Impfstoffstudien von AstraZeneca gegen SARS-CoV-2 pausieren
Der Pharmahersteller AstraZeneca pausierte vorsorglich und vorläufig Impfungen im Rahmen seiner klinischen Studien im Vereinigten Königreich, in den USA, Südafrika und Brasilien. Die Studien der Phase II/III und III testen derzeit Sicherheit, Wirksamkeit und Immunogenität eines Vektor-Impfstoffs zum Schutz vor dem SARS-CoV-2-Virus, der am Jenner Institut der Universität Oxford entwickelt wurde. Bei einer Studienteilnehmerin im Vereinigten Königreich bestehe aktuell der Verdacht einer unerwarteten schwerwiegenden Nebenwirkung (eine sogenannte SUSAR-Meldung Suspected Unexpected Adverse Reaction), die Probandin zeige milde Symptome einer vorläufig als Transverse Myelitis diagnostizierten neurologischen Erkrankung, erhole sich aber derzeit, sagte der Firmenchef Pascal Soriot laut Stat-News auf einer Investorenkonferenz (Primärquelle I). Unklar bleibt, ob die Diagnose bereits von unabhängigen Data Safety Monitoring Boards der klinischen Studie bestätigt oder eventuell korrigiert wurde.
Zuvor hatten bereits Recherchen von Nature-News nahegelegt (Primärquelle II), dass in einem früheren Dokument zur Patientenaufklärung der Phase II/III UK-Studie vom 12. Juli über einen weiteren Fall eines Probanden mit Verdacht auf Transverse Myelitis berichtet wurde, der offenbar ebenfalls zu einer kurzfristigen Unterbrechung der UK-Studie geführt habe, später allerdings als nicht mit dem Impfstoff in Verbindung stehendes neurologisches Ereignis eingestuft wurde (Primärquelle III und IV, Seite 10). Bisher sollen in den klinischen Studien bereits 17.000 Probanden geimpft und eingeschlossen worden sein [12]. Erst Ende August startete das Unternehmen eine eigene Phase-III-Studie in den USA [2], die von den National Institutes of Health (NIH) koordiniert und ebenfalls von einem unabhängigen Data Safety Monitoring Board überwacht wird.
Das Fact Sheet können Sie hier als PDF-Dokument herunterladen.
Statements von Experten finden Sie in dieser Rapid Reaction.
Aktuell betroffen war offenbar eine Frau, die in UK nach einer Impfung mit dem ChAdOx1 nCoV-19 Impfstoff neurologische Symptome entwickelte, die mit einer seltenen, aber ernsthaften Entzündungsstörung des Rückenmarks, der sogenannten Transversen Myelitis, übereinstimmen sollen (nähere Informationen zur Erkrankung siehe unten).
Derzeit ist noch offen, ob sich der klinische Verdacht in weiteren Untersuchungen bestätigt [I].
Bekannt wurde inzwischen zudem, dass es sich nicht um einen, sondern um zwei „Suspected Unexpected Serious Adverse Reaction“ (SUSAR) handelt, also um „Verdachtsfälle einer unerwarteten schwerwiegenden Nebenwirkung“ im Rahmen von klinischen Studien der Phase II/III in Großbritannien,die auch meldepflichtig gegenüber Arzneimittelbehörden sind.
Offenbar war im Juli bereits einmal der Verdacht auf eine Transverse Myelitis aufgekommen und sogar in die Patienteninformationen aufgenommen worden, der sich aber nach weiteren Untersuchungen nicht bestätigt haben soll und im August aus den Patienteninformationen entfernt wurde [II-IV].
Ein unabhängiges Komitee prüft derzeit, ob und wenn ja welche Sicherheitsbedenken bestehen und ob und wann die globalen Studien weiterlaufen können [3].
Sogenannte Data and Safety Monitoring Boards (DSMB) begleiten klinische Studien am Menschen, um Sicherheitsaspekte und das Studiendesign regelmäßig und unverblindet zu prüfen – ihnen liegen also die Patientendaten offen. Sie beraten die durchführenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Fragen der Studiengröße, vorzeitige Beendigung oder bei Sicherheitsprobleme und sprechen Empfehlungen aus.
Richtlinie für Data Monitoring Commitees der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA)
Richtlinie für Data and Safety Monitoring Boards des National Institutes of Allergy and Diseases in den USA
Ein Pausieren klinischer Studien gehört also zum Qualitätssicherungsprozess und soll den Schutz teilnehmender Patienten sicherstellen.
Bei der Überprüfung auftretender Erkrankungen und ihrem möglichen Zusammenhang zu einer Impfung kann es schwierig sein, zufällig auftretende Erkrankungen und durch die Impfung ausgelöste Erkrankungen auseinander zu halten.
In einem Rechenexempel internationaler Forscher beispielsweise müssten nach einer hypothetischen Impfquote von 80 Prozent einer Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV) drei Fälle von Asthma und Allergie pro 100.000 Geimpfte innerhalb von 24 Stunden nach Impfung und zwei Fälle von Diabetes pro 100.000 Geimpfte innerhalb einer Woche nach Impfung auftreten, die aber dem Hintergrundrauschen der zufällig auftretenden Krankheiten zugerechnet werden müssten [4]. Diese sogenannte Hintergrundinzidenz von häufigen und seltenen Erkrankungen muss berücksichtigt werden, weil es im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen auch zu Krankheiten kommen kann, die nicht kausal mit der Impfung in Verbindung stehen.
Bei einer angenommenen Inzidenz (Anzahl Neuerkrankungen) der Diagnose „Transverse Myelitis“ von 1zu 250.000 (siehe nächster Punkt) würden im Vereinigten Königreich allein circa 270 Fälle pro Jahr auftreten, also circa 22 Fälle im Monat.
Robbins R et al. (08.09.2020): AstraZeneca Covid-19 vaccine study put on hold due to suspected adverse reaction in participant in the U.K. STATNews.
Wu KJ et al. (08.09.2020): AstraZeneca Pauses Vaccine Trial for Safety Review. New York Times.
[1] ClinicalTrials.gov: Investigating a Vaccine Against COVID-19.
[2] ClinicalTrials.gov: Phase III Double-blind, Placebo-controlled Study of AZD1222 for the Prevention of COVID-19 in Adults.
[3] Rebecca Robbins Twitter Thread zu den Mitteilungen von AstraZeneca: https://twitter.com/RebeccaDRobbins/status/1303452507641839616
[4] Sigrist CA et al. (2007): Human Papilloma Virus Immunization in Adolescent and Young Adults: A Cohort Study to Illustrate What Events Might be Mistaken for Adverse Reactions. The Pediatric Infectious Disease Journal; 26 (11): 979-984. DOI: 10.1097/INF.0b013e318149dfea.
[5] Jacob A et al. (2010): Myelitis, akute transverse. Orphanet
[6] Rodriguez Y et al. (2018): Guillain-Barré syndrome, transverse myelitis and infectious diseases. Cell Mol Immunol.; 15 (6): 547-562. DOI: 10.1038/cmi.2017.142.
[7] Matsui M et al. (1996): Recurrent demyelinating transverse myelitis in a high titer HBs-antigen carrier. J Neurol Sci; 139 (2): 235-7. PMID: 8856658.
[8] Vidal LR et al. (2019): Human adenovirus meningoencephalitis: a 3-years' overview. J Neurovirol; 25(4): 589-596. DOI: 10.1007/s13365-019-00758-7.
[9] Folegatti PM et al. (2020): Safety and immunogenicity of the ChAdOx1 nCoV-19 vaccine against SARS-CoV-2: a preliminary report of a phase 1/2, single-blind, randomised controlled trial. The Lancet; 396 (10249): 467-478. DOI: 10.1016/S0140-6736(20)31604-4.
[10] Science Media Center (2017): Arzneimittel: Von der Entwicklung bis zur Zulassung. Fact Sheet. Stand 02.12.2017.
[11] AstraZeneca (31.08.2020): Development of COVID-19 vaccine AZD1222 expands into US Phase III clinical trial across all adult age groups.
[12] Ashfield R et al. (08.09.2020): Oxford scientists: these are final steps we're taking to get our coronavirus vaccine approved. The Conversation.