Sind die Szenarien zur Energieeinsparung für das 1,5 Grad Ziel realistisch?
Der pro-Kopf Energieverbrauch könnte sich in den kommenden Jahrzehnten nicht so stark vom Wirtschaftswachstum entkoppeln, wie es eine wichtige Gruppe von Klimamodellen errechnet, und wie es für eine Bekämpfung der Erderwärmung notwendig wäre. Vor allem, wenn es darum geht, das 1,5 Grad Ziel von Paris zu erreichen. Das berichtet ein Forscherteam am 25.01.2021 in Nature Climate Change (siehe Primärquelle). Die Autoren bringen diesen Effekt vor allem mit Szenarien in Verbindung, die der Weltklimarat IPCC aus den zur Verfügung stehenden Studien entwickelt.
Leiterin der Arbeitsgruppe Nachhaltiges Ressourcenmanagement und globaler Wandel, Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change gGmbH (MCC), Berlin
„Meines Erachtens geht es hier vor allem um eine Diskussion darüber, ob die Annahmen über zukünftige Entwicklungen oder die Umsetzbarkeit bestimmter Maßnahmen plausibel sind. Es wurden in der Vergangenheit häufig historische Daten herangezogen, um die Plausibilität von Szenarien zu überprüfen. Manchmal wurden Modellergebnisse validiert, manchmal wurden sie als zu optimistisch oder gar zu konservativ befunden. Dadurch konnten die Modelle oft verbessert werden und das ist als gesunder wissenschaftlicher Prozess zu verstehen.“
„Eins ist aber wichtig, wenn man aus solchen Studien direkt Konsequenzen für die Klimapolitik ziehen möchte: Wie der Weltklimarat im 1,5 Grad Sonderbericht selbst feststellte, zeichnet sich die absolute Mehrheit der 1,5-Grad-Pfade durch ‚historisch beispiellose‘ Veränderungen aus – das ist an einem Ende des Spektrums die drastische Senkung der Energienachfrage unter der Herausforderung, dass viele Länder sich noch in einem Entwicklungsprozess mit steigendem Energiebedarf befinden. Auf der anderen Seite sehen wir großskalige CO2-Entnahmen aus der Atmosphäre, deren Machbarkeit auch sehr kritisch diskutiert wird.“
„Meines Erachtens ist es positiv zu bewerten, dass der Szenarienraum weiter geöffnet wurde und es nun auch Szenarien am nachfrageseitig-orientierten Ende des Spektrums gibt. Dies ermöglicht eine Deliberation der Möglichkeiten, bei der es gut möglich ist, dass schließlich ein Weg gewählt wird, der irgendwo in der Mitte des Spektrums ist; bei dem vielleicht nicht das ganze nachfrageseitige Klimaschutzpotenzial gehoben werden, aber trotzdem die Abhängigkeit von CO2-Entnahme-Technologien zum Teil eingeschränkt werden kann. Dass es hierfür die notwendigen Maßnahmen seitens der Politik zu setzen gilt – was in der Realität nicht so problemlos funktioniert wie im Modell – und dass es ebenso Herausforderungen bei Finanzierung, Institutionen und Innovation geben wird, steht außer Frage. Meines Erachtens erheben die globalen Modelle aber auch nicht den Anspruch, dass sie diese Fragen beantworten. Hier gibt es zum Glück eine Menge komplementärer Ansätze, die wichtig sind, um der Politik die nötige Hilfestellung zu geben.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Competence Center Energiepolitik und Energiemärkte, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe
„Die Studie von Semieniuk et al. vergleicht die historischen Entwicklungspfade der industrialisierten Länder mit den künftigen Entwicklungspfaden von heute weniger entwickelten Ländern, wie sie in den Szenarien zum Erreichen der Pariser Klimaziele unterstellt werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Welt zum Erreichen der Pariser Klimaziele bereits über die kommende Dekade hinweg einen Entwicklungspfad verfolgen muss, der gravierend von historischen Entwicklungspfaden abweicht, also außerhalb bisheriger Bandbreiten liegt.“
„Dies gilt auch für die bisher wenig bis mittelmäßig entwickelten Länder des globalen Südens. Zum Erreichen der Ziele muss sich ihre wirtschaftliche Entwicklung viel früher vom Energieverbrauch entkoppeln, als dies bei den bereits industrialisierten Ländern der Fall ist. Dies ist nur durch sogenanntes leap frogging, also das Überspringen bestimmter Entwicklungsstufen möglich. Wie Semieniuk et al. richtig darstellen, geht dies nur mit hohen Investitionen in effiziente Technologien, welche für die sich entwickelnden Länder aus eigener Kraft nicht in vollem Umfang zu stemmen sind.“
„Dies bedeutet, dass es seitens der industrialisierten Länder – insbesondere der EU und Deutschlands – neben der in der EU kürzlich angestoßenen, notwendigen Verschärfung der eigenen Emissionsminderungsziele auch eines Ausbaus der finanziellen und technischen Unterstützung der sich entwickelnden Länder bedarf. Insbesondere dürfen diese nicht gegeneinander ausgespielt werden. Zu einer solchen Unterstützung haben sich die industrialisierten Länder mit dem Pariser Klimaabkommen verpflichtet – wie auch in diesemDiskussionspapier zu lesen [1] .“
„Die generelle Kritik von Semieniuk et al. an den Szenarien zum Erreichen der Klimaziele teile ich nicht vollumfänglich. Denn selbst in ihrer Studie zeigt sich, dass in den Szenarien eine große Bandbreite von Entwicklungen abgebildet wird, und das Überwinden historischer Entwicklungspfade eben erforderlich ist.“
„Nichstdestotrotz ist es absolut richtig, dass Annahmen zu Wirtschaftswachstum und Energieverbräuchen mit plausiblen regionalen Entwicklungspfaden abgeglichen werden müssen. Insbesondere ist es wichtig, die Ergebnisse der globalen Modelle, welche regionale Details nicht in vollem Umfang abbilden können, stets den Ergebnissen von regionalen Analysen und Modellen gegenübergestellt werden sollten. Ein solcher Prozess läuft in der wissenschaftlichen Community bereits. Die Szenarien des kommenden IPCC-Berichts werden an dieser Stelle Verbesserungen bringen, aber auch danach wird die regionale Vertiefung weiter fortgesetzt werden müssen.“
Wissenschaftlicher Geschäftsführer, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH, Wuppertal
Allgemein zum Thema Ergebnisse der Integrated Assessment Modelle zur Energieeinsparung:
„Integrated Assessment Modelle basieren in ihren makroökonomischen Teilen typischerweise auf historischen Daten, die sie versuchen, in die Zukunft fortzuschreiben. Gerade hinsichtlich langfristiger Zukunftsbetrachtungen ist dies zwangsläufig aufgrund der großen Dynamiken mit großen Unsicherheiten verbunden. So können strukturelle Veränderungen, für die keine historischen Beispiele vorliegen, nicht oder kaum genau modelliert werden. Bei dem anstehenden klimaschutzbedingten Transformationspfad geht es aber genau um die Umsetzung von solchen strukturellen Veränderungen, ohne die die Einhaltung der notwendigen Klimaschutzziele nicht möglich ist.“
„In Bezug auf die Abschätzung des Energiebedarfs kommen wir in unseren Analysen eher zu einem gegenteiligen Ergebnis, vor allem hinsichtlich der Tatsache, dass die Umsetzung der Energieeffizienzpotenziale von Integrated Assessment Modellen regelmäßig und systematisch unterschätzt werden. Dies liegt zum einen an der geringen technischen Auflösung der meisten Modelle, die eine hinreichende Abbildung von Energieeffizienztechnologien nicht zulassen. Zum anderen liegt es aber daran, dass im Allgemeinen ‚nur‘ versucht wird (beziehungsweise werden kann), die Wirkung aggregierter Instrumente wie den CO2-Preis zu modellieren, statt die Wirkung eines Instrumentenmixes abzuschätzen. In der politischen Praxis kommt üblicherweise ein Verbund von Instrumenten zum Einsatz, die zum Teil deutlich zielgenauer Energieeffizienzpotenziale adressieren können (zum Beispiel über Energieeffizienzstandards).“
„Auch in Hinblick auf die Entwicklung in weniger entwickelten Regionen der Welt kommt es systematisch zu einer Unterschätzung der möglichen Effekte, da zum Beispiel das Überspringen von Entwicklungsschritten, wie sie die Industrieländer gemacht haben, durch das sogenannte leap frogging (das heißt: den direkten Übergang auf die jeweils beste Technologie) nicht abgebildet wird.“
„Keine“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Semieniuk L et al. (2021): Plausible energy demand patterns in a growing global economy with climate policy. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-020-00975-7.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
Höhne N et al. (2020): Fair contributions versus fastest possible reductions. Equity considerations in the context of Paris Agreement and climate emergency climate emergency. New Climate Institute.
Prof. Dr. Sabine Fuss
Leiterin der Arbeitsgruppe Nachhaltiges Ressourcenmanagement und globaler Wandel, Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change gGmbH (MCC), Berlin
Dr. Jakob Wachsmuth
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Competence Center Energiepolitik und Energiemärkte, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe
Prof. Dr. Manfred Fischedick
Wissenschaftlicher Geschäftsführer, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH, Wuppertal