Medizin & Lebenswissenschaften

9. September 2020

Impfstoffstudien von AstraZeneca gegen SARS-CoV-2 pausieren

Der Pharmahersteller AstraZeneca pausierte vorsorglich und vorläufig Impfungen im Rahmen seiner klinischen Studien im Vereinigten Königreich, in den USA, Südafrika und Brasilien. Die Studien der Phase II/III und III testen derzeit Sicherheit, Wirksamkeit und Immunogenität eines Vektor-Impfstoffs zum Schutz vor dem SARS-CoV-2-Virus, der am Jenner Institut der Universität Oxford entwickelt wurde. Bei einer Studienteilnehmerin im Vereinigten Königreich bestehe aktuell der Verdacht einer unerwarteten schwerwiegenden Nebenwirkung (eine sogenannte SUSAR-Meldung Suspected Unexpected Adverse Reaction), die Probandin zeige milde Symptome einer vorläufig als Transverse Myelitis diagnostizierten neurologischen Erkrankung, erhole sich aber derzeit, sagte der Firmenchef Pascal Soriot laut Stat-News auf einer Investorenkonferenz (Primärquelle I). Unklar bleibt, ob die Diagnose bereits von unabhängigen Data Safety Monitoring Boards der klinischen Studie bestätigt oder eventuell korrigiert wurde.

Zuvor hatten bereits Recherchen von Nature-News nahegelegt (Primärquelle II), dass in einem früheren Dokument zur Patientenaufklärung der Phase II/III UK-Studie vom 12. Juli über einen weiteren Fall eines Probanden mit Verdacht auf Transverse Myelitis berichtet wurde, der offenbar ebenfalls zu einer kurzfristigen Unterbrechung der UK-Studie geführt habe, später allerdings als nicht mit dem Impfstoff in Verbindung stehendes neurologisches Ereignis eingestuft wurde (Primärquelle III und IV, Seite 10). Bisher sollen in den klinischen Studien bereits 17.000 Probanden geimpft und eingeschlossen worden sein [12]. Erst Ende August startete das Unternehmen eine eigene Phase-III-Studie in den USA [2], die von den National Institutes of Health (NIH) koordiniert und ebenfalls von einem unabhängigen Data Safety Monitoring Board überwacht wird.

Das Fact Sheet können Sie hier als PDF-Dokument herunterladen.

Statements von Experten finden Sie in dieser Rapid Reaction.

Übersicht

  • Warum wurde die klinische Studie unterbrochen?
  • Was ist Transverse Myelitis (TM)?
  • Transverse Myelitis und Zusammenhang zu Infektionskrankheiten & Impfungen
  • Um welchen Impfstoff geht's?
  • Primärquellen
  • Literaturstellen, die zitiert wurden

Warum wurde die Impfung in globalen klinischen Studien unterbrochen?

  • Aktuell betroffen war offenbar eine Frau, die in UK nach einer Impfung mit dem ChAdOx1 nCoV-19 Impfstoff neurologische Symptome entwickelte, die mit einer seltenen, aber ernsthaften Entzündungsstörung des Rückenmarks, der sogenannten Transversen Myelitis, übereinstimmen sollen (nähere Informationen zur Erkrankung siehe unten).

  • Derzeit ist noch offen, ob sich der klinische Verdacht in weiteren Untersuchungen bestätigt [I].

  • Bekannt wurde inzwischen zudem, dass es sich nicht um einen, sondern um zwei „Suspected Unexpected Serious Adverse Reaction“ (SUSAR) handelt, also um „Verdachtsfälle einer unerwarteten schwerwiegenden Nebenwirkung“ im Rahmen von klinischen Studien der Phase II/III in Großbritannien,die auch meldepflichtig gegenüber Arzneimittelbehörden sind.

  • Offenbar war im Juli bereits einmal der Verdacht auf eine Transverse Myelitis aufgekommen und sogar in die Patienteninformationen aufgenommen worden, der sich aber nach weiteren Untersuchungen nicht bestätigt haben soll und im August aus den Patienteninformationen entfernt wurde [II-IV].

  • Ein unabhängiges Komitee prüft derzeit, ob und wenn ja welche Sicherheitsbedenken bestehen und ob und wann die globalen Studien weiterlaufen können [3].

  • Sogenannte Data and Safety Monitoring Boards (DSMB) begleiten klinische Studien am Menschen, um Sicherheitsaspekte und das Studiendesign regelmäßig und unverblindet zu prüfen – ihnen liegen also die Patientendaten offen. Sie beraten die durchführenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Fragen der Studiengröße, vorzeitige Beendigung oder bei Sicherheitsprobleme und sprechen Empfehlungen aus.

  • Ein Pausieren klinischer Studien gehört also zum Qualitätssicherungsprozess und soll den Schutz teilnehmender Patienten sicherstellen.

  • Bei der Überprüfung auftretender Erkrankungen und ihrem möglichen Zusammenhang zu einer Impfung kann es schwierig sein, zufällig auftretende Erkrankungen und durch die Impfung ausgelöste Erkrankungen auseinander zu halten.

  • In einem Rechenexempel internationaler Forscher beispielsweise müssten nach einer hypothetischen Impfquote von 80 Prozent einer Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV) drei Fälle von Asthma und Allergie pro 100.000 Geimpfte innerhalb von 24 Stunden nach Impfung und zwei Fälle von Diabetes pro 100.000 Geimpfte innerhalb einer Woche nach Impfung auftreten, die aber dem Hintergrundrauschen der zufällig auftretenden Krankheiten zugerechnet werden müssten [4]. Diese sogenannte Hintergrundinzidenz von häufigen und seltenen Erkrankungen muss berücksichtigt werden, weil es im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen auch zu Krankheiten kommen kann, die nicht kausal mit der Impfung in Verbindung stehen.

  • Bei einer angenommenen Inzidenz (Anzahl Neuerkrankungen) der Diagnose „Transverse Myelitis“ von 1zu 250.000 (siehe nächster Punkt) würden im Vereinigten Königreich allein circa 270 Fälle pro Jahr auftreten, also circa 22 Fälle im Monat.

Was ist Transverse Myelitis (TM)?

  • akute, entzündliche Erkrankung des Rückenmarks [5]
  • das körpereigene Immunsystem (autoimmun) greift dabei die Myelinscheiden der Nervenzellen im Rückenmark an – sie sind maßgeblich an einer schnellen Reizleitung in den Fortsätzen der Neurone (Axone) über weite Strecken beteiligt
  • kann ohne bekannte Ursache (idiopathisch) oder als Folge einer anderen bekannten entzündlichen Erkrankung, wie Multipler Sklerose oder auch einer Infektionskrankheit auftreten (sekundär)
  • ist eine seltene Erkrankung – ein neuer Fall pro einer viertel Million bis eine Million Menschen pro Jahr (Inzidenz 1:250.000 bis 1:1.000.000)
  • verursacht diverse Symptome im auf neurologischer Ebene, wie Muskelspasmen, Schmerzen und Störung von autonomen Körperfunktionen

Transverse Myelitis und Zusammenhang zu Infektionskrankheiten & Impfungen

  • Häufig geht der Transversen Myelitis eine Infektionskrankheit mit verschiedenen Erregern voraus, letztendlicher Mechanismus ist bisher nicht vollständig geklärt [6]
  • Vier verschiedene Mechanismen werden vorgeschlagen, wie Erreger die Erkrankung auslösen können oder bei bestimmten Patienten eine Immunreaktionen verstärken können:
    • Bystander-Effekt – der Erreger selbst löst eine Immunreaktion aus, die sich auch gegen körpereigene Gewebe richtet, der Erreger muss sich im Rückenmark befinden
    • Molekulare Mimikry – Oberflächenmoleküle des Erregers ähneln denen auf körpereigenen Geweben, das Immunsystem bildet Antikörper gegen diese Antigene, die sich dann auch gegen körpereigene Gewebe richten
    • Mikrobielle Superantigen-vermittelte Entzündung – Superantigene können eine starke T-Zell-Antwort auslösen, bei der auch autoreaktive T-Zellen entstehen können
    • Humorale Immunantwort (Antikörper) – reagiert der Körper auf eine Infektion mit einer extrem hohen Antikörperproduktion können diese verklumpen und sich ablagern, teilweise auch im Rückenmark und dort für Entzündungsprozesse sorgen
  • Der letztgenannte Mechanismus steht in Zusammenhang mit einem einzigen Fallbericht einer Booster-Impfung gegen das Hepatitis-B-Virus [7]
  • Humane Adenoviren können in seltenen Fällen Entzündungen des zentralen Nervensystems auslösen [8]; der betroffene Impfstoff nutzt einen Adenovirus, der bei Schimpansen kursiert, als Vehikel

Um welchen Impfstoff geht's?

  • Impfstoff AZD1222, entwickelt unter dem Namen ChAdOx1 nCoV-19 von der Universität Oxford
  • Basiert auf einem Adenovirus – Auslöser von Erkältungen bei Schimpansen – als Träger der Erbinformation für das Spike-Protein von SARS-CoV-2, gegen das Immunsystem reagieren soll
  • In einer Phase-I/II-Studie des Impfstoffs im Vereinigten Königreich zeigte sich an 1077 Probanden [9]:
    • Eine Immunantwort in Form von neutralisierenden Antikörpern und spezifischen T-Zellen
    • keine schwerwiegenden Nebenwirkungen, aber lokale und systemische wie Kopf- und Muskelschmerzen und häufig Fieber
    • zehn der Probanden bekamen eine zweite Dosis des Impfstoffs (Booster)
  • in der laufenden Phase-III-Studie soll ein Wirkungsnachweis erbracht und Informationen über seltenere Nebenwirkungen gesammelt werden [2]; Hintergrundinformationen zu klinischen Studien siehe [10]
  • insgesamt sollen 30.000 Menschen in den USA, Peru und Chile geimpft werden, sie ist Ende August gestartet [11]

Primärquellen

Wu KJ et al. (08.09.2020): AstraZeneca Pauses Vaccine Trial for Safety Review. New York Times.

Literaturstellen, die zitiert wurden

[3] Rebecca Robbins Twitter Thread zu den Mitteilungen von AstraZeneca: https://twitter.com/RebeccaDRobbins/status/1303452507641839616

[4] Sigrist CA et al. (2007): Human Papilloma Virus Immunization in Adolescent and Young Adults: A Cohort Study to Illustrate What Events Might be Mistaken for Adverse Reactions. The Pediatric Infectious Disease Journal; 26 (11): 979-984. DOI: 10.1097/INF.0b013e318149dfea.

[5] Jacob A et al. (2010): Myelitis, akute transverse. Orphanet

[6] Rodriguez Y et al. (2018): Guillain-Barré syndrome, transverse myelitis and infectious diseases. Cell Mol Immunol.; 15 (6): 547-562. DOI: 10.1038/cmi.2017.142.

[7] Matsui M et al. (1996): Recurrent demyelinating transverse myelitis in a high titer HBs-antigen carrier. J Neurol Sci; 139 (2): 235-7. PMID: 8856658.

[8] Vidal LR et al. (2019): Human adenovirus meningoencephalitis: a 3-years' overview. J Neurovirol; 25(4): 589-596. DOI: 10.1007/s13365-019-00758-7.

[10] Science Media Center (2017): Arzneimittel: Von der Entwicklung bis zur Zulassung. Fact Sheet. Stand 02.12.2017.