Gesundheitsgefahren von Kohlekraftwerken
Das Abschalten von alten Kohlekraftwerken hat in den USA zwischen 2005 und 2016 geschätzt über 26.000 frühzeitige Todesfälle (zu dieser Maßzahl siehe [a]) verhindert und zu etwa 15 Millionen Tonnen weniger Verlust bei Mais, Sojabohnen und Weizen geführt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Umweltwissenschaftlerin Jennifer A. Burney im Journal „Nature Sustainability“ (siehe Primärquelle).
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Abteilung Umwelthygiene, Umweltbundesamt (UBA), Berlin
„Dass die Abschaltung von Kohlekraftwerken beziehungsweise der Ersatz dieser durch emissionsärmere Technologien dazu führt, dass zunächst weniger Schadstoffe in die Umwelt gelangen, ist unbestreitbar. Das zeigen auch die Schätzungen der vorliegenden Studie. Die Bestimmung der gesundheitlichen Wirkung ist auf Basis dieses Studiendesigns jedoch nur als eine sehr grobe Schätzung der Größenordnung zu sehen.“
„Die Autorin wendet in ihrer Studie ein sogenanntes ökologisches Studiendesign [1] an. Hierbei werden ausschließlich durchschnittliche Werte für Bevölkerungsgruppen als Analyseeinheit genutzt. Im Fall der Studie sind dies durchschnittliche Werte für die untersuchten ‚Counties‘. Dies gilt sowohl für die Informationen zum Sterbegeschehen (Mortalitäts-Rate) als auch für die anderen Faktoren (Confounder), die ebenfalls in Zusammenhang mit der Mortalitätsrate stehen können. Ergebnisse solcher Studien können durch die sogenannte ‚ecological fallacy‘ verzerrt werden, denn die Durchschnittswerte für Counties berücksichtigen nicht die Verteilung der jeweiligen Charakteristiken (Variablen) innerhalb der einzelnen Counties, also die Eigenschaften der einzelnen Einwohner.“
„Es wird ebenfalls keine bevölkerungsbezogene Schätzung der Belastung (Exposition) mit den jeweiligen Schadstoffen durchgeführt, sondern lediglich der Zusammenhang zwischen dem Abschalten der Kohlekraftwerke und der Veränderung der Mortalitätsrate modelliert. Man hat somit keine Informationen darüber, wie belastet die Bevölkerung tatsächlich ist und wie sich die Abschaltung im Detail auf diese Belastung auswirkt. Betrachtet man die Abbildung 3a, so ist zu erkennen, dass für die Gesamtsterberate zwar ein Rückgang berechnet wurde, die altersspezifischen Raten jedoch sehr stark schwanken und den ‚Null-Effekt‘ miteinschließen. Zudem werden alle Todesfälle in der Analyse berücksichtigt, somit auch Todesfälle, für die eventuell kein plausibler Zusammenhang zu den Kraftwerksemissionen besteht. Somit ist die Schlussfolgerung, dass im Mittel 26.000 Leben gerettet wurden, bei Betrachtung der großen Unsicherheitsspanne von etwa 2.700 – 49.700 Todesfällen lediglich ein sehr grober Schätzwert. Man muss auch erwähnen, dass hier nicht, wie die Autorin schreibt, Leben gerettet wurden, sondern die Mortalitätsrate nach Abschalten der Kohlekraftwerke gesunken ist. Es sind also insgesamt weniger Menschen gestorben, was aber auch zum Beispiel mit dem Trend des demographischen Wandels und einer erhöhten Lebenserwartung zusammenhängen kann. Wie diese und weitere Faktoren, die die Mortalität beeinflussen, berücksichtigt werden, bleibt unklar.“
Auf die Frage, wie gut die gesundheitlichen Schlussfolgerungen der Studie auf Deutschland oder Europa übertragbar sind:
„Kohlekraftwerke stoßen Luftschadstoffe aus und diese sind gesundheitsschädlich. Dies gilt unabhängig davon, ob die Kraftwerke in Deutschland, Europa oder in den USA betrieben werden. Wie sich das Abschalten von Kraftwerken auf die Belastung (Exposition) der Bevölkerung auswirkt, ist jedoch von sehr vielen individuellen Faktoren abhängig und muss jeweils spezifisch für die Standorte untersucht werden (zum Beispiel Leistung der Kraftwerke, eingesetzte Brennstoffe, Effizienz der vorhandenen Techniken zur Emissionsminderung, meteorologische Ausbreitungsbedingungen, Bevölkerungsdichte und -Zusammensetzung in den von den Kraftwerksemissionen betroffenen Gebieten und so weiter).“
Vizedirektor des Schweizerisches Tropen und Public Health Institut Basel (Swiss TPH), Schweiz, und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Lufthygiene (EKL) des Bundesrates der Schweiz, Schweiz
„Zu den Hochrechnungen zur Abnahme der Sterblichkeit infolge der Umstellung auf weniger verschmutzende Kraftwerke werden die Unsicherheiten, mit welchen diese Schätzungen immer einhergehen, klar dokumentiert. Die Größenordnung der Schätzungen und die Schlussfolgerungen sind – trotz Verwendung einer ‚unzulässigen‘ Methode (siehe unten) – gut auf das derzeitige Wissen abgestützt. Es ist sinnvoll, dass nicht nur die Abnahme der Sterblichkeit, sondern auch die Reduktion der Ernteausfälle quantifiziert wurden.“
Auf die Frage, wie gut die gesundheitlichen Schlussfolgerungen der Studie auf Deutschland oder Europa übertragbar sind:
„Grundsätzlich könnten solche Hochrechnungen auf für Europa gemacht werden. Eine direkte Übertragung der Resultate ohne Berücksichtigung der lokalen Daten scheint mir heikel – auch wenn die generellen Trends, welche die Studie für die USA aufzeichnet, wohl auch in Europa zutreffen dürften. In Europa wäre es allenfalls sinnvoll, solche Hochrechnungen nicht nur für Kohlekraftwerke, sondern auch für die Folgen der verfehlten Dieselstrategien der letzten 30 Jahre aufzuzeigen. Viele Länder haben ja viele Jahre rußige, gesundheitsschädigende Dieselfahrzeuge massiv gefördert, während die EU die Partikelfilterpflicht viel zu lange herausgeschoben und die Grenzwerte für Feinstaub viel zu hoch angesetzt hat. In manchen europäischen Ländern hat deshalb Diesel in den letzten 30 Jahren einen viel größeren Schaden angerichtet als die Kohlekraftwerke. Da in Deutschland sowohl Kohle als auch Dieselruß lange intensiv gefördert wurden, wäre ein Vergleich dieser Beiträge und der positiven Folgen der nun eingeleiteten Veränderungen auf Gesundheit und die Agrarwirtschaft interessant.“
Auf die Frage, wie gut der Einfluss anderer Faktoren und Confounder auf die Ergebnisse ausgeschlossen werden konnte:
„Die Autorin hat eine neue Methode gewählt, welche sämtliche Analysenschritte auf der Makro-Ebene von aggregierten – also zusammengefassten – Daten durchführte. Entsprechend hat sie den Einfluss dieser Makro-Phänomene (wie Wohlstand oder Finanzkrisen) gut berücksichtigen können. Für die Berechnung der Zusammenhänge zwischen der Abnahme der Luftverschmutzung und der Gesundheit sollte man sich aber niemals auf solche Makro-Rechnungsmodelle abstützen; mit diesen können all die anderen für die Gesundheit sehr wichtigen individuellen Ko-Faktoren (zum Beispiel das Rauchen) nie berücksichtigt werden. Deshalb können sich auch völlig verzerrte, sinnlose Zusammenhänge ergeben – zum Beispiel dem uralten Witz folgend, wonach der Zusammenhang zwischen Geburtenraten und Storchenpopulationen zeigt, dass der Storch die Kinder bringt. Burney war sich dieser großen Einschränkungen ihrer Methode sehr bewusst. Sie vergleicht ihren – eigentlich ‚unzulässigen‘ – Schätzwert deshalb mit den heute für solche Hochrechnungen verwendeten validen Schätzwerten aus zahlreichen großen bevölkerungsbasierten Langzeitstudien der letzten Jahrzehnte. Letztere kontrollieren all diese Ko-Faktoren selbstverständlich sehr extensiv, weshalb auch nur diese Studien für Kausalschlüsse und die Herleitung von Grenzwerten benutzt werden können. Interessanterweise ist ihr ‚naiv berechneter‘ Zusammenhang zwischen Feinstaub und Sterblichkeit sehr ähnlich ausgefallen, weshalb ihre entsprechenden Hochrechnungen der Sterblichkeit durchaus plausibel sind.“
Senior Scientist im Department Umweltimmunologie und Core Facility Studien, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH (UFZ), Leipzig
„Die Studie von Jennifer Burney quantifiziert die Änderungen verschiedener Emissionen der Energieversorgung bei Ersatz von Kohle durch Gas als Primärenergieträger. Bei nur minimal verringertem Energiebedarf werden Emissionen und damit auch die Belastungen des Menschen reduziert. Daraus werden allerdings mit einem sehr weiten Vertrauensintervall verringerte Zahlen vorzeitiger Todesfälle abgeleitet. Eine Abschätzung verlorener Lebensjahre wäre wesentlich aussagekräftiger gewesen. Ungeachtet dessen ist eine Verringerung von Gesundheitsrisiken zu erwarten. Zahlreiche Studien haben Gesundheitsrisiken durch Schadstoffe, wie sie in signifikanten Konzentrationen auch durch Kohlekraftwerke emittiert werden, nachgewiesen.“
„Bei einer Reduktion der Kohleverstromung in Europa durch verstärkte Nutzung von zum Beispiel Gas, Wasserkraft, Wind und Kernenergie oder der effektiven Verringerung der Schadstoffkonzentrationen von Kohlekraftwerken sind ebenfalls positive Effekte auf die menschliche Gesundheit zu erwarten. Der deutliche Rückgang der Stromerzeugung aus Braun-und Steinkohle in Deutschland (13,8 TWh beziehungsweise 8,2 TWh Rückgang der Stromerzeugung aus Braun- beziehungsweise Steinkohle vom ersten Halbjahr 2018 zum ersten Halbjahr 2019 [2]) lässt die Schlussfolgerung zu, dass sich auch die Schadstoffemission ähnlich vermindert hat.“
Stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin am Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien, Österreich
„Die aufwendige Studie ist methodisch sehr sorgfältig durchgeführt worden. Es wurde versucht, verschiedene bekannte methodische Schwierigkeiten bei solchen Analysen etwa hinsichtlich der Zuordnung von Schadstoffdaten zur jeweiligen Quelle (sprich aus den Emissionsdaten auf betriebskausale Immissionen folgern) zu überwinden.“
„Die Schlussfolgerungen sind plausibel. Gerade zu den betrachteten Schadstoffen wie Feinstaub und Ozon sind die Erkenntnisse zu deren gravierenden Krankheitsfolgen für die betroffene Bevölkerung sehr gut abgesichert.“
Auf die Frage, wie gut der Einfluss anderer Faktoren und Confounder auf die Ergebnisse ausgeschlossen werden konnte:
„Es ist angesichts der Schwierigkeiten sicherlich gelungen, grobe und starke Störvariablen zu erfassen, die das Ergebnis beeinflussen könnten. Bei einer so umfassenden Analyse sind gewisse Unsicherheiten beziehungsweise weitere Einflüsse natürlich nicht im vollen Umfang einzuschließen. Andererseits wurden zum Beispiel Folgen der Schwermetallbelastung, aber auch anderer Schadstoffe, durch Kohlekraftwerke nicht in die Analysen inkludiert, was eher zu einer Unterschätzung der Gesundheitsrisiken führt.“
„Insgesamt ein sehr transparentes Vorgehen sowie exakte Darstellung der Grenzen der Aussagekraft.“
Auf die Frage, wie gut die gesundheitlichen Schlussfolgerungen der Studie auf Deutschland oder Europa übertragbar sind:
„Keine Frage: Kohlekraftwerke stoßen deutlich mehr Luftschadstoffe und Kohlendioxid aus als andere Energieerzeuger. Stickstoff- und Schwefeloxide tragen durch Bildung von Aerosolen speziell durch kleinere Feinstaub-Teilchen (PM2.5) zur Belastung bei. Stickstoffoxide sind neben Kohlenwasserstoffen auch als Vorläufersubstanzen für die Bildung von Oxidantien beziehungsweise Ozon verantwortlich. Die gesundheitlichen Folgen dieser Luftverunreinigungen wie Atemwegs- (zum Beispiel Asthma, Lungenkrebs) und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (zum Beispiel Herzinfarkte, Schlaganfälle) sind sehr gut beforscht. Daher können die Ergebnisse durchaus auch Hinweise auf die europäische Situation mit den derzeit betriebenen Kohlekraftwerken beziehungsweise auf die Ausstiegsszenarien geben.“
Auf die Frage, welche Zahlen es zu den Auswirkungen der Kohlekraftwerke in Europa gibt:
„Für die europäische Situation zur Frage der gesundheitlichen Auswirkungen von Kohlekraftwerken liegen Berechnungen der Krankheitslast vor. Allein die größten zehn Kohlekraftwerksbetreiber sind unter anderem für 7.600 frühzeitige Todesfälle pro Jahr verantwortlich. Die zusätzlichen Erkrankungsfälle (zum Beispiel chronische Bronchitis) resultieren laut dieser Analysen in mehr als zwei Millionen verlorenen Arbeitstagen.“
„Auch die externen Kosten durch die Luftverschmutzung pro Jahr wurden unter anderem von der Europäischen Umweltagentur berechnet: Die Garzweiler-Kraftwerke Neurath und Frimmersdorf bis zu 1,051 beziehungsweise 1,095 Milliarden Euro pro Jahr, KW Niederaußem bis zu 1,56 Milliarden Euro pro Jahr und Weisweiler bis zu 1,135 Milliarden Euro pro Jahr.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Burney JA (2019): The downstream air pollution impacts of the transition from coal to natural gas in the United States.Nature. DOI: 10.1038/s41893-019-0453-5.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Wikipedia: Ökologische Studie.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[a] Zur Maßzahl der frühzeitigen Todesfälle und der Maßzahl der verlorenen Lebensjahre: SMC Fact Sheet (2018): Verlorene Lebenszeit als Maßeinheit für Gesundheit – vorzeitige Todesfälle, verlorene Lebensjahre oder doch etwas anderes?
Dr. Dietrich Plaß
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Abteilung Umwelthygiene, Umweltbundesamt (UBA), Berlin
Prof. Dr. PhD. Nino Künzli
Vizedirektor des Schweizerisches Tropen und Public Health Institut Basel (Swiss TPH), Schweiz, und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Lufthygiene (EKL) des Bundesrates der Schweiz, Schweiz
Dr. Ulrich Franck
Senior Scientist im Department Umweltimmunologie und Core Facility Studien, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH (UFZ), Leipzig
Assoz.-Prof. PD Dr. Hans-Peter Hutter
Stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin am Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien, Österreich