Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung
Die Corona-Pandemie fordert alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens fast überall auf der Welt heraus. Und so stellt sich auch die Frage, ob und in welchem Umfang die Landwirtschaft und damit die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln in Deutschland beeinträchtigt werden könnten.
Leiter des Fachgebiets Agrarmärkte, Institut für Agrarpolitik und Landwirtschaftliche Marktlehre, Fakultät Agrarwissenschaften, Universität Hohenheim
Auf die Frage, inwiefern die aktuelle Corona-Situation Probleme bei Anbau und Ernte von Ackerkulturen mit sich bringen könnte:
„Für viele der wichtigsten pflanzlichen Kulturen wie Getreide und Ölsaaten ist die Aussaat bereits im vergangenen Herbst getätigt worden. Saat- und Pflanzgut für wichtige Frühjahrskulturen – Mais, Zuckerrüben, Kartoffeln – wird durch Landwirte meist vor Beginn der Frühjahrsarbeiten eingelagert. Ähnliches gilt für Dünger und Pflanzenschutzmittel: Diese Betriebsmittel sind zudem aufgrund ihrer guten Lagerfähigkeit nicht auf Just-in-Time Lieferungen ausgelegt und daher durch kurzfristige Verzögerungen im Transport auf Straße oder Seeweg wenig verwundbar.“
„Kurzfristig problematisch könnte eine ausbleibende Verfügbarkeit von Saisonarbeitskräften aus Osteuropa werden. Dies betrifft arbeitsintensive Spezialkulturen wie Spargel und Erdbeeren. Aktuell in der Presse diskutierte Versuche, hierfür vorübergehend unbeschäftigte Deutsche einzusetzen, erinnern an zurückliegende Debatten, als in Zeiten relativ hoher inländischer Arbeitslosigkeit ebenfalls osteuropäische Saisonarbeitskräfte durch Deutsche ersetzt werden sollten. In der Realität ist dies zumeist an drei Faktoren gescheitert.“
„Erstens: Die Saisonarbeit in landwirtschaftlichen Spezialkulturen ist nicht nur körperlich hart, sondern erfordert auch physisches Geschick im Umgang mit empfindlichen Produkten. Viele osteuropäische Saisonarbeiter kommen über Jahre immer wieder zu den Betrieben und sind mit den entsprechenden Arbeitsabläufen vertraut.“
„Zweitens: Saisonarbeit findet häufig in den frühen Morgenstunden auf abgelegenen Feldern in ländlichen Regionen statt. Theoretisch verfügbare deutsche Arbeitnehmer müssten entsprechend mobil sein oder – so wie die osteuropäischen Saisonarbeiter – vorübergehend auf den Höfen wohnen.“
„Und Drittens: In der Vergangenheit waren die in der Saisonarbeit gezahlten Löhne für osteuropäische Saisonarbeitskräfte auch dadurch attraktiv, dass ein Kaufkraftgefälle zwischen Deutschland und den Heimatländern genutzt werden konnte. Dieser Vorteil entfällt bei deutschen Arbeitskräften.“
„Daher mein Fazit: Der Versuch, deutsche Erwerbslose kurzfristig zur Spargelernte zu rekrutieren, dürfte weder bei Landwirten noch bei deutschen Arbeitnehmern auf große Resonanz stoßen.“
Auf die Frage, inwiefern die Nutztierhaltung und die Herstellung tierischer Erzeugnisse durch die aktuelle Corona-Situation unter Druck geraten könnte:
„Landwirtschaftliche Nutztiere werden normalerweise durch Familienarbeitskräfte oder fest angestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versorgt. Krankheitsbedingte Ausfälle können hierbei normalerweise innerbetrieblich überbrückt werden. Für Familienbetriebe gibt es ein System von sogenannten Betriebshelfern. Dies sind landwirtschaftlich ausgebildete ‚Springkräfte‘, die angefordert werden können, wenn ein Betrieb seine Tiere über einen längeren Zeitraum nicht aus eigener Kraft versorgen kann.“
„Wie bei Pflanzenschutzmitteln und Dünger gilt auch bei Veterinär-Medikamenten, dass zunächst gewisse Vorräte und Puffer vorhanden sind. Sollten tatsächlich bestimmte Wirkstoffe mittelfristig ausfallen, worauf es aktuell nach meinem Kenntnisstand keinen Hinweis gibt, und sollten diese Wirkstoffe nicht anders ersetzt werden können, werden kranke Nutztiere geschlachtet oder tierärztlich getötet und verwertet.“
„Im Bereich der Schlachtung von Rindern und Schafen ist nach gegenwärtigem Stand nicht zu erwarten, dass die vorhandenen Schlachthof-Kapazitäten durch die aktuelle Pandemie-Situation ernstlich infrage stehen. Im Bereich der Geflügel- und Schweineerzeugung steht dies ebenfalls gegenwärtig nicht an. Jedoch sind Haltung der Tiere, Transport und Schlachtung meist wesentlich enger durch Verträge und Zeitpläne aufeinander abgestimmt. Sollten einzelne Schlachtbetriebe tatsächlich vorübergehend schließen oder ihre Kapazität reduzieren müssen, könnte es punktuell zu Engpässen kommen. Dies könnte zu längeren Transportwegen für die Tiere führen, um alternative Schlachtstätten zu erreichen. Im schlimmsten Fall müssten die Tiere getötet werden, ohne dass sie der weiteren Verwertung zugeführt werden können. Aufgrund einer Vielzahl verfügbarer Schlachtstätten erscheint dieses Szenario jedoch aktuell sehr unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher erscheint, dass großflächige Ausfälle vieler Schlachthöfe zu Versorgungsengpässen führen könnten.“
„Mein Fazit: Gegenwärtig ist von einzelbetrieblichen Ausnahmen abgesehen nicht zu erwarten, dass die Nutztierhaltung in Deutschland insgesamt unter besonderen Druck geraten könnte.“
Auf die Frage, welche Bereiche der Produktionskette von der Landwirtschaft bis hin zum fertigen Lebensmittel besonders anfällig für Pandemie-bedingte Störungen sind:
„Lieferketten im Nahrungsmittelbereich sind verwundbar durch die hohe Verderblichkeit vieler Agrarprodukte und die damit zusammenhängenden hohen Anforderungen an die Transport- und Verarbeitungslogistik. Jede Einschränkung im Transport kann zum Beispiel zur Unterbrechung von Kühlketten führen oder vorhandene Lagerkapazitäten könnten nicht ausreichen. Für die wichtigsten Agrarprodukte existieren jedoch viele Produktions- und Verarbeitungsstätten an unterschiedlichen Standorten, so dass diese sich substituieren können und kaum die Gefahr von Engpässen droht. Lediglich bei speziellen Verarbeitungsprodukten, die nur in einem oder in wenigen Betrieben hergestellt werden, könnten sich bei Werksschließungen kurzfristig Engpässe ergeben. Dies betrifft dann meist spezielle Inhaltsstoffe oder Spezialitäten.“
„Je spezieller und reaktiver einer Wertschöpfungskette aufgestellt ist, umso stärker können sich temporäre Engpässe bei Transport oder Verarbeitung auf die Verfügbarkeit von Produkten auswirken. Je generischer ein Agrarprodukt ist und je besser es gelagert werden kann, umso unwahrscheinlicher sind ernste Engpässe.“
Auf die Frage, inwiefern Versorgungsunsicherheiten möglich sind, auch durch möglicherweise unterbrochene internationale Handelsketten:
„Je weiter Agrarprodukte weltweit gehandelt werden, umso besser sind sie meist auch lagerfähig, und je lagerfähiger ein Produkt ist, umso leichter lassen sich vorübergehende Verzögerungen im Transport wie beispielsweise durch lange Wartezeiten oder Kontrollen in Häfen ausgleichen. Man muss sehr deutlich zwischen tatsächlichen Versorgungsengpässen und der eher psychologischen Verunsicherung auf den Märkten unterscheiden.“
„Aktuell gibt es verständlicherweise viel psychologische Verunsicherung, aber keinerlei Hinweis auf eine nennenswerte physische Verknappung von Agrarprodukten, da es bisher nirgendwo in Deutschland und Europa zu nennenswerten Produktionsausfällen gekommen ist. Hierbei spielt auch eine Rolle, dass die Landwirtschaft in gemäßigten Breiten sehr technisiert ist und mit relativ wenig Arbeitskräften auskommt. Bei arbeitsintensiven Spezialkulturen oder in Ländern, deren Agrarsysteme wesentlich stärker von menschlicher Arbeitskraft abhängen, können Pandemie-bedingte Arbeitsausfälle durchaus auch zu Ertragsausfällen führen. Diese Ertragsausfälle werden dann teilweise erst im Lauf des Jahres 2020 marktwirksam.“
„Jedoch gibt es im Welthandel mit Agrarprodukten bereits Hinweise, dass einige wichtige Importländer bei bestimmten Agrarprodukten vorübergehend weniger importieren werden, und dies kann für exportorientierte Branchen im deutschen Agrarsektor durchaus Preiseinbrüche bedeuten.“
„Bei sogenannten Hamsterkäufen in deutschen Supermärkten handelt es sich hingegen lediglich um vorgezogene Käufe, aber nicht um eine grundsätzliche Veränderung der Nachfrage. Hier stehen die Wertschöpfungsketten vor dem Problem, kurzfristig Mengen bereitstellen zu müssen, die andernfalls erst im Verlauf der kommenden Wochen abgerufen worden wären. Es ist daher davon auszugehen, dass auf eine Welle von kurzfristig gesteigerter Nachfrage eine Phase folgt, während der die Bestände in den Haushalten abgebaut werden und das Kaufverhalten entsprechend geringer ausfällt.“
„Abgesehen von Einzelfällen bei Spezialprodukten oder arbeitsintensiven Saisonkulturen sind keine nennenswerten Engpässe zu erwarten.“
Auf die Frage, inwiefern sich die Preise für Agrarprodukte auf den internationalen Märkten verändern könnten, so wie es 2007/2008 der Fall war, als einige wichtige Weizen-exportierende Länder Exportsteuern auf das Getreide erhoben:
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind solche Überlegungen reine Spekulation. Zudem muss zwischen einem Weltmarkt mit relativer Angebotsschwäche und einem Weltmarkt mit relativer Nachfrageschwäche unterschieden werden. Das Jahr 2007 war gekennzeichnet durch extrem hohe Weltmarktpreise für Nahrungsmittel aufgrund der in Schwellenländern stark gestiegenen Nachfrage und einem eher konstant gebliebenen Angebot. Exportsteuern können politisch motiviert sein, um bei hohen Weltmarktpreisen bestimmte Rohstoffe im Land und damit für die Bevölkerung erschwinglich zu halten. Zudem kann in einer Phase steigender Weltmarktpreise hier die Erwartung weiterer Preissteigerungen dazu führen, dass bestimmte Regionen ihre Mengen zurückhalten.“
„All dies sind Szenarien für eine Weltmarktlage mit relativ starker Nachfrage und knappem Angebot. Die aktuelle Pandemie wird aber für die typischen Agrarprodukte wie Getreide, Zucker, Ölsaaten und so weiter, wenn überhaupt, eher zu einer Situation mit geschwächter Nachfrage bei mehr oder weniger gleichbleibendem Angebot führen. Selbst für den Fall punktueller Ertragsausfälle wird die relative Nachfrageschwäche aller Voraussicht nach wesentlich deutlicher ausfallen als die relative Angebotsschwäche, so dass die Preisniveaus für Agrarrohstoffe von Grundnahrungsmittel mittelfristig keinerlei Knappheitssignale in Form von Preissteigerungen senden dürften.“
„Sollten im Jahresverlauf 2020 die Erzeugerpreise in Deutschland und Europa tatsächlich nennenswert unter Druck geraten, könnten politische Forderungen nach Finanzhilfen für die Landwirte wieder auf den Plan kommen.“
„In Verbindung damit könnte die Diskussion über punktuelle Lieferengpässe in Wertschöpfungsketten zudem politisch motivierte Forderungen nach einer stärkeren nationalen Abschottung der Märkte und nach einer Rückbesinnung auf die Produktion ‚zur Versorgung der heimischen Bevölkerung‘ beleben. Hinter solchen Forderungen stecken meist protektionistische Motive, welche auf eine Erhöhung des Außenschutzes und eine Subventionierung ansonsten nicht wettbewerbsfähiger heimischer Produktionszweige zielen.“
„In Wirklichkeit sind es gerade die überregional vernetzten Strukturen unserer Agrar-Wertschöpfungsketten, welche diese so leistungsfähig machen und punktuelle Engpässe entsprechend gut ausgleichen können.“
„Deutschland und seine europäischen Nachbarn haben bei den meisten und wichtigsten Agrarprodukten zudem einen Selbstversorgungsgrad, welcher deutlich höher als 100 Prozent liegt, das heißt Europa und Deutschland sind bei vielen wichtigen Agrarprodukten Nettoexporteure.“
„Mein Fazit hier: Die Wertschöpfungsketten für die wichtigsten Agrarprodukte sind netzartig über viele Länder, Regionen und Produktionsstandorte verteilt, so dass punktuelle Engpässe immer wieder gut ausgeglichen werden können. Für die Weltmarktlage im Jahr 2020 wird daher weniger die Angebotsseite als die Entwicklung der Nachfrage entscheidend sein: Wird der Import wichtiger Importländer –wie zum Beispiel China – dauerhaft schwächer ausfallen? Wenn ja, könnte dies das Preisniveau für exportorientierte Branchen des deutschen Agrarsektors durchaus negativ beeinflussen.“
Professor für Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte, Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung, Georg-August-Universität Göttingen
Auf die Frage, inwiefern die aktuelle Corona-Situation Probleme bei Anbau und Ernte von Ackerkulturen mit sich bringen könnte:
„Die Landwirtschaft beziehungsweise die Landwirtinnen und Landwirte werden wahrscheinlich – da im ländlichen Raum tätig – selbst zunächst eher weniger vom Virus betroffen sein. Die deutsche Landwirtschaft ist zudem hoch technisiert. Pro Arbeitsplatz liegen die Investitionen im Durchschnitt höher als in der Industrie. Daher ist die Ernte vieler Pflanzen sehr effizient und benötigt wenig Personal. In diesem Bereich sind es die Landwirtinnen und Landwirte selbst, angestellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder professionelle Lohnunternehmer, die ernten. Personalknappheit würde hier nur eintreten, wenn zu extrem hohen Krankheitsständen käme. Diese Aussagen treffen auf die klassischen Ackerbaukulturen wie Getreide, Mais oder Zuckerrüben zu.“
„Arbeitsintensiv sind dagegen – weil nicht oder kaum automatisierbar – Teile der Gartenbaukulturen, zum Beispiel Spargel, Erdbeeren und so weiter. Diese sind in Deutschland auf Saisonarbeitskräfte – in der Regel aus Osteuropa – angewiesen, die möglicherweise durch die Corona-Krise nicht nach Deutschland kommen können oder wollen. Bei Saisonarbeitskräften ist die Personalsituation ohnehin schon seit Jahren angespannt. Bei dem niedrigen Lohnniveau und der anstrengenden Arbeit sind kaum heimische Arbeitskräfte zu gewinnen. Dazu müsste das Lohnniveau wohl wesentlich steigen, wenn man zum Beispiel die jetzt im Tourismus und der Gastronomie gerade nicht mehr beschäftigen Arbeitskräfte gewinnen will. Mehr als die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Landwirtschaft sind im Niedriglohnsektor beschäftigt. Nur beim Gastgewerbe liegt der Anteil noch höher, aber dort gibt es immerhin noch Trinkgeld. Zudem ist die Erntearbeit besonders anstrengend. Es kann also bei Spargel und Co. zu ernsthaften Ernteproblemen kommen. Insgesamt ist Deutschland bei Obst und Gemüse besonders stark auf Importe angewiesen. Hier kann es also eher mal zu Lieferschwierigkeiten bei einzelnen Artikeln kommen.“
Auf die Frage, welche Bereiche der Produktionskette von der Landwirtschaft bis hin zum fertigen Lebensmittel besonders anfällig für Pandemie-bedingte Störungen sind:
„In der Lebensmittelindustrie gibt es stark automatisierte Bereiche, wie die Molkereien, und arbeitsintensive Bereiche, wie die Schlachtindustrie. Die Schlachtindustrie könnte daher stärker gefährdet sein, auch weil hier viele prekär Beschäftigte tätig sind, die zum Beispiel in Gemeinschaftsunterkünften für ausländische Leiharbeitskräfte untergebracht sind.“
„Die Lebensmittelindustrie ist mit rund 6.000 Unternehmen relativ mittelständisch geprägt, es gibt also viele verschiedene Lieferanten, so dass der Ausfall eines Betriebes kein Problem ist. Auch ist die Branche hoch automatisiert. Weiterhin gibt es in der Regel Lagervorräte, die allerdings heute aufgrund veränderter Lieferbeziehungen etwas niedriger sind als früher. Die Lagervorräte betragen bei haltbaren Produkten im Durchschnitt nach Schätzungen etwa eine Woche bis einen Monat. Bei Frischeprodukten natürlich weniger. Trotzdem sind größere Engpässe eher nicht zu erwarten. Die deutsche Lebensmittelindustrie exportiert zudem viel, so dass auch von dieser Seite Reserven vorhanden sind.“
„Im Lebensmittelhandel gibt es in Deutschland im EU-Vergleich relativ viele Geschäfte pro Einwohner. Das Verkaufspersonal ist sicherlich besonderen Infektionsrisiken ausgesetzt, es gibt aber eben viele Geschäfte zur Auswahl. 52 Prozent der Bevölkerung haben ein Lebensmittelgeschäft im Umkreis von einem Kilometer um ihren Wohnort. Angesichts der hohen Anzahl der verschiedenen Artikel – ein Supermarkt führt etwa 9.000 verschiedene Lebensmittel – sind ernsthafte Versorgungsengpässe nur dann denkbar, wenn ein erheblicher Teil der Arbeitskräfte in Deutschland ausfallen würde. Das ist aber angesichts der Tatsache, dass die meisten Menschen keinen schweren Krankheitsverlauf zeigen, nicht zu erwarten.“
„Wenn Engpässe global auftreten, richtet sich der Weltmarkt zudem nach der Zahlungsfähigkeit der Regionen, wenn die Preise steigen. Deutschland als wohlhabendes Land ist hier in einer guten Position. Leidtragende bei steigenden Weltmarktpreisen wären die Armen in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Vielfach sind dies Subsistenzlandwirte, die wenig von den steigenden Preisen profitieren, aber selbst auch Lebensmittel einkaufen müssen, und die Bewohner der städtischen Armenviertel. Auch in Deutschland wird es, wenn es so weit kommen sollte, die sozial schwachen Gruppen treffen, wenn zum Beispiel die Tafeln nicht mehr genug Lebensmittel erhalten. Die Corona-Pandemie wird also möglicherweise zur Verstärkung von Ernährungsarmut in Deutschland und der Welt beitragen, aber wohl nicht die Versorgung der Bevölkerung in der Breite beeinträchtigen.“
Leiter der Abteilung für Pflanzenernährung und Ertragsphysiologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen und wissenschaftlicher Leiter des Institute of Applied Plant Nutrition (IAPN), Göttingen
Auf die Frage, inwiefern die aktuelle Corona-Situation Probleme bei Anbau und Ernte von Ackerkulturen mit sich bringen könnte:
„Im Bereich der großen Ackerkulturen wie Weizen, Gerste, Raps – die zudem bereits im Herbst als sogenannte Winterungen ausgesät werden – sind keine relevanten Einschränkungen in der Produktion zu erwarten. Diese Kulturen wachsen bereits und es kann erwartet werden, dass auch die relevanten Düngemittel in hinreichenden Mengen bereits an Ort und Stelle eingelagert wurden, so dass hier nicht zu erwarten ist, dass ihre Verfügbarkeit die Produktion in diesem Jahr einschränken wird. Saat- und Pflanzgut für die Kulturen Zuckerrüben, Mais und Kartoffeln, die erst in den kommenden Wochen zur Aussaat beziehungsweise zur Auspflanzung kommen werden, sollte ebenfalls in hinreichenden Mengen für eine uneingeschränkte landwirtschaftliche Produktion zur Verfügung stehen. Auch für diese Kulturen sind Engpässe bei den Düngemitteln nicht zu erwarten, denn diese werden üblicherweise bereits in den Herbst- und Wintermonaten transportiert und in der Nähe der landschaftlichen Verbraucher eingelagert.“
„Die zuvor gemachten Aussagen gelten unter der Annahme, dass die aktuelle Situation nicht zu Engpässen bei der Versorgung mit Diesel führen werden. Auch die Landwirtschaft ist aufgrund ihrer starken Mechanisierung massiv auf die Verfügbarkeit von Diesel angewiesen.“
Auf die Frage, welche Bereiche der Produktionskette von der Landwirtschaft bis hin zum fertigen Lebensmittel besonders anfällig für Pandemie-bedingte Störungen sind:
„Für den Bereich der landwirtschaftlichen Erzeugung der großen landwirtschaftlichen Massengüter wie Weizen, Kartoffeln und Ölsaaten – also zum Beispiel Raps – erwarte ich keine besondere Risikolage.“
„In Abhängigkeit von der Dauer der aktuellen Einschränkungen ergeben sich in der Erntezeit Risiken für all jene Kulturen, die auch heute noch großen Handarbeitsbedarf aufweisen. Engpässe wären hier denkbar bei Frischgemüse, Obst, besondere Kulturen wie Spargel oder Erdbeeren. Die Ursache dafür ist, dass hier vielfach Arbeitskräfte eingesetzt werden, die nicht aus der Region stammen, so dass Einschränkungen in der Freizügigkeit unmittelbare Auswirkung haben werden. Für die Versorgung der Bevölkerung könnten diese Engpässe weniger große Bedeutung haben, wenngleich sie zu Einschränkungen im Hinblick auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung führen können, aber für zahlreiche der betroffenen Erzeugerbetriebe kann diese Situation das Ende bedeuten!“
Auf die Frage, inwiefern Versorgungsunsicherheiten möglich sind, auch durch möglicherweise unterbrochene internationale Handelsketten:
„Es wird nicht unwichtig sein, wie lange die aktuell angeordneten Maßnahmen aufrechterhalten werden müssen. Da die Landwirtschaft inzwischen sehr stark mechanisiert ist, ist sie in annähernd ähnlichem Ausmaß wie die Autoindustrie von der Just-in-Time-Zulieferung abhängig. Bei länger andauernden Maßnahmen muss erwartet werden, dass auch Ersatzteillieferungen für Landmaschinen nicht in erforderlichem Maße stattfinden werden. Die Folge könnte sein, dass Maschinen für die Aussaat, Pflege und Ernte der landschaftlichen Erzeugnisse auch bei eher kleinen Pannen ausfallen werden.“
„Einschränkungen im Bereich der Handelsketten werden wahrscheinlich ausgeprägt die Bereiche Frischgemüse und Obst betreffen, also Erzeugnisse, bei denen wir gewohnt sind, sie zu allen Jahreszeiten uneingeschränkt konsumieren zu können.“
„Im Frühjahr 2021 werden im Hinblick auf Produktionsmittel zumindest die Düngemittelmengen an Stickstoff und Kalium essenziell benötigt, die im Laufe des Jahres 2020 produziert werden müssen. Einschränkung in der Verfügbarkeit dieser Produktionsmittel hätten mit Sicherheit große Auswirkungen auf die insgesamt 2021 produzierten Mengen, die für die Ernährung der Bevölkerung Deutschlands benötigt werden. Dies würde dann auch Massengüter wie Weizen und Kartoffeln betreffen.“
Professur für Agrarökonomie, Agrar- und Umweltwissenschaftliche Fakultät, Universität Rostock
Auf die Frage, inwiefern die aktuelle Corona-Situation Probleme bei Anbau und Ernte von Ackerkulturen mit sich bringen könnte:
„Es ist zunächst festzuhalten, dass für viele Kulturen wie Wintergetreide oder Raps die Saat im Herbst ist, so dass die Kulturen bereits im Boden sind. 55 Prozent der Kulturen auf Ackerflächen in Deutschland werden bereits im Herbst ausgesät [1]. Allerdings werden jetzt wichtige Sommerkulturen wie Mais (etwa 23 Prozent der Fläche), Sommergetreide (etwa 9 Prozent), Zuckerrüben (3,7 Prozent) und Kartoffeln (2,2 Prozent) in den nächsten Wochen gesät – beziehungsweise im Fall der Kartoffeln ‚gepflanzt‘. Saatgut und andere Betriebsmittel wie Dünger oder Pflanzenschutz haben die Betriebe teilweise bereits eingekauft und im Lager. Insofern sind direkte Auswirkungen auf die Aussaat im klassischen Ackerbau eher gering, zumal Landwirtinnen und Landwirte vermutlich eher nicht zu den Hauptrisikogruppen des Coronavirus‘ zählen.“
„Bei den Grundnahrungsmitteln aus der Produktion im Ackerbau – Weizen, Raps, Mais, Zuckerrüben – sind kurzfristig eher nur geringe Probleme zu erwarten.“
„Die Hauptherausforderung für die landwirtschaftliche Produktion sowie die Produktion in Obst- und Gemüsebau 2020 besteht in fehlenden Saisonarbeitskräften.“
„In der Landwirtschaft arbeiten nach Angaben des Deutschen Bauernverbandes insgesamt in allen Bereichen 300.000 Saisonarbeitskräfte. Gerade in arbeitsintensiven Betriebsformen des Obst- und Gemüsebaus, im Weinbau und bei den Dauerkulturen kann der Ausfall von Arbeitskräften entweder durch Krankheit oder durch den Ausfall von Saisonarbeitskräften zu deutlichen Einschränkungen führen. Im Obst- und Gemüsebau arbeiten viele Saisonarbeitskräfte, die in vielen Fällen aus Osteuropa kommen und für eine begrenzte Zeit auf den Betrieben arbeiten. Im Gartenbau liegt der Arbeitskräftebesatz bei 68 Arbeitskräften pro 100 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche (LF), im Obstbau bei 18,8 Arbeitskräften pro 100 Hektar LF, während in der sonstigen Landwirtschaft der Arbeitskräftebesatz eher bei 1,6 bis 2,7 Arbeitskräften pro 100 Hektar LF liegt.“
„Hier kommen vor allem auch Saisonarbeiter aus dem osteuropäischen Ausland zum Einsatz, so dass die Einreisebestimmungen nach Deutschland hier entscheidend sind. Die Grenzschließung von Polen oder Ungarn könnte hier zu Problemen führen, da Saisonarbeiter aus Osteuropa nicht nach Deutschland einreisen können. Des Weiteren berichten Praktiker, dass Saisonarbeiter sich im Moment nicht trauen, nach Deutschland zu reisen, weil sie in Sorge sind, nicht zurück kehren zu können.“
„Vor allem im Spargelanbau – im April/Mai – und bei der Erdbeerernte im Juni kann es in den nächsten Wochen zu Engpässen kommen. Auch die Freilandsaison Gemüseanbau – zum Beispiel beim Salatanbau – könnte es ebenfalls bis in den Sommer hinein zu Problemen kommen. Bei der Unterbringung und Verpflegung von Saisonarbeitern ist dieses Jahr mit höheren Anforderungen zu rechnen, da Massenunterbringungen problematisch erscheinen.“
„Die Landwirtschaft wurde 2009 im Rahmen der Finanzkrise als ‚systemrelevant‘ erklärt, insofern könnten zum Beispiel Kinder von Arbeitskräften notbetreut werden, damit die Produktion aufrechterhalten werden.“
„Der Deutsche Bauernverband (DBV) fordert daher zu Recht flexible Regelungen für den Einsatz von Saison-Arbeitskräften sowie einen ‚erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt [2].“
„Zur Rolle von Gemüse-Importen: Für die Versorgung mit vitaminreichen und vielfältigen Nahrungsmitteln sind Importe von Obst und Gemüse essentiell, insofern erscheint auch die Lage in der arbeitsintensiven Produktion in Südeuropa relevant. Hier könnte es im Laufe des Frühjahres und Sommers zu Preissteigerungen und einem etwas knapperen Angebot kommen, da unklar ist, wie die Produktion in wichtigen Exportländern beeinträchtigt wird.“
„Die wichtigsten importierten Gemüse sind Tomaten, Gurken, Paprika, Blattsalat, Möhren und Zwiebeln [3]. Vor allem die ersten vier Kulturen sind arbeitsintensiv und werden in Ländern produziert, die bereits jetzt stärker von der Corona-Pandemie betroffen sind. Allerdings wird Gemüse in den südeuropäischen Ländern und in Nordafrika in der Saison länger beziehungsweise unter Glas auch über den Winter angebaut, so dass sich die Lage vielleicht auch früher, etwa im Spätsommer wieder entspannen könnte. Zusätzliche Daten dazu auf [4].“
Auf die Frage, inwiefern die Nutztierhaltung und die Herstellung tierischer Erzeugnisse durch die aktuelle Corona-Situation unter Druck geraten könnte:
„Die Schlachtbetriebe arbeiten ebenfalls mit vielen Arbeitskräften aus Osteuropa, so dass es hier ebenfalls auf die Einreisebestimmungen nach Deutschland ankommt. Einige Herkunfts- und Transitländer von Arbeitskräften – zum Beispiel Polen und Ungarn – haben die Grenzen geschlossen, insofern könnte dies ein entscheidendes Problem sein, das die Bundesregierung lösen muss und will.“
„Offene Grenzen in der EU für Arbeitskräfte aus Osteuropa sind daher auch für die Schlachtung und Fleischverarbeitung von großer Bedeutung.“
Auf die Frage, welche Bereiche der Produktionskette von der Landwirtschaft bis hin zum fertigen Lebensmittel besonders anfällig für Pandemie-bedingte Störungen sind:
„Offene Grenzen innerhalb der EU sind nicht nur ein wichtiges Signal für die Lebensmittelversorgung durch Transportunternehmen, sondern auch entscheidend für die Mobilität von Saisonarbeitskräfte.“
„Die Einreisebedingungen für Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa könnten für die landwirtschaftliche Produktion beeinträchtigen.“
„Des Weiteren ist es für landwirtschaftliche Arbeitgeber wichtig, ein besonderes Augenmerk auf die Unterbringung und Verpflegung zu legen, da es auch hier wichtig erscheint, die Ansteckungsgefahr zu verringern. Insofern sollten die Behörden Betrieben in Landwirtschaft, sowie im Obst- und Gartenbau Hilfestellung leisten.“
„Es wäre in den nächsten Wochen auch zu prüfen, ob Arbeitskräfte, die aufgrund des Shut-Downs auf dem Sportmarkt keine Arbeit finden, vermehrt auf landwirtschaftlichen Betrieben eingesetzt werden können. Hierbei dürfte die Herausforderung darin bestehen, dass die Arbeit gerade im Obst- und Gemüsebau oft als anstrengend empfunden wird und auch Vorkenntnisse erfordert. Hier könnten die Landwirtschaftskammern und die Agrarverwaltung mit Beratung helfen.“
Auf die Frage, inwiefern Versorgungsunsicherheiten möglich sind, auch durch möglicherweise unterbrochene internationale Handelsketten:
„Im Gemüseanbau und bei Spargel und Erdbeeren könnte kurzfristig die Produktion und Ernte schwierig werden. Mittelfristig könnte dieses Jahr die Versorgung mit Frischgemüse aus Südeuropa eine Herausforderung darstellen, so dass über das Frühjahr und den Sommer mit höheren Preisen zu rechnen ist. Bei einem schnellen Verlauf der Krise könnte sich die Lage in der zweiten Jahreshälfte jedoch wieder entspannen, da die Anbausaison von Gemüse in Südeuropa, Israel und Nordafrika sehr viel länger dauert.“
Auf die Frage, inwiefern sich die Preise für Agrarprodukte auf den internationalen Märkten verändern könnten, so wie es 2007/2008 der Fall war, als einige wichtige Weizen-exportierende Länder Exportsteuern auf das Getreide erhoben:
„Es kann aufschlussreich sein, sich frühere Krisensituationen anzusehen. In den Jahren 2006 bis 2008 gab es für verschiedene Agrarprodukte einen starken Anstieg der Preise. Hierzu führten mehrere unterdurchschnittliche Ernten sowie eine hohe Importnachfrage aus China und die Nachfrage nach Agrarrohstoffen für die Erzeugung von Bioenergie. Im Zuge der Preisanstiege führten mehrere Exporteure von Agrarprodukten Export-Steuern oder Export-Quoten ein.“
„So führte beispielsweise die Ukraine – einer der Hauptlieferanten der EU für Getreide - Export-Quoten für Weizen, Gerste, Mais und Roggen ein, so dass die Exporte von 13,2 Millionen Tonnen (2005/06) auf 9,6 Millionen Tonnen (2006/07) und 3,7 Millionen Tonnen (2007/08) fielen [5]. Ähnliche Vorgehensweisen waren auch in Russland, Kasachstan oder Argentinien zu beobachten. Diese Export-Einschränkungen hatten zum Ziel, eine größere Menge Getreide im Land zu belassen, damit dort der Preis für die Bevölkerung niedrig blieb.“
„Effektiv fehlten diese im Land belassenen Agrarrohstoffe jedoch auf dem Welthandel, so dass sich der anfängliche Preisanstieg 2007 verstärkte. Beim Weizen beruhigte sich das Marktgeschehen erst wieder im März 2008 durch positive Ernteerwartungen und die Preise fielen 2009 wieder auf ein sehr niedriges Niveau.“
„Für eine sichere Versorgungslage im Laufe des Jahres 2020 weltweit erscheint es von entscheidender Bedeutung, dass die Exportländer von solchen Exportbeschränkungen absehen.“
„Es liegen diesbezüglich Erfahrungen mit der Ukraine, Russland, Kasachstan, Indien, Pakistan und Argentinien vor.“
„Die Bundesregierung könnte hierbei Dialogforen der G7/G20 und die Welthandelsorganisation WTO nutzen, um mit den Ländern freien Warenverkehr zu vereinbaren. Allerdings ist damit zu rechnen, dass manche Regierungen der erwähnten Länder im Moment als ‚schwierige Handelspartner‘ zu betrachten sind.“
„Im Dürrejahr 2018 führte eine lange anhaltende trockene Witterung von Mai bis November zu deutlichen Ertragsrückgängen. Vor allem bei Getreide konnten Mindererträge von 25 Prozent beobachtet werden. Eine ähnliche Witterungslage konnte in benachbarten Regionen in Polen und Skandinavien beobachtet werden. Trotzdem blieben die Preise in Deutschland im Vergleich zur Preis-Rallye der Jahre 2006/07 relativ stabil. Es kam von April bis August 2018 zu einem Preisanstieg bei Weizen, aber danach fiel der Preis wieder und erreichte im Frühjahr 2019 wieder das Ausgangsniveau. Dies konnte mit einer stabilen Lage am Weltmarkt erklärt werden, bei der Versorgungslücken geschlossen werden konnten. Die großen Preisdynamiken waren dagegen eher 2006/07 und 2010 bis 13 zu beobachten.“
„Die Dürre 2018 wirkte sich eher auf die Futterversorgung aus, was aber für die aktuelle Situation bei durchschnittlichem Witterungsverlauf nicht zu erwarten ist.“
„Gerade deshalb erscheint ein ungehinderter Warenverkehr und offene Grenzen für die Freizügigkeit von Saisonarbeitskräften von entscheidender Bedeutung.“
„Für eine sichere Versorgungslage ist ein funktionierender Handel und ein weltweit weitgehend ungestörtes Produktionsgeschehen von entscheidender Bedeutung. Insofern kommt es auch darauf an, dass die Produktion in anderen wichtigen landwirtschaftliche Produktionsregionen wie zum Beispiel Kanada, USA, Ukraine, Russland, Kasachstan, Ukraine, Brasilien und Argentinien möglichst ohne Einschränkungen verläuft und der Handel nicht gestört wird. Allerdings kann auch eine wenig eingeschränkte Produktion in Mitteleuropa zu einer sicheren Versorgungslage auf dem Weltmarkt beitragen.“
Abteilung Genomphysiologie, Institut für Genombiologie, Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN), Dummerstorf und dort Sprecherin des Programmbereichs Tierwohl und Tiergesundheit
Auf die Frage, inwiefern die Nutztierhaltung und die Herstellung tierischer Erzeugnisse durch die aktuelle Corona-Situation unter Druck geraten könnte:
„Die Nutztierhaltung kann nicht so vergleichsweise einfach heruntergefahren werden wie zum Beispiel aktuell die Autoindustrie. Unsere Nutztiere benötigen ständig Betreuung und kontinuierlich Futter und dies von qualifizierten Personen angesichts der heutigen anspruchsvollen Haltungssysteme. Das muss auch in Situationen von Quarantäne- oder Ausgangsbeschränkungen zu Betrieben beziehungsweise von Mitarbeitenden gewährleistet sein. Ebenso eine veterinärmedizinische Betreuung, die bei Nutztieren in der Regel ambulant erfolgt, so dass es notwendigerweise zu Kontakten zwischen Tierhalter und Tierarzt auf den Betrieben kommt. Außerdem sind auch Veterinäre auf die Verfügbarkeit von Arzneimitteln, die oft aus den gleichen Ausgangsstoffen wie Human-Arzneimittel produziert werden, angewiesen.“
„Das Futter, das jetzt nicht wächst, weil der Landwirt nicht auf die Äcker darf oder kein Saatgut oder Dünger erhält, steht später im Jahr nicht für die Tierernährung zur Verfügung. Dies betrifft neben Mais vor allem Getreide. Bei geringerer Ernte im Land wächst die Abhängigkeit von Futtermittelimporten, die allerdings auf dem Weltmarkt zu extremen Wettbewerbssituationen mit Preisanstiegen führen werden. Die Kuh oder die Sau, die jetzt nicht turnusgemäß trächtig wird, gibt später keine Milch, bringt keine Ferkel zur Welt und die Henne, die nicht geboren wird, wird auch keine Eier legen.“
Auf die Frage, welche Bereiche der Produktionskette von der Landwirtschaft bis hin zum fertigen Lebensmittel besonders anfällig für Pandemie-bedingte Störungen sind:
„Sowohl für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln als auch für den Tierschutz auf den Betrieben ist eine funktionierende Lebensmittelkette unerlässlich. Ein Stopp in der Erzeugung von Fleisch, Milch und Eiern zum Beispiel stellt nicht nur die Versorgung der Bevölkerung in Frage, sondern kann auch massive Tierschutzrelevanz erhalten. Ausfälle von Schlachthöfen – zum Beispiel durch Quarantäne von Mitarbeitern oder weil Arbeitskräfte aus Osteuropa nicht mehr vor Ort sind – stoppen nicht das Wachstum von Tieren, für die ausreichend Platz dann in den vorhandenen Ställen nicht mehr gewährleistet werden kann.“
Auf die Frage, inwiefern Versorgungsunsicherheiten möglich sind, auch durch möglicherweise unterbrochene internationale Handelsketten:
„Durch aktuell vorhandene Transportbeschränkungen entstehen ein Zuviel beziehungsweise Zuwenig an landwirtschaftlicher Produktion in den jeweiligen Nationalstaaten. Nicht nur die restliche Wirtschaft, auch die Landwirtschaft und Nutztierhaltung ist europaweit arbeitsteilig vernetzt. Rein regionale Kreisläufe, die sicher zukünftig noch stärker als bisher ein anzustrebendes System darstellen, sind derzeit nicht voll etabliert. Daher sind die aktuell innerhalb der EU aufgebauten Transportprobleme nachteilig für die Lebensmittelproduktion. Bestehende arbeitsteilige Abläufe über Grenzen hinweg, zum Beispiel bei der Produktion von Schweinefleisch – Ferkelimport nach Deutschland, Fleischexport aus Deutschland –, werden beeinträchtigt und nationale Defizite – zum Beispiel liegt bei Eiern der Grad der Selbstversorgung von Deutschland bei 71 Prozent –) können schwer kurzfristig ausgeglichen werden.“
„Längerfristig ist vielleicht die Corona-Krise ein Anstoß, weiter verstärkt regionale Kreisläufe bei der Nahrungsmittelproduktion zu entwickeln.“
Professorin für Tierhaltung und Haltungsbiologie, Instituts für Tierzucht und Haustiergenetik, Justus-Liebig Universität Gießen
„Preiserhöhungen sind für einige Lebensmittelgruppen wahrscheinlich, da zum Beispiel viele große Lebensmittelkonzerne sehr stark vom Export abhängig sind und dieser Bereich durch die aktuellen Einschränkungen behindert wird – zum Beispiel durch das Festliegen von Frachtcontainern in China, so dass keine weiteren Waren verschifft werden können. Die Konzerne werden versuchen, dadurch entstandene Mindereinnahmen durch höhere Verbraucherpreise sowie niedrigere Erzeugerpreise ein Stück weit auszugleichen oder auch dies einfach nur als Grund vorzuschieben. Somit könnte für die Landwirtschaft ein weiterer Preisdruck die Folge sein, speziell auch für die Milchpreise, da deutsche Molkereien starken internationalen Handel, vor allem auch mit China betreiben. Weiter erhöhter Preisdruck wird den Strukturwandel in der Landwirtschaft hin zu immer größeren Betrieben weiter ankurbeln.“
„Für die Nutztierhaltung gibt es aktuell vereinzelt bereits Probleme, genügend Personal für die Versorgung der Tiere zu halten, da in diesem Bereich häufig Mini- und Teilzeitjobs von Eltern, oft auch alleinerziehenden Eltern wahrgenommen werden, die nun Probleme haben, zur Arbeit zu kommen, da sie ihre Kindern betreuen müssen beziehungsweise sich aus finanzieller Sorge gezwungen sehen, zur Arbeit zu gehen und darunter die Kinder leiden, denen keine geeignete Betreuung zur Verfügung steht. Wenn auch zahlenmäßig weniger stark betroffen als der Obst- und Gemüsebau mit sehr stark saisonal abhängigem Bedarf an Erntehelfern, so gibt es auch in der Nutztierhaltung einige Bereiche – wie zum Beispiel die Arbeiter der Fangkolonnen, die von Betrieb zu Betrieb fahren, um Geflügel bei der Ausstallung einzufangen und zu verladen – die ganz überwiegend mit ausländischen Arbeitern bestückt sind, die gegebenenfalls nicht mehr nach Deutschland reisen können, um dort ihre Arbeit zu verrichten.“
„Dramatisch würde die Situation für die Nutztierhaltung werden, wenn es auch in Deutschland zu einer generellen Ausgangssperre kommen sollte und es keine umfangreichen Ausnahmen für Landwirte und Lebensmittelverarbeiter geben sollte. Da in der Tierhaltung die laufende Produktion nicht einfach eingestellt werden kann – Kühe können nicht von heute auf morgen aufhören, Milch zu geben und Schweine können nicht von heute auf morgen aufhören zu wachsen; ebenso müssen alle Tiere weiterhin mit Futter versorgt werden – muss auch weiterhin die Milchabholung und der Schlachttiertransport gewährleistet sein.“
„Natürlich ist es bei längerem Andauern massiver Handelseinschränkungen auch möglich, dass es für die Nutztierhaltung zu Engpässen bei der Arznei- und Futtermittelversorgung kommt – speziell Soja, wobei der Anteil in den letzten Jahren deutlich zugunsten von heimischem/europäischem Raps im Zuge des Booms der GVO-freien Lebensmittelvermarktung (GVO: gentechnisch veränderte Organismen; Anm. d.Red.) in Deutschland zurückgegangen ist.“
„Zu meinen Antworten erkläre ich, dass meinerseits keine Interessenkonflikte vorliegen.“
„Achim Spiller erklärt, dass er keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.“
„Interessenkonflikte: potenziell vorhanden, da wir zu Hause einen landwirtschaftlichen Familienbetrieb mit Nutztierhaltung (Milchkühe, einige Schweine) führen und ich natürlich auch Kraft meines Amtes speziell die Sicht dieses Berufsstands und dieser Betriebsstruktur vertrete.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Destatis (2018): Landwirtschaftliche Bodennutzung, Anbau auf dem Ackerland (Vorbericht); Fachserie 3 Reihe 3.1.2; Statistisches Bundesamt (Destatis); Wiesbaden.
[2] Deutscher Bauernverband (2020): Saisonarbeitskräfte dringend benötigt. Pressemitteilung vom 17.03.2020
[3] Agrarmarkt Informations-Gesellschaft mbH (AMI) (2019): Marktbilanz Gemüse.
[5] Lakner S.: Auswirkungen der Corona-Krise auf die landwirtschaftliche Produktion: Eine erste Annäherung. Lakners Kommentare. Blog des Wissenschaftlers.
[4] OECD (2009): Agricultural Policies in Emerging Economies 2009 - Monitoring and Evaluation; Organisation for Economic Cooperation and Development, Paris; doi: 10.1787/agr_emerging-2009-en.
Prof. Dr. Sebastian Hess
Leiter des Fachgebiets Agrarmärkte, Institut für Agrarpolitik und Landwirtschaftliche Marktlehre, Fakultät Agrarwissenschaften, Universität Hohenheim
Prof. Dr. Achim Spiller
Professor für Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte, Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung, Georg-August-Universität Göttingen
Prof. Dr. Klaus Dittert
Leiter der Abteilung für Pflanzenernährung und Ertragsphysiologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen und wissenschaftlicher Leiter des Institute of Applied Plant Nutrition (IAPN), Göttingen
Prof. Dr. Sebastian Lakner
Professur für Agrarökonomie, Agrar- und Umweltwissenschaftliche Fakultät, Universität Rostock
Prof. Dr. Christa Kühn
Abteilung Genomphysiologie, Institut für Genombiologie, Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN), Dummerstorf und dort Sprecherin des Programmbereichs Tierwohl und Tiergesundheit
Prof. Dr. Uta König von Borstel
Professorin für Tierhaltung und Haltungsbiologie, Instituts für Tierzucht und Haustiergenetik, Justus-Liebig Universität Gießen