigabe von AstraZeneca: Um unsere Impfziele zu erreichen, möglichst viele Menschenleben zu schützen, können wir es uns nicht erlauben, Impfdosen ungenutzt zu lassen. Wenn der Impfstoff von AstraZeneca nicht mehr bei den über 60-jährigen verimpft werden kann, so bin ich absolut für eine Freigabe! Das Risiko der speziellen Thrombosen als Nebenwirkung ist sehr gering. Dagegen ist das Risiko einer schweren Komplikation durch COVID-19 für viele Personen sehr viel höher. Lediglich bei den unter 30-Jährigen würde ich zur Verwendung eines mRNA-Impfstoffes raten.“
Professorin für Vakzinologie, Institut für Medizinische Mikrobiologie, Universität Groningen, Niederlande
„Auf Basis der letzten, noch vorläufigen Daten einer Phase-III-Studie, die in den USA durchgeführt wurde, liegt bei einem vierwöchigen Intervall zwischen den Impfungen der Schutz gegen eine symptomatische Erkrankung bei 76 Prozent, bei Älteren sogar etwas höher [1]. Das ist etwa gleich der Effektivität bei einem längeren Impfintervall. Auf Basis dieser gut ausgeführten Studie gibt es also Hinweise dafür, dass es nicht nachteilig sein muss, das Intervall zu verkürzen. Die Daten sind allerdings seit März noch nicht publiziert worden. Die kombinierte Analyse von vier früheren Studien, die in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, zeigt eine niedrigere Effektivität bei einem kürzerem Intervall, allerdings scheint der Unterschied nicht statistisch signifikant, da die Konfidenzintervalle relativ groß sind [2], der Trend ist jedoch erkennbar.“
Auf die Frage, wie sich eine Verkürzung des Abstands zur zweiten Dosis auf die Wirksamkeit der Impfung und auf die Eindämmung der Pandemie auswirken würde:
„Meine derzeitige Einschätzung ist, dass die Verkürzung keinen großen Einfluss auf die Wirksamkeit haben wird. Ich erwarte allerdings auch keinen Effekt auf die Eindämmung der Pandemie, da der Impfschutz schon nach einer Impfung sehr gut ist, zumindest für den untersuchten Zeitraum von zwölf Wochen.“
Auf die Frage, inwiefern die Aufhebung der Priorisierung mit den aktuellen Daten zur Altersverteilung der seltenen Nebenwirkungen in Einklang zu bringen ist:
„Wie andere medizinische Interventionen sind auch Impfungen nicht ohne Risiko. Letzten Endes geht es um die Abwägung, ob die Impfung oder die Infektion das größere Risiko darstellt. Bei höherem Alter oder Vorerkrankungen, aber auch bei einem großen Risiko auf Infektion, ist das Risiko einer Erkrankung mit schwerwiegenden Folgen sicher größer einzuschätzen als das Risiko durch die Impfung. Ich finde es darum richtig, die Einschätzung den Leuten selbst zu überlassen, nach Rücksprache mit dem Hausarzt.“
Direktor des Mikrobiologischen Instituts – Klinische Mikrobiologie, Immunologie und Hygiene, Universitätsklinikum Erlangen, und Mitglied der Ständigen Impfkommission
„Auch wenn die Zulassung einen Impfabstand von vier Wochen erlaubt, sehe ich die Verkürzung des Impfintervalls beim Impfstoff Vaxzevria von zwölf auf unter sechs Wochen sehr kritisch, da dies nachweislich zu einer Reduktion der Schutzwirkung von 82 Prozent auf 54 Prozent führt [2]. Zudem wird durch eine Verkürzung des Impfintervalls an sich die Pandemiebekämpfung nicht verbessert.“
„Durch die Verkürzung des Impfabstands und den gleichzeitigen Wegfall der Priorisierung für den AstraZeneca-Impfstoff erreicht man vor allem diejenigen Menschen, die möglichst schnell den Status des ‚vollständig Geimpften‘ erlangen wollen. Dies werden mehrheitlich vor allem junge Menschen sein, die an COVID-19 aber nur äußert selten schwer oder gar tödlich erkranken. Wichtig wird sein, dass durch eine solche Strategie nicht die zahlreichen gefährdeten Menschen, die bisher noch nicht geimpft sind – unter anderem 20 Prozent der über 80-Jährigen, 46 Prozent der 70- bis 79-Jährigen und 69 Prozent der 60- bis 69-Jährigen –, ohne zeitnahes Impfangebot bleiben.“
Stellvertretender Institutsdirektor Epidemiologie und Sozialmedizin und Leiter der Klininschen Epidemiologie, Universitätsklinikum Münster
„Die Ergebnisse bisheriger Studien deuten klar darauf hin, dass bei dem Impfstoff von AstraZeneca mit einem Abstand von zwölf statt vier Wochen zwischen den beiden Impfdosen ein besserer langfristiger Schutz nach Erhalt beider Impfdosen erreicht werden kann. Das setzt aber voraus, dass in beiden Fällen auch wirklich beide Impfdosen verimpft werden. Zudem muss berücksichtigt werden, dass der noch geringere Schutz durch die erste Dosis für eine längere Zeit bestehen bleibt, wenn der Abstand zur zweiten Dosis groß gewählt ist. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren könnte das Vorziehen der zweiten Impfdosis zumindest theoretisch tatsächlich dazu beitragen, dass schneller ein besserer Gesamtschutz der Gesellschaft erzielt werden kann. Viele Termine der Zweitimpfung würden bei Erstimpfung in den nächsten Wochen bei Beibehaltung des Abstands von zwölf Wochen in die Sommermonate fallen, in denen viele verreisen möchten und die Infektionsdynamik zudem weniger dramatisch als in den vergangenen Monaten sein könnte. Wenn die zur zweiten Impfdosis eingeladenen Personen dann im Urlaub sind und aufgrund der abnehmenden Infektionsdynamik dann zusätzlich weniger motiviert zur Nachholung des versäumten Impftermins sein sollten, so verpassen diese Menschen womöglich ihre zweite Impfdosis. Diese ist nicht nur für den Schutz der einzelnen Person wichtig ist, sondern trägt auch relevant zum Bevölkerungsschutz bei. Wenn die Verkürzung des Abstands zwischen den Impfdosen also dazu führen würde, dass mehr Zweitimpfungen aufgenommen werden, dann kann diese Maßnahme auf Populationsebene sinnvoll ein, auch wenn das längere Impfintervall auf Individualebene besser wäre. Aus meiner Sicht reichen die aktuell vorhandenen Daten allerdings nicht aus, diese komplexe Abwägung mit ausreichend Evidenz zu unterfüttern, sodass die Argumente für eine Verkürzung des Abstandes zwischen den beiden Impfdosen aus meiner Sicht auch aus Bevölkerungsperspektive eher schwach bleiben.“
„Es liegen bei mir keine Interessenkonflikte vor.”
„Ich habe keine Interessenkonflikte.”
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] AstraZeneca (25.03.2021): AZD1222 US Phase III primary analysis confirms safety and efficacy. Pressemitteilung des Unternehmens.
[2] Voysey M et al. (2021): Single-dose administration and the influence of the timing of the booster dose on immunogenicity and efficacy of ChAdOx1 nCoV-19 (AZD1222) vaccine: a pooled analysis of four randomised trials. The Lancet; 397(10277): 881-891. DOI: 10.1016/S0140-6736(21)00432-3.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Ständige Impfkommission (2021): Mitteilung der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut Beschluss der STIKO zur 4. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung. Epidemiologisches Bulletin; 16: 3-78. DOI: 10.25646/8277.2.
[II] Voysey M et al. (2021): Safety and efficacy of the ChAdOx1 nCoV-19 vaccine (AZD1222) against SARS-CoV-2: an interim analysis of four randomised controlled trials in Brazil, South Africa, and the UK. The Lancet; 397(10269): 99-111. DOI: 10.1016/S0140-6736(20)32661-1.
[III] EMA (o.D.): ANHANG I ZUSAMMENFASSUNG DER MERKMALE DES ARZNEIMITTELS. Produktinformation Vaxzevria.
[IV] Voysey M et al. (2021): Single-dose administration and the influence of the timing of the booster dose on immunogenicity and efficacy of ChAdOx1 nCoV-19 (AZD1222) vaccine: a pooled analysis of four randomised trials. The Lancet; 397(10277): 881-891. DOI: 10.1016/S0140-6736(21)00432-3.
[V] Ständige Impfkommission (06.05.2021): STIKO zur Priorisierung, Pressemitteilung.
Prof. Dr. Carsten Watzl
Leiter des Forschungsbereichs Immunologie, Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), Dortmund
Prof. Dr. Anke Huckriede
Professorin für Vakzinologie, Institut für Medizinische Mikrobiologie, Universität Groningen, Niederlande
Prof. Dr. Christian Bogdan
Direktor des Mikrobiologischen Instituts – Klinische Mikrobiologie, Immunologie und Hygiene, Universitätsklinikum Erlangen, und Mitglied der Ständigen Impfkommission
Prof. Dr. André Karch
Stellvertretender Institutsdirektor Epidemiologie und Sozialmedizin und Leiter der Klininschen Epidemiologie, Universitätsklinikum Münster