Großer Corona-Ausbruch in Schlachthof und Schulschließungen
Bei dem Fleischverarbeitungsbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück wurde ein erneuter Ausbruch von COVID-19 nachgewiesen. Von den bereits 983 untersuchten Mitarbeitern erhielten mittlerweile 657 einen positiven Nachweis [I]. Zuvor gab es bereits Ausbrüche Schlachthofbetrieben zum Beispiel in Coesfeld und Dissen sowie in der Niederlanden oder den Vereinigten Staaten von Amerika.
Professor für Klinische Infektionsimmunologie und Leiter der Sektion für Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie, Klinik für allgemeine Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
Auf die Frage, welche wissenschaftliche Argumentation die Schließung der Schulen und Kitas begründet:
„Das hat keine wissenschaftlichen, sondern nur pragmatische Gründe: Schulen, Kindergärten und Kitas sind Kontaktpunkte von vielen Familien, die ohne direkten wirtschaftlichen Schaden schnell geschlossen werden können. Diese Maßnahme ist aus meiner Perspektive aber nur zu rechtfertigen, wenn gleichzeitig substanzielle Änderungen in Schlachtbetrieben und Unterkünften durchgesetzt werden. Die Kinder sind in so einer Situation Opfer und keineswegs Ursache des Problems. Die Ausbruchs-Ereignisse im Rahmen der Pandemie haben in allererster Linie Erwachsene betroffen – auf Schlachthöfen, in Gaststätten, auf Kreuzfahrtschiff et cetera. Diese Ereignisse stehen in klarem Kontrast zu der verbreiteten Meinung, dass Erwachsene wegen der besseren Einhaltung von Hygienemaßnahmen ein geringeres Übertragungsrisiko darstellen als Kinder.“
„Es gibt keine wissenschaftlichen Befunde die nahe legen, dass Kinder in der COVID-19-Pandemie eine herausgehobene Rolle spielen. Die Mehrzahl der Studien ordnet Kindern eine untergeordnete Stellung in der Pandemie zu. Es ist davon auszugehen, dass Kinder in der Mehrzahl der Fälle von Erwachsenen angesteckt werden, und nicht umgekehrt. Auch in den von Ausbrüchen betroffenen Schulen und Kirchen stehen typischerweise Erwachsene im Verdacht ‚Superspreader‘ zu sein.“
Leiterin der Forschungsgruppe emerging viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten, Universität Genf, Schweiz
„Die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen scheinen mit den aktuell notwendigen Hygienemaßnahmen nicht gut vereinbar zu sein. Der lange Aufenthalt von vielen Personen in geschlossenen Räumen ohne Möglichkeit, Abstand zu wahren zeichnet sich zunehmend als Situation ab, die zu einem so genannten ‚Superspreading Event‘ führen kann. Wenn es sich weitgehend um ausländische Mitarbeiter handelt, die zusammen in räumlich begrenzten Unterkünften wohnen – wie es aus verschiedenen Quellen geschildert wurde, führen beide Szenarien schnell zur Ansteckung von vielen Personen, vor allem wenn die Kontaktpersonen auf der Arbeit und in den Unterkünften zusätzlich wechseln. Ein weiterer Faktor ist eventuell die körperliche Anstrengung während der Arbeit, die zu höherer Virusausscheidung führt, sowie die kalte und feuchte Luft in den Schlachtanlagen. Feuchte Hände, Handschuhe, Schürzen und Kleidung zum Beispiel beim Hantieren von Fleischprodukten könnten zusätzlich die Übertragung durch Schmierinfektionen begünstigen. Es wäre wichtig zu klären, inwieweit Masken bei engem Kontakt auf der Arbeit getragen wurden, und ob es überhaupt die Möglichkeit gibt, konstant die aktuellen Regeln wie Abstandhalten und Handhygiene einzuhalten.“
„Die hohe Anzahl an Mitarbeitern weist meines Erachtens auf ein unbemerktes, schon länger vor sich gehendes ‚Superspreading Event‘ in diesem Betrieb hin. Bei engem Kontakt und unter ungünstigen Arbeits- sowie Wohnbedingungen können ein Einzelner oder nur sehr wenig initial Infizierte zu einer sehr hohen Anzahl an Sekundärinfektionen führen. Die hohe Anzahl, die jetzt erst durch das gezielte Testen detektiert wird, weist darauf hin, dass es sich hier um ein unbemerktes Infektionsgeschehen handelt, das wahrscheinlich schon einige Zeit vor sich geht. Dass es zu so einer hohen Anzahl an Ansteckungen gleichzeitig gekommen ist durch Familienbesuche am Wochenende zuvor halte ich für extrem unwahrscheinlich. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf Tage, sodass ein Wochenendbesuch kaum so eine große Anzahl an Personen erklären kann. Außerdem hätte sich ja gleichzeitig in allen Familien der etwa 400 Mitarbeiter an diesem Wochenende ein akut infizierter Fall befinden müssen, was sehr unwahrscheinlich erscheint.“
Oberärztin für Pädiatrische Pneumologie und Allergologie, Katholisches Klinikum Bochum – Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum
„Wenn sich in einer Ausbruchssituation auch Kinder infiziert haben, die Schulen oder Kindertagesstätten besuchen, könnten diese potenziell viele enge und zum Teil ungeschützte Kontaktpersonen in diesem Umfeld infizieren. Um eine Ausbruchssituation einzugrenzen ist daher eine frühe Schließung der Schulen und Kitas erfolgt.“
„In aktuellen Studien wurden bei infizierten Kindern ähnliche Viruskonzentrationen wie bei Erwachsenen in den Atemwegen nachgewiesen. Nichtsdestotrotz weisen epidemiologische Untersuchungen aus mehreren Ländern zum einen auf eine geringere Anfälligkeit von Kindern [1][2], zum anderen und vor allem aber auch auf eine geringere Infektiosität von Kindern für ihre Umgebung hin [3][4][5][6].“
„Damit ist die Rolle von Kindern in der Pandemie noch nicht endgültig geklärt. In einer aktuellen Untersuchung aus Baden-Württemberg fanden sich bei Kindern, die eine Notbetreuung besuchten, keine höheren Infektionszahlen als bei Kindern mit weniger Kontakt mit anderen Kindern. Daher kann man vermuten, dass Kinder eher keine Treiber der Infektionsketten sind. Nur engmaschige Untersuchungen der Infektionsfälle und ihrer Kontakte in Schulen und Kitas und ein Monitoring der Serokonversionsrate im Lockdown versus Lockerungen werden jedoch belastbare Daten liefern.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Helmke I (17.06.2020): Krisenstab beschließt Maßnahmen: Kitas und Schulen werden geschlossen, kein genereller Lockdown. Pressemitteilung des Kreis Gütersloh.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Gudbjartsson DF et al. (2020): Spreadof SARS-CoV-2 in the Icelandic Population. NEJM; 382: 2302-2315. DOI: 10.1056/NEJMoa2006100.
[2] Wu Z et al. (2020): Characteristicsof and Important Lessons From the Coronavirus Disease 2019 (COVID-19)Outbreak in China: Summary of a Report of 72 314 Cases From theChinese Center for Disease Control and Prevention. JAMA; 323 (13): 1239–1242. DOI:10.1001/jama.2020.2648.
[3] World Health Organisation (WHO): Reportof the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19). 16-24 February 2020.
[4] Fontanet A et al. (2020): Clusterof COVID-19 in northern France: A retrospective closed cohort study. medRxiv. DOI: 10.1101/2020.04.18.20071134.
[5] von der Hoek W et al. (2020): Derol van kinderen in de transmissie van SARS-CoV-2. Ned Tijdschr Geneeskd.; 164: D5140.
[6] Armin JP et al. (2020): Hospitalisierungenvon Kindern und Jugendlichen mit COVID-19. Dtsch Arztebl Int; 117: 373-4; DOI: 10.3238/arztebl.2020.0373.
Prof. Dr. Philipp Henneke
Professor für Klinische Infektionsimmunologie und Leiter der Sektion für Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie, Klinik für allgemeine Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
Prof. Dr. Isabella Eckerle
Leiterin der Forschungsgruppe emerging viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten, Universität Genf, Schweiz
Dr. Folke Brinkmann
Oberärztin für Pädiatrische Pneumologie und Allergologie, Katholisches Klinikum Bochum – Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum