COVID-19: Umfassende Daten aus China und Infektionen auf Kreuzfahrtschiff
Das Chinese Centre for Disease Control and Prevention (CCDC) veröffentlichte am Abend des 17. Februar einen ersten umfassenden Bericht des Seuchengeschehens zu COVID-19, bei der die Anzahl der Infektionen nach dem Datum des Auftretens erster Symptome sortiert wurden (siehe Primärquelle). Erst damit lässt sich der zeitliche Verlauf der Epidemie in ersten Näherungen abschätzen. In die Analyse flossen insgesamt 72.314 Patientenakten ein – 44.672 (61,8 Prozent) bestätigte Fälle, 16.186 (22,4 Prozent) Verdachtsfälle, 10.567 (14,6 Prozent) klinisch diagnostizierte Fälle (nur Provinz Hubei) sowie 889 asymptomatische Fälle (1,2 Prozent). Von den bestätigten Fällen waren die meisten im Alter von 30 bis 79 Jahren (86,6 Prozent), wurden in Hubei diagnostiziert (74,7 Prozent) und als milder Verlauf (80,9 Prozent) eingestuft. Insgesamt traten bis zum 11. Februar 1.023 Todesfälle unter den bestätigten Fällen auf, was einer Gesamtsterblichkeitsrate von 2,3 Prozent entsprechen würde – wobei hier nicht bestätigte infizierte Fälle nicht einberechnet sind. Ein erheblicher Anteil der in dieser Analyse enthaltenen Fälle (37 Prozent) wurde laut Angaben der Autoren nicht durch Nukleinsäuretests (RT-PCR) bestätigt, wie es die Falldefinition der WHO erfordert [I].
Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing
Auf die Frage, ob die aktuelle Publikation der chinesischen CDC eine Trendwende im Verlauf der Epidemie darstellt:
„Zunächst erscheint die epidemiologische Kurve der sinkenden Anzahl von bestätigten Diagnosen ermutigend, über die die CCDC in der Publikation berichtet. Aber als Kliniker hege ich noch Zweifel, ob es sich dabei schon um die erhoffte Trendwende bei diesem gewaltigen Ausbruch handelt. Nach Berichten aus China hat dort ja zeitweise die Verfügbarkeit der Nachweisdiagnostik (RT-PCR) abgenommen, sodass ich hinter diesen Meldezahlen der PCR-bestätigten Fälle zumindest in Hubei ein Fragezeichen setzen würde. Dort wurden sicher nicht alle Erkrankten diagnostiziert.“
„Im Festland von China werden zudem vor allem jene Fälle gezählt, bei denen Patienten bereits Symptome von COVID-19 zeigen, ganz anders als die Empfehlung der WHO, wonach PCR-positive Fälle auch dann als bestätigt gezählt werden, selbst wenn der Patient (noch) keine Symptome zeigt. Als Drittes kommt hinzu, dass die Dunkelziffer der COVID-19-Patienten in der Region Hubei vermutlich sehr hoch ist. Wer geht denn jetzt noch ins Krankenhaus zum Arzt, wenn er Angst hat, unter Quarantäne steht und die Wohnung ohnehin nur schwer verlassen kann?“
Auf die Frage, wie sich so viele Menschen auf dem Kreuzfahrtschiff infizieren können und sogar Ärzte und Pflegekräfte in den Krankenhäusern:
„Man sieht ja in China, dass sich selbst viele Ärzte und Pflegekräfte bei der Versorgung von Patienten angesteckt haben, inzwischen sogar ein Chefarzt. Die von uns hier in Deutschland benutzten Masken schützen unser Personal recht sicher. Wir haben jedoch inzwischen weitere Untersuchungen in unseren Patientenzimmern in München Schwabing vorgenommen. Obwohl diese Isolierzimmer unter ständigem Unterdruck stehen und die Luft im Raum über Hepa-Filter (High Efficiency Particulate Airfilter; Schwebstofffilter zur Luftreinigung; Anm. d. Red.) gereinigt wird, konnten wir in ersten Analysen zusammen mit Virologen und Hygieneforschern vom Max von Pettenkofer-Institut durch den Einsatz von mobilen Hepa-Filtern in den Räumlichkeiten infizierter Patienten SARS-CoV-2 nachweisen. Bei den schnell in Wuhan hochgezogenen Kliniken werden sicher keine Klimatechnik mit Unterdruck und Hepa-Filtersysteme verbaut worden sein, was bedeutet, dass die Ärzte und Pflegekräfte dort prinzipiell auch über Aerosole (also über die Luft; Anm. d. Red.) infiziert werden könnten, wenn die Masken keinen 100-prozentigen Schutz bieten. Mit anderen Worten: Die Ärzte dort an der Front leben gefährlich.“
„Auf Kreuzfahrtschiffen gibt es soweit ich weiß keine Klimaanlagen mit Hepa-Filtern. Das würde bedeuten, eine Infektion könnte dort auch über geschlossene Räume erfolgen. Ein bisher unterschätztes Risiko ist womöglich zudem, dass wir auch in Stuhlproben der Patienten per PCR-Diagnostik in der Initialphase von COVID-19 durchaus relevante Mengen von SARS-CoV-2 nachweisen konnten. Es wäre also durchaus denkbar, dass es selbst beim Toilettengang im Kreuzfahrtschiff zu Infektionen kommen kann oder auch nur über gemeinsam benutzte Toiletten.“
Bereichsleiter Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie
Auf die Frage, wie sich mehr als zehn Prozent der Passagiere auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess infizieren können:
„Aktuell ist die Dynamik der Infektionen nicht ganz klar: sind alle Infektionsereignisse gleich am Anfang passiert – das wäre aufgrund der langen Inkubationszeit denkbar – oder sind noch viele Infektionen nach den strengen Isolierungsregeln aufgetreten? Wenn dem so wäre, dann ist eine Übertragung ohne direkten Kontakt, zum Beispiel über die Klimaanlage oder sanitäre Einrichtungen zumindest in Betracht zu ziehen. Das gab es damals bei einem Ausbruch von SARS in einem Hochhaus in Hongkong, dort hat ein ‚Superspreader‘ womöglich Dritte über den Wasserabfluss infiziert.“
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Primärquelle
Feng Z et al. The Novel Coronavirus Pneumonia Emergency Response Epidemiology Team (2020): The Epidemiological Characteristics of an Outbreak of 2019 Novel Coronavirus Diseases (COVID-19) – China 2020. CCDC Weekly; Vol. 2.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] World Health Organization (31.01.2020): Global Surveillance for human infection with novel coronavirus (2019-nCoV). Interim guidance. WHO/2019-nCoV/SurveillanceGuidance/2020.3.
Prof. Dr. Clemens Wendtner
Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing
Prof. Dr. Bernd Salzberger
Bereichsleiter Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie