Designerbabys bleiben Zukunftsmusik
Moderne gendiagnostische Entwicklungen scheinen die Entstehung eines nach elterlichen Wünschen optimierten Designerbabys in greifbare Nähe rücken zu lassen. Erste Firmen bieten eine angeblich prädiktive Gendiagnostik für multifaktorielle Eigenschaften zur Auswahl menschlicher Embryonen im Rahmen einer künstlichen Befruchtung an [I]. Aber wie weit ist die seriöse Forschung tatsächlich, was die Vorhersage multifaktorieller Eigenschaften angeht? In einem Gedankenexperiment spielen israelische Wissenschaftler erstmals den Versuch durch, Embryonen nach IQ-Wert und Körpergröße auszuwählen und kommen zu dem Schluss, dass eine gezielte Auswahl von Embryonen bei multifaktoriell vererbten Merkmalen nach heutigen Erkenntnissen stark limitiert bleiben wird.
Richard McCormick Endowed Chair für Christliche Ethik, Loyola University Chicago, Vereinigte Staaten von Amerika
„Das Gedankenexperiment ist in der Tat neu, weil die Autoren Polygenetic Scores (Körpergröße und kognitive Fähigkeiten) auf die Embryoselektion anwenden. Nach eigenen Angaben gibt es bisher keine solche Studie – und die hier vorgelegte ist aus guten Gründen ein Gedankenexperiment und eine Simulationsstudie. Dabei machen die Autoren Annahmen, die in der entsprechenden Literatur häufig vorausgesetzt, aber nirgendwo explizit thematisiert werden: Warum erscheinen Größe und IQ als ‚Güter‘ beziehungsweise Werte, die per se als positiv bewertet werden? Warum wählen sie diese Parameter für das Gedankenexperiment aus? Insinuieren sie damit, dass eine bestimmte Körpergröße und ein bestimmter IQ-Wert für die eigenen Nachkommen erstrebenswert – und dann anstrebenswert – sind? Mit solchen Fragen verlässt man aber bereits den gesteckten Rahmen der Studie und überträgt sie auf die Lebenswelt. Demgegenüber erscheint die Studie als deskriptives Szenario.“
„Die erste Forschungsfrage lautet, wie sich ein vorhergesagter Wert eines ‚selektierten‘ Embryos vom Durchschnittswert der anderen Embryonen unterscheidet (difference gain); die zweite untersucht den genotypisch vorhergesagten und den tatsächlich phänotypisch erreichten Wert (predicted-realized gain). Letztere Berechnungen basieren auf dem Vergleich genetischer Daten und phänotypischer Merkmale von erwachsenen Kindern aus Großfamilien mit etwa zehn Kindern pro Familie.“
„Die verfügbare Anzahl von Embryonen wird auf zehn festgelegt, was erklärtermaßen ein erhöhter Wert ist (selbst die Anzahl von fünf bis acht Embryonen, die die Autoren als wahrscheinlicher angeben, erscheint als sehr hoch).“
„Die mathematischen Berechnungen sind für Nichtmathematiker kaum oder nur mit großem Aufwand überprüfbar. Die Embryonen werden weitgehend fiktionalisiert, auch wenn die Daten entweder von nach dem Zufallsprinzip ausgesuchten Paaren oder aus einer der zwei Kohorten stammen, nämlich von jüdischen Paaren mit Ashkenazi-Herkunft. Die zweite Kohorte besteht aus knapp eintausend griechischen Männern. Dies wirft soziale Fragen auf, die aber nirgendwo diskutiert werden – der Zugang zu Datensätzen steuert allerdings die Berechnung.“
„Was sich aber genau hinter der Bezeichnung der zwei Kohorten verbirgt, ist vollkommen unklar: Es mögen Selbstbeschreibungen sein oder die genetische Identifizierung von ethnischen Gruppen, einem Geschlecht (sex, nicht gender...) oder von Staatsangehörigen (‚Griechen‘). Das Gedankenexperiment simuliert Vorhersagen in Bezug auf die Embryonenselektion. Ein Gedankenexperiment ist kein Experiment; innerhalb des gesetzten Rahmens ist dies jedoch weitgehend irrelevant, weil es allein um die Auswertung von Datensätzen geht. Auf dieser Grundlage wenden die Autoren die Berechnungen so präzise wie möglich an, integrieren diese aber in ein lebensweltliches Narrativ, das ohne jede Absicherung in einem wissenschaftlichen Text erscheint. Dies ist das Narrativ der Präimplantationsdiagnostik (PID) und Embryonenselektion, das das Gedankenexperiment bestimmt – die Polygenetic Scores (PS) zu nutzen, um unabhängig von ethischen oder rechtlichen Regeln bestimmte Charakteristika seiner Kinder zu bestimmen.“
„Die Berechnungen selbst kann ich nicht beurteilen und muss also davon ausgehen, dass sie im Peer Review überprüft wurden.“
Auf die Frage, inwiefern es Sinn macht, auf Basis von PS Vorhersagen für einen Phänotyp zu treffen:
„Die Autoren reagieren auf einen Trend, der sich immer deutlicher abzeichnet. Sie machen keine individuellen Vorhersagen, sondern überprüfen generell die Validität und Anwendbarkeit auf die PID und die Embryonenselektion. Dies erscheint mir relevant, um eine Diskussionsgrundlage zu erhalten, welche durch ein mathematisches Modell abgesichert ist. Ein solches Gedankenexperiment ist willkommen, wenn es mit der gleichen Sorgfalt die ethische Problematik aufzeigen würde.“
„Aussagen wie ‚we predicted the height or IQ of each simulated embryo‘ sind zwar im Kontext der Modellrechnungen deskriptiv zu verstehen, können aber leicht aus dem Zusammenhang gerissen werden und dann eine eigene Wirkungskraft entfalten. Lassen sich diese polygenetischen Merkmale vorhersagen, stellt sich nur noch die Frage, unter welchen Bedingungen die Vorhersage (Diagnostik im Kontext von PID?) zum Einsatz kommen soll. Eine solche Entscheidungskaskade von der Anwendbarkeit von Tests über die Kriterien der Anwendungen bis hin zur Umsetzung der Kriterien (durch Gesetze, Monitoring oder Lizenzen) – mit weniger oder mehr gesetzlichen Kontrollen und noch weniger Qualitätskontrollen des Monitoring – sind bekannt; sie könnten auch in diesem Anwendungsfeld in den nächsten Jahren erfolgen.“
„Allerdings zeigt die Studie eben auch, dass bei weniger als fünf verfügbaren Embryonen die Aussagekraft sehr gering ist. Umgekehrt gilt – und dies scheint wichtig für jede Eugenik-Fantasie: Je größer die Anzahl von Embryonen (oder Kindern), umso weniger lässt sich der Durchschnittswert durch die Selektion eines einzigen Embryos steigern. Das ist womöglich ein schlechtes Argument in der menschlichen Reproduktion, nicht aber in der Tierzüchtung, auf die die Autoren explizit hinweisen. Zwei bis drei Zentimeter mehr Körpergröße und zwei bis drei Punkte erhöhter IQ sind der ‚Ertrag‘ bei den zugrunde gelegten verfügbaren zehn Embryonen. Beim Vergleich zwischen Genotyp und Phänotyp versagen die Vorhersagen, woraus die Autoren den Schluss ziehen, dass es eine ‚inhärente Unsicherheit‘ gibt, die die Methode ungeeignet für Embryonenselektion erscheinen lässt.“
„Derzeit werden mit GWAS (genomweite Assoziationsstudien; Anm. d. Red.) und PS viele Studien durchgeführt, die aber alle einschränkend sagen, dass Epigenetik und Umweltfaktoren eine präzise Vorhersage erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Die Aussagen sind insofern widersprüchlich, als dass trotz aller Präzision die genetischen Informationen direkte Korrelationen zum Phänotyp nicht zulassen. Es entsteht ein Ungleichgewicht von ethnischer Herkunft (früher sagte man ‚Rasse‘), Geschlecht, Umweltfaktoren einerseits und genetischen Daten andererseits. Letztere haben eine große Wirkmacht, weil der Glaube an genetische Determination in den Kulturen, in denen genetische Tests inzwischen breitflächig – vor allem aber in der Reproduktion – angeboten werden, fest verankert ist.“
„Die Autoren gehen davon aus, dass Whole Genome Sequencing (WGS, Sequenzierung des kompletten Genoms; Anm. d. Red.) einige Verbesserungen bringen wird, weil auch einige seltene Variationen erfasst werden könnten. Damit ließe sich in der Selektion von Embryonen etwa der doppelte Wert erzielen. Sie machen aber auch deutlich, dass es nur durch die Kombination der Analyse von genetischen Tests und phänotypischem Verhalten möglich ist, über die Embryonenselektion wirksame Veränderungen zu erzielen. Dann allerdings stellt sich die Frage, inwieweit in Zukunft die Sequenzierung des gesamten Genoms die Grundlage für weitere Empfehlungen darstellen wird – oder umgekehrt, inwieweit phänotypische Merkmale der Anlass für Gentests und PID sein werden.“
„PS sind unzuverlässig in der Vorhersage, wenn es sich um seltene Merkmale (nur dies würde sich durch WGS ändern), das ‚untere‘ Ende des jeweiligen Spektrums, unterschiedliche Geschlechter oder verschiedene ethnischen Gruppen handelt. Auch die Korrelation von SNP (single nucleotide polymorphisms, Variationen einzelner Basenpaare; Anm. d. Red.) und Umwelt sowie Zeit-Raum-SNP-Effekte beeinflussen die Zuverlässigkeit der Vorhersage.“
Auf die Frage, welche Risiken Eltern eingehen würden, die nach höchstem PS-Wert eines Merkmals selektieren:
„Es besteht ein erhöhtes gesundheitliches Risiko für Frauen, falls sie bis zu zehn Eizellen befruchten lassen wollen (je weniger Embryos, umso geringer die Chance der Abweichung vom Durchschnittswert). Zudem besteht das Risiko, dass Frauen gar kein Kind bekommen (die normale Erfolgsrate pro Zyklus einer künstlichen Befruchtung (n-vitro Fertilisation, IVF) beträgt 30 Prozent), weil die selektierten Embryonen nicht lebensfähig sind, oder dass sie Fehlgeburten erleiden. Es könnte ebenfalls passieren, dass sie ein Kind ohne große Abweichung vom Durchschnittswert bekommen oder sich die Abweichungen zwischen Genotyp und Phänotyp erst im Laufe der Zeit zeigen und dann die Erwartungen enttäuschen. Außerdem bestehen Krankheitsrisiken für das Kind, die auf das Merkmal, das positiv selektiert wird, zurückgehen (zum Beispiel, dass nach Intelligenz selektiert wird, dafür aber Autismus eine größere Wahrscheinlichkeit bekommt).“
Auf die Frage, inwiefern die Selektion von Embryonen für komplexe Eigenschaften auf Basis von PS ethische Fragen aufwerfen würde:
„Viele Fragen sind bekannt und werden von den Autoren selbst benannt: Diese betreffen einerseits die individuelle und soziale Eugenik (unter Umständen auch die staatliche Eugenik für bestimmte Gruppen), andererseits Parameter wie Zugangsgerechtigkeit (access rights-justice), Bedürfnisgerechtigkeit sowie allgemeine Verfahrensfragen, etwa: Wer entscheidet, nach welchen Kriterien wird entschieden und wer profitiert?“
„Andere Fragen werden dagegen gar nicht erst gestellt. Darunter fallen Fragen nach verantwortungsvoller Forschung (etwa in Bezug auf Datenschutz und Datenverwendung), nach der Integration von wissenschaftlichen und human- oder geisteswissenschaftlichen Studien – insofern sie relevant für das Forschungsdesign sind (hier: IVF, PID, Embryonenselektion) – , nach dem Embryonenschutz im moralischen Sinn, nach der Verdinglichung oder Naturalisierung von ‚Menschenmaterial‘, nach der Grundlage der Bewertung von Leistungsparametern und des kompletten Enhancements (wozu zum Beispiel auch die Selektion nach IQ gehören würde), nach der Diversität der Genome, den Auswirkungen auf Elternschaftsmodelle, der möglichen Einschränkung der zukünftigen Freiheitsrechte (das Recht auf eine offene Zukunft) und der Kommerzialisierung der Tests. Diese Fragen werden seit Jahren diskutiert, finden aber kaum Eingang in Studien, die beide Perspektiven verbinden. So auch hier nicht.“
Professor für Systematische Theologie/ Ethik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats
„Die Lektüre des Artikels lässt mich mit einem schalen Gefühl zurück. Einerseits vermittelt der Beitrag den Eindruck: So richtig viel kann man derzeit mit der biostatistischen Methode nicht anfangen. Mittels Polygenic Scores will man maximal 2,5 Zentimeter Größenunterschied und maximal 2,5 IQ-Punkte-Steigerung im Genotyp (und dann nicht mal sicher im Phänotyp) vorhersagen. Bei gesundem Menschenverstand bräuchte man nicht zu befürchten, dass angesichts dieser erhofften mageren ‚Ausbeute‘ sich die menschliche Reproduktion grundlegend ändern, auf künstliche Befruchtung kaprizieren würde und folglich plötzlich massenweise Designerbabys zu befürchten seien. Insofern sorgt der Artikel gegenwärtig und wohl auch noch mittelfristig für eine gewisse Ernüchterung angesichts geschürter Ängste wie spekulativer Versprechungen.“
„Andererseits beunruhigt mich die scheinbar nebensächliche Formulierung, dass diese Ergebnisse ‚beim gegenwärtigen Stand der Technik‘ nur als ‚bescheiden‘ angesehen werden könnten. Im Umkehrschluss bedeutet diese Aussage: Grundsätzlich bietet das Verfahren eine Blaupause, effektiver die Information multifaktorieller Vererbungen nutzen zu können. Blickt man auf den Fortschritt in den angewandten, vor allem den informatischen Techniken und Methoden, kann die Formulierung ‚beim gegenwärtigen Stand der Technik noch wenig aussagekräftig‘ auch als Drohung gelesen werden.
„Obwohl der Beitrag zeigt, dass das Designerbaby gegenwärtig weit entfernt scheint, macht er doch deutlich: Klarer als zuvor erscheint deren Möglichkeit am Horizont. Aber lohnt es sich, diese Vision, vor allem zur vermeintlichen Verbesserung einzelner Fähigkeiten, mit großem Forschungs- und Finanzinvestment weiterzuverfolgen? Wer Kinder hat, weiß, wie sehr sie sich – Gott sein Dank – den Projektionsversuchen ihrer Eltern entziehen. Statt auf 2,5 oder gar 10 Zentimeter Größen- oder (was heißt das schon?) IQ-Unterschied zu setzen, sollte neuen Erdenbürgern mehr Liebe und Raum zur Entfaltung und Stärkung einer resilienten Persönlichkeit geschenkt werden. Davon haben die Kinder, davon haben die Eltern mehr – vor allem Freude!“
„Wenn die neue Versuchsanordnung aber ein Baustein auf dem Weg wäre, schwere multifaktorielle Erkrankungen umgehen zu können, dann wird man sich der Diskussion darüber nicht verweigern können. Es wird dann aber eine Diskussion über die Ausweitungstendenz von In-Vitro-Befruchtung in Verbindung mit Präimplantationsdiagnostik und vermutlich auch Genome Editing geführt werden müssen. Diese Diskussion dürfte dann einen Einfluss auf das Selbstverständnis des Menschen haben – sie würde uns alle angehen und muss von allen geführt werden können.“
Professor für Ethik in der Reproduktionsmedizin und Genforschung, Maastricht University, Niederlande
„Die Menschen werden wahrscheinlich sehr unterschiedlich auf die Feststellung reagieren, dass das Screening von IVF-Embryonen auf polygene Merkmale wie IQ nur einen begrenzten Nutzen hat, da der am besten bewertete Embryo voraussichtlich nur 2,5 Punkte über dem durchschnittlichen IQ liegen würde. Die Befürworter eines solchen Screenings können enttäuscht sein, da sie hoffen, dass eine Profilierung von Embryonen es zukünftigen Eltern ermöglichen könnte, das ‚bestmögliche Kind‘ auszuwählen. Gegner hingegen können sich vielleicht etwas erleichtert fühlen - vielleicht bleibt die Aussicht auf das ‚Designer-Baby‘ nur Science-Fiction.“
„Während die Autoren erklären, dass die Genauigkeit der Polygenic Scores in Zukunft wahrscheinlich zunehmen wird, heben sie eine Vielzahl ethischer Bedenken bezüglich eines solchen Screenings hervor. Implizit weisen sie auf einen der Haupteinwände in der Debatte hin, nämlich dass das Screening von IVF-Embryonen auf nicht-medizinische, besondere Merkmale dazu neigen würde, das zukünftige Kind zu ‚instrumentalisieren‘, da es das Kind seiner ‚offenen Zukunft‘ beraube. Dieser Einwand wirkt etwas überstrapaziert, weil zumindest einige dieser Eigenschaften, zum Beispiel ein höherer IQ, sogenannte ‚Allzweck-Mittel‘ sind; sie ermöglichen es den Menschen, alle Ziele im Leben zu verwirklichen, die sie für wertvoll halten.“
„Die Autoren vergessen zudem, auf die womöglich wachsende Kluft zwischen den Menschen einzugehen, die sich ein polygenes Screening leisten können und jenen, die keinen Gebrauch davon machen könnten. Einige Gerechtigkeitstheoretiker haben argumentiert, dass, um eine solche Ungleichheit zu vermeiden, solche Technologien kollektiv finanziert werden sollten – aber dieses Szenario ist angesichts der knappen Ressourcen für die Gesundheitsversorgung sowohl unwahrscheinlich als auch problematisch.“
„Ich sehe zwei weitere Aspekte, die auf die moralische Agenda gehören. Erstens sind die Kriterien für den selektiven Transfer im Rahmen der ‚traditionellen‘ Präimplantationsdiagnostik einfach: Ein Embryo, der von der getesteten Krankheit betroffen ist, wird nicht übertragen, während prinzipiell ein nicht betroffener Embryo übertragen wird. Das ‚Preimplantation Genetic Testing‘ (PGT) 2.0 erweitert jedoch seinen Anwendungsbereich insofern, als es Embryonen gleichzeitig auf verschiedene Defekte und Varianten testet. In der Konsequenz wird die Auswahllogik zu einer Frage des ‚Rankings‘ von PGT-Embryonen. Wäre es nicht ethisch problematisch, einen Embryo mit einem etwas höheren vorhergesagten IQ zu priorisieren und zu übertragen anstatt eines Embryos, der ein deutlich besseres Entwicklungspotenzial und/oder Gesundheitsprofil ausweist? Die Auswahl von Embryonen für komplexe nichtmedizinische Merkmale würde angesichts des Risikos der so genannten antagonistischen Pleiotropie noch fragwürdiger werden – das heißt Embryonen, die für ein nichtmedizinisches Merkmal A ausgewählt wurden, können anfälliger für Behinderung / Krankheit B sein.“
„Moralische Fragen im Zusammenhang mit der Auswahl von Embryonen für nicht-medizinische Merkmale müssen intensiv erforscht werden – unabhängig davon, ob die Genauigkeit des polygenen Screenings bei IVF-Embryonen in Zukunft zunehmen wird. Schließlich wird die zukünftige Keimbahn-Genombearbeitung zweifellos die Machbarkeit der reproduktiven Selektion erhöhen.“
Geschäftsführer des Klinischen Ethik-Komitees am Universitätsklinikum Tübingen und Leiter der Forschungsstelle „Ethik der Genom-Editierung“, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Eberhard Karls Universität Tübingen
„Das Gedankenexperiment ist keineswegs neu. Das Szenario erinnert stark an ‚eugenische‘ Ideen, alle Mittel zu ergreifen, um die ‚besten‘ Kinder auszuwählen – Vorstellungen, die auch noch im 21. Jahrhundert einige Anhänger haben [1]. Vergleichbare Berechnungen stellte unter anderem auch der Transhumanist und Zukunftsforscher Nick Bostrom in seinem Buch zur Superintelligenz an [2]. Zudem behauptet mittlerweile ein Unternehmen (Genomic Prediction), in der Lage zu sein, Embryonen auf polygene Merkmale zu selektieren und Wunscheltern über Veranlagungen der Embryonen zu einem geringen IQ oder einer geringen Körpergröße informieren zu können. Neu an der Studie scheint mir, dass hier wohl erstmals anhand großer Datensätze eine ausgeklügelte Berechnung über die Möglichkeiten und Limitationen einer entsprechenden Embryonenselektion veröffentlicht wurden.“
„Viele Veranlagungen für Erkrankungen, die allermeisten Merkmale, wie zum Beispiel Intelligenz oder sogar vermeintlich simple Eigenschaften wie die Körpergröße, sind Ergebnisse eines Zusammenspiels von zahlreichen Faktoren. Einen einfachen Gendeterminismus anzunehmen wäre hier naiv. Immer mehr Faktoren rücken in den Blick, die einen Beitrag auf unsere biologische Biografie haben. Polygenic Scores erlauben daher auch keine Gewissheit bei der Vorhersage eines Phänotyps (Erscheinungsbild; Anm. d. Red.), sondern geben allenfalls statistische Wahrscheinlichkeiten über die Zukunft eines Embryos. Gegenwärtig gibt es wohl kaum ein überzeugendes Anwendungsszenario für eine Embryonenselektion auf Grundlage solcher Polygenic Scores.“
„Whole Genome Sequencing beziehungsweise Genomweite Assoziationsstudien sind für die Forschung interessant, für die Reproduktionsmedizin bislang aber von geringem Wert. Hier sind zwar Erkenntnisse durch weiterführende Studien zu erwarten. Gerade bei der Embryonenselektion zeigt sich allerdings eine entscheidende Limitierung: Hier kann nur aus einer sehr begrenzten Anzahl an Embryonen ausgewählt werden. Alleine schon aus diesem Grund wird es das vollständige geplante Wunschkind erst einmal nicht geben.“
„Die Studie weist aber in eine bedenkliche Richtung: Embryonen könnten vielleicht einmal aus reprogrammierten Körperzellen in unbegrenzter Zahl gezeugt werden. Damit eröffnen sich theoretisch sogar Szenarien einer ‚Eugenik im Reagenzglas‘ [3], bei der mehrere Generationen von Embryonen gezüchtet würden und damit sozusagen im Labor eine gesteuerte, beschleunigte Evolution erfolgt. Außerdem könnte zukünftig eine gezielte Veränderung von Embryonen mittels Genom-Editierung erfolgen. Dann müsste der gewünschte Embryo nicht mehr selektiert werden, sondern könnte durch direkte Manipulationen geschaffen werden. Beides ist aber noch Wissenschaftsfiktion.“
„Die Auswahl von Embryonen klingt in der Theorie leicht, ist aber für die Frau durchaus mit körperlichen und häufig auch psychischen Lasten verbunden. Ungeachtet ethischer Bedenken zeigt die Studie deutlich: Selbst wenn die Auswahl von Embryonen anhand eines PS-Wertes als erstrebenswert gesehen wird, könnte der denkbare minimale Nutzen die Belastung durch Eizellentnahme und die assistierte Reproduktion wohl kaum aufwiegen.“
„Die zugrundliegende Idee einer genetischen Steigerung könnte Wunscheltern außerdem mit unangenehmen Fragen konfrontieren: Nämlich ob ihre Biologie gut genug für das eigene Kind ist. Konsequent weitergedacht, ist der limitierende Faktor schließlich die Veranlagung des Paares. Statistisch gesehen würde so gut wie immer der Einsatz einer Samenspende einer entsprechend veranlagten dritten Person zu einem Embryo mit höherem PS-Wert führen. Hier zeigen sich die verqueren Implikationen solcher eugenischen Überlegungen.“
„Mit Blick auf das Szenario müssen wir erinnern, dass die Embryonenselektion in den meisten Ländern nur für schwere Erbkrankheiten zugelassen ist. In diesem Sinne haben wir es nicht nur mit einem Gedankenexperiment zu tun, sondern auch mit einem weithin unzulässigen Planspiel. In gewisser Weise hat die Studie aber auch etwas Beruhigendes. Denn sie zeigt die Limitierungen der Embryonenselektion auf. Zugleich steht diese Forschung stellvertretend für die zunehmenden Bemühungen, das Erbgut von Nachkommen planbar zu machen. In dieser Hinsicht ist das Paper auch keine harmlose Zahlenspielerei, sondern steht mit ernsthaften ethischen Fragen in Verbindung, die die Autoren leichtfüßig übergehen. So müssen wir diskutieren, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der die andauernde Quantifizierung und Maximierung auch in die Familienplanung reicht. Daneben müssen wir fragen, was es mit den betroffenen Nachkommen sowie der Eltern-Kind-Beziehung macht, wenn bereits vor der Zeugung auf die mögliche Intelligenz des Kindes geschielt wird.“
„Vielleicht noch eine kurze Anmerkung: Ich bin etwas über die Veröffentlichungsstrategie überrascht. Ich finde das Paper nicht sonderlich originell, aber es scheint von der Bemühung getragen, viel Aufmerksamkeit zu generieren. Ich würde auch vermuten, dass das Veröffentlichungsdatum – ein Jahr nach der Geburt von ‚Lulu‘ und ‚Nana‘ – nicht zufällig gewählt ist.“
Dozent an der Universität Kiel und Universität Göttingen sowie Spezialist für Reproduktionsmedizin am Kinderwunschzentrum gyn-medicum, Göttingen
„Die Autoren haben ihr Rechenexperiment anders als vorhergehende Berechnungen auf reale genetische Bevölkerungsanalysen gestützt. Diese Art der Analyse macht immer dann Sinn, wenn eine Eigenschaft nicht nur von einer einzelnen genetischen Anlage abhängt, sondern von mehreren Anlagen, wie zum Beispiel die in der Veröffentlichung untersuchten Merkmale Körpergröße und Intelligenz, aber auch Krankheiten wie Diabetes mellitus. Diese Methodik wird bislang nicht eingesetzt. Sie lässt sich vermutlich noch weiter verbessern. Bei den in diesem Zusammenhang diskutierten Methoden muss man unterscheiden zwischen technischen und ethischen Aspekten: übermenschliche Verbesserungen, also Eigenschaften, die der Mensch sonst nicht hat; Eigenschaften, die manche haben, andere nicht, und die mit Krankheit nichts zu tun haben und schließlich Anlagen für Krankheiten.“
„Die erste Variante ließe sich eventuell erreichen mit Eingriffen in die Keimbahn – darum geht es hier aber nicht! Hier geht es um die zweite Variante: das Ergebnis zu steigern, indem man Embryos bei der Reagenzglasbefruchtung nicht nach dem Zufall auswählt. Die wichtigere Entscheidung haben allerdings zuvor schon die zukünftigen Eltern getroffen, indem sie sich gegenseitig ausgesucht haben. Durch die Partnerwahl wurden auch die Anlagen für Größe und Intelligenz in den Embryonen beeinflusst. Ob man dies wie hier vorgetragen weiter technisch geringfügig steigern sollte? Aus ethischer und ärztlicher Sicht erscheinen mir die Nachteile größer als eventuelle Vorteile. Und damit meine ich nicht die durch die Auswahl aus vorhandenen Embryonen in eine Richtung vermutlich eher kleineren medizinische Risiken. Vielmehr ginge dies in die Richtung, das zukünftige Kind zum Objekt zu machen, was dessen Menschenwürde verletzte.“
„Dies wäre ganz anders zu beurteilen, wenn es darum ginge, dem Kind einer Diabetikerin deren Leidensgeschichte zu ersparen. Davon ist hier jedoch leider nur am Rande die Rede. Schließlich ist es verständlich, dass Wissenschaftler nach all den Mühen ihrer Experimente Aufmerksamkeit haben wollen. Jedoch ist für die meisten Länder weltweit viel relevanter, dass sie bei ungewollter Kinderlosigkeit leider nicht die Bedingungen haben wie in Israel, aus dem die Untersuchung stammt: Dort bezahlt die Gemeinschaft bis 45 Jahre die Behandlung für zwei Kinder, unabhängig von der Anzahl der Behandlungen! Professor Schenker aus Jerusalem erklärte mir dies damit, dass man das Gebot der Bibel ‚Seid fruchtbar und mehret euch‘ als Auftrag für die Politik sieht. Hieran ist bei uns leider niemand interessiert, die hieraus resultierenden Schicksale sehe ich jedoch täglich.“
emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, Berlin und Professor und Facharzt am Institut für Humangenetik, Universität Mainz
„Soweit ich weiß, ist dies die erste empirische Studie, in der die Möglichkeiten und Grenzen der Bestimmung von Polygenic Scores (PS) zur Selektion von Embryonen mit multifaktoriell bedingten Merkmalen (hier: Körpergröße und Intelligenz) systematisch untersucht wurden. Allerdings wurden das Erbgut der Embryonen dabei anhand der Elterngenome ‚synthetisiert‘, das heißt de facto simuliert.“
„Das Modell der Publikation beschreibt nicht nur die heutige Situation, sondern geht bezüglich der Rahmenbedingungen an die Grenzen des jetzt Vorstellbaren. Zum Beispiel gehen die Forschenden davon aus, dass bei einer Hyperovulation zur Stimulation der Eizellreifung vor der in-vitro Fertilisation zehn normale Eizellen – und nach künstlicher Befruchtung zehn normale Embryonen – gewonnen werden können. Das ist sehr viel mehr, als heute unter Standardbedingungen der IVF möglich ist. Sie berücksichtigen dabei zudem nicht, dass viele Embryonen chromosomale Veränderungen aufweisen, die zu Frühaborten führen und deshalb für eine Auswahl nicht infrage kommen.“
„Die Argumente in Bezug auf die Vorhersagekraft multifaktoriell bedingter Merkmale sind in jeder Hinsicht schlüssig. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Möglichkeit der Embryo-Selektion auf der Grundlage von PS, sondern auch im Hinblick auf deren generell limitierte Aussagekraft.“
„Es wird in der Publikation gezeigt, dass die Anzahl selektierbarer Embryonen für den Gewinn (gain) dieser Selektion von großer Wichtigkeit ist – unterhalb von zehn verfügbaren Embryonen wird der erwartbare Wert rasch geringer. Selbst wenn man noch mehr Embryonen zur Auslese zur Verfügung hätte, wäre eine Steigerung des ‚gains‘ bescheiden – wobei damit die Wahrscheinlichkeit gemeint ist, dass der selektierte Embryo tatsächlich größer oder intelligenter ist als es ohne Selektion in vitro zu erwarten.“
„Aufschlussreich ist zudem, dass nur in etwa einem Viertel der untersuchten Großfamilien (mit im Mittel 9,6 Kindern) dasjenige Kind mit dem höchsten PS auch tatsächlich das größte war, aber in fünf dieser Familien das Kind mit dem höchsten PS sogar kleiner war als der Durchschnitt.“
„Würde man mehr genetische Variationen (Single Nucleotid Polymorphisms, SNP), in die Analyse mit einbeziehen – etwa durch Typisierung mithilfe der Gesamtgenomsequenzierung (Whole Genome Sequencing, WGS) – würde die Aussagekraft der Vorhersage zwar steigen, aber nicht sehr stark.“
„Sie bliebe zudem mit erheblicher Unsicherheit belastet, die sich aus dem Einfluss verschiedener nicht genetischer Faktoren erklärt, der Umwelt im weitesten Sinne, wobei damit auch das durch die Eltern kreierte Umfeld gemeint ist, oder aus weiteren Faktoren, zum Beispiel der betrachteten Population oder Genosse Zufall.“
„Insgesamt ist der durch Selektion anhand von GWAS-Daten (genomweite Assoziationsstudien; Anm. d. Red.) zu erwartende ‚gain‘ in Bezug auf Körpergröße und Intelligenz gering, im Bereich von maximal fünf bis sechs Zentimetern an Größe und maximal fünf IQ-Punkten. Bei der Selektion auf mehr als ein Merkmal würde sich der ‚Gewinn‘ weiter drastisch verringern.“
„Wie von den Autoren selbst erwähnt, hat sich bei Selektion für erwünschte Zuchteigenschaften von Nutztieren und Pflanzen immer wieder herausgestellt, dass dabei die Krankheitsanfälligkeit drastisch zunahm oder andere nützliche Eigenschaften im Erbgut verlorengingen. Auch die Selektion auf Körpergröße, Intelligenz oder andere Merkmale ginge mit solchen Risiken einher, wie die Assoziation zwischen hoher Intelligenz und bestimmten Formen von Autismus zeigt.“
„Die der künstlichen Befruchtung (IVF) vorausgehende Hyperovulation ist eine für die prospektive Mutter sehr belastende Prozedur; überdies ist sie teuer. Da die Selektion von Embryonen auf multifaktorielle Merkmale kaum von Krankenkassen bezahlt werden würde, wäre sie allein Begüterten vorbehalten. Die prospektiven Mütter wären vermutlich älter als der Durchschnitt – was die Ausbeute an gesunden Embryonen und damit den ‚gain‘ der Selektion anhand von PS erneut drastisch reduzieren würde.“
„Ich denke, dass diese in jeder Hinsicht hervorragende Untersuchung wesentlich dazu beitragen wird, die PS zu entzaubern – selbst in der ‚GWAS Community‘, die nach dem eklatanten Fehlschlag der Suche nach genetischen Markern für häufige Krankheiten noch immer ihre Wunden leckt und die PS als mögliche Heilsbringer auf den Schild gehoben hat.“
„Ethische Probleme würden erst entstehen, wenn Regierungen oder Kostenträger auf diesem Auge blind wären und der Einführung der PS-gestützten Embryoselektion den Weg bereiten würden – was hoffentlich nicht passieren wird. Damit hat für mich als Humangenetiker eine Diskussion der ethischen Aspekte nur akademischen Charakter; aktuell sehe ich dafür keinen Anlass.“
Direktor des Humangenetischen Instituts, Universitätsklinikum Erlangen
„Die angewandte Methodik dieses ‚Gedankenexperiments‘ in der Studie ist gut nachvollziehbar und die Argumente sind plausibel.“
„Die Betrachtung von Polygenic Scores (PS) zur ‚Verbesserung‘ (enhancement) ist sicherlich neu, insbesondere das ‚Durchrechnen des Erfolges‘ und der Vergleich der Vorhersagewerte mit den Daten von echten Familien, bei denen sie die Vorhersage der PS mit den wirklichen Ergebnissen vergleichen konnten. Bisher sind nämlich PS im Wesentlichen für die Erkennung von Risikopatienten verwendet worden, die von einer schweren und/oder häufigen Erkrankung betroffen sein könnten, zum Beispiel Herzinfarkt und koronare Herzerkrankung, Brustkrebs, Alzheimer und weitere – also gut nachvollziehbare medizinische Gründe bei geborenen Menschen.“
„Hier geht es erstmalig um die vermeintliche ‚Verbesserung‘ des Menschen. Die Grundidee der ‚Verbesserung‘ des Menschen ist sicherlich nicht neu. Bisher sind solche Überlegungen aber primär für einzelne Gene (und Gendefekte) angestellt worden. So hat zum Beispiel der chinesische Wissenschaftler He Jiankui vergangenes Jahr die erstmalige Genomeditierung von Menschen an einem einzelnen Gen durchgeführt, um Zwillinge ‚resistent‘ gegen eine HIV-Infektion zu machen und sie so angeblich zu ‚verbessern‘.“
„Grundsätzlich hängt die Güte der Vorhersage von genetisch bedingten Eigenschaften von der Stärke des genetischen Einflusses ab – je größer der Anteil der Genetik, umso besser ist ein Merkmal vorhersagbar. In der Theorie ist sowohl beim IQ als auch bei Körperhöhe der genetische Einfluss relativ groß und wird auf etwa 50 Prozent beziehungsweise 80 Prozent geschätzt. Allerdings wird dieser Einfluss von Tausenden von genetischen Varianten mit jeweils sehr kleiner Effektstärke bedingt, von denen jedoch bisher nur etwa fünf bis zehn Prozent beziehungsweise 25 Prozent aufgeklärt sind. Wegen der geringen genetischen Varianz, die mit diesen PS erfasst wird, ist der Vorhersagewert erwartungsgemäß sehr gering, was auch von der Studie bestätigt wird. Anders wäre dies bei Eigenschaften, die vollständig auf einen einzelnen genetischen Faktor zurückgehen, wie zum Beispiel blaue Augen.“
„Die Vorhersagen werden zwar mit besserer Technik auch besser, es ist jedoch unklar, ob und wann sie den theoretisch vorhergesagten Wert erreichen werden. So wurde in der Studie ein PS für den IQ auf der Grundlage von fünf Prozent benutzt, inzwischen stünde ein PS von zehn Prozent zur Verfügung, was aber nur eine leichte Verbesserung bieten sollte. Aber selbst wenn es gelänge, die volle genetische Varianz zu messen, wäre man bei der Selektion von Embryonen auf die genetische Varianz der Eltern beschränkt. Die Varianz der Embryonen entspricht daher der Varianz, die man bei normalen Geschwistern beobachtet, was auch in der Studie bestätigt wird. Insbesondere der IQ, aber in geringerem Maße auch Körperhöhe, sind von Paarsiebung betroffen. Das heißt, dass Menschen sich einen ähnlich begabten / großen Partner suchen. Dadurch ist die Varianz von einzelnen Paaren in diesen Merkmalen deutlich eingeschränkt, und die Kinder haben entsprechend ähnliche genetische Eigenschaften wie ihre Eltern.“
„Vorneweg muss man bedenken, dass dieses Gedankenexperiment eine in-vitro Befruchtung (IVF-Behandlung) voraussetzt. Diese belastende Prozedur wird nur bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch durchgeführt. Erfahrungsgemäß haben nach IVF aber nur wenige Embryonen einen normalen Chromosomensatz und sind überhaupt auf die Mutter übertragbar. Eine anschließende Selektion wäre aber auf diese verfügbaren Embryonen beschränkt. Ferner ist zu berücksichtigen, dass komplexe Merkmale nicht unabhängig von anderen Merkmalen sind. Ein hoher IQ ist zum Beispiel mit einem erhöhten Risiko für Autismus oder Magersucht assoziiert. Davon abgesehen, dass eine solche Selektion nicht praktikabel wäre, ist ein solches Vorgehen in Deutschland auch gesetzlich verboten.“
„Die Studie weist ausdrücklich darauf hin, dass ethische Überlegungen nicht Gegenstand der Arbeit waren. Grundsätzlich ist aber jede Selektion ethisch problematisch. Hier geht es nicht um schwerwiegende erblich bedingte Erkrankungen, sondern um Unterschiede im normalen Spektrum des IQ oder der Körpergröße. Von ethischen Bedenken abgesehen ist die Verringerung der Diversität außerdem biologisch sinnlos. Die Varianz einer Spezies wie dem Menschen ist entscheidend für dessen evolutionären Erfolg. Der Mensch als Spezies hat sich nicht zuletzt wegen seiner genetischen Variabilität an die verschiedensten Umweltbedingungen anpassen können und hat zum Beispiel Infektionskrankheiten überlebt und sich an unterschiedlichste Nahrungsangebote angepasst. Wenn alle Individuen auf eine Umwelt ‚optimiert‘ wären, hätte die Spezies ein Problem, falls sich ihre Umwelt ändert.“
Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn, und Professor für Genetische Medizin, Universität Bonn
„Seit 2011 ist in Deutschland die Präimplantationsdiagnostik, also die gezielte genetische Untersuchung eines außerhalb des Körpers gewonnen Embryos, in bestimmten Situationen zulässig – zum Beispiel bei hohem Risiko für eine schwerwiegende Erbkrankheit beim Kind oder eine Tot- oder Fehlgeburt. Grundsätzlich könnte man mit molekulargenetischen Methoden auch andere Eigenschaften des Embryos untersuchen und auf den Ergebnissen basierend eine Selektion vornehmen. Betrifft dies normale Eigenschaften des Menschen und keine Krankheiten, wird in der öffentlichen Debatte von ‚Designer-Babys‘ gesprochen.“
„Hier setzt die Studie von Karavani und Kollegen*innen an. Sie untersucht, ob eine solche Selektion als Voraussetzung für diesen als Schreckgespenst zukünftiger Entwicklungen verwendeten Topos überhaupt praktisch möglich wäre.“
„Die Studie gründet ihre Aussagen nicht nur auf theoretische Berechnungen, sondern überprüft die theoretischen Vorhersagen an realen Datensätzen. Damit unterscheidet sie sich von vorherigen Studien, die alleine auf mathematischen Berechnungen basierten.“
„Die Autoren zeigen an den Beispielen von Körpergröße und Intelligenz überzeugend, dass mit der heutigen Kenntnis über die zugrunde liegenden genetischen Faktoren nur eine sehr begrenzte Aussage möglich wäre. So würde der durchschnittliche Selektionseffekt, den man in einem Experiment (also in einem Zyklus einer In-vitro Fertilisation, IVF) erwarten könnte, nur 2,5 Zentimeter Körpergröße und 2,5 Punkte auf der IQ-Skala betragen, mit einer erheblichen Streuung der Ergebnisse. Die Begrenztheit der Voraussage liegt zum einen daran, dass die Genetik bei Eigenschaften wie Körpergröße und Intelligenz nur einen Teil der zwischen Menschen beobachteten Unterschiede erklärt und auch die beteiligten Gene bisher nur zum Teil auf der molekularen Ebene wirklich verstanden sind. Ein weiterer Grund ist die begrenzte Zahl der zur Verfügung stehenden Embryos, da nur eine geringe Zahl von Eizellen pro Zyklus gewonnen werden können.“
„Eine kritische Frage ist natürlich, inwieweit in absehbarer Zukunft die Vorhersagen genauer werden können. Die genetischen Vorhersagen basieren derzeit auf sogenannten Scores, in die die Information vieler, in der Bevölkerung häufiger genetischer Varianten mit jeweils kleinen Effekten eingeht. Im Moment erklären diese Scores nur einen begrenzten Teil des genetischen Beitrags. Es wird erwartet, dass die Scores in Zukunft durch größere Referenzstudien präziser werden. Zusätzlich wird auch die Information seltener Varianten miteinbezogen werden, basierend auf großen Sequenzierungsstudien (Sequenzierung des gesamten Genoms vieler Menschen), die derzeit weltweit durchgeführt werden.“
„Die Autoren können zeigen, dass bei zukünftig vollständiger Erfassung des genetischen Beitrags die durchschnittliche Voraussage zwar verbessert wird, aber immer noch in einem sehr begrenzten Bereich liegt. Auch eine, zum Beispiel durch Anwendung neuer Klonierungstechniken, mögliche Erhöhung der Zahl verfügbarer Embryos würde die Vorhersage nicht entscheidend verbessern. Eine weitere Limitation ist, dass Vorhersagen, die auf der genetischen Information beruhen, immer nur für bestimmte Umweltbedingungen zutreffen. Darüber, wie stark und in welche Richtung sich die Umweltbedingungen in Zukunft verändern werden, kann man nur spekulieren; verlässliche Aussagen sind nicht möglich. Aus großen Studien weiß man heute auch, dass einzelne Gene gleichzeitig Effekte auf unterschiedliche Merkmale oder Krankheiten (sogenannte Pleiotropie), haben, zum Teil auch in gegenläufiger Richtung. Eine Selektion für ein Merkmal kann also bedeuten, dass man auf der anderen Seite das Risiko für bestimmte Krankheiten erhöht.“
„Die Studie zeigt also sehr überzeugend, dass das Szenario von ‚Designerbabys‘, bei denen durch Embryoselektion große Effekte auf Merkmale wie Körpergröße oder Intelligenz erzielt werden könnten, beim heutigen Wissensstand unrealistisch ist, aber auch in absehbarer Zukunft ein wenig wahrscheinliches Szenario bleibt.“
„Die Autoren weisen in ihrem Artikel abschließend darauf hin, dass einer möglichen Anwendung der Embryoselektion natürlich auch schwerwiegende ethische Erwägungen entgegenstehen. Aus meiner Sicht lobenswert ist, dass sie mit ihrem Beitrag der ethischen Debatte den notwendigen empirischen Rahmen geben.“
„Keine Interessenskonflikte.“
„Keine Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Karavani E et. al. (2019): Screening Human Embryos for Polygenic Traits Has Limited Utility. Cell; 179:1-11. DOI: 10.1016/j.cell.2019.10.033.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Savulescu J (2004): Procreative Beneficence: Why We Should Select the Best Children. Bioethics; 15(5,6): 413-426. DOI: 10.1111/1467-8519.00251.
[2] Bostrom N (2016): Superintelligenz - Szenarien einer kommenden Revolution. Suhrkamp, S.68ff. ISBN: 978-3-518-58684-6.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Regalado A (2019): The world’s first Gattaca baby tests are finally here. MIT Technology Review.
[II] Science Media Center Germany (2018): Erstmals geneditierte Babys in China geboren? Rapid Reaction. Stand: 26.11.2018.
[III] World Health Organization (2018): Human Genome editing.
Prof. Dr. Hille Haker
Richard McCormick Endowed Chair für Christliche Ethik, Loyola University Chicago, Vereinigte Staaten von Amerika
Prof. Dr. Peter Dabrock
Professor für Systematische Theologie/ Ethik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats
Prof. Dr. Guido de Wert
Professor für Ethik in der Reproduktionsmedizin und Genforschung, Maastricht University, Niederlande
Dr. Robert Ranisch
Geschäftsführer des Klinischen Ethik-Komitees am Universitätsklinikum Tübingen und Leiter der Forschungsstelle „Ethik der Genom-Editierung“, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Eberhard Karls Universität Tübingen
PD Dr. Andreas Schmutzler
Dozent an der Universität Kiel und Universität Göttingen sowie Spezialist für Reproduktionsmedizin am Kinderwunschzentrum gyn-medicum, Göttingen
Prof. Dr. Hans-Hilger Ropers
emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, Berlin und Professor und Facharzt am Institut für Humangenetik, Universität Mainz
Prof. Dr. André Reis
Direktor des Humangenetischen Instituts, Universitätsklinikum Erlangen
Prof. Dr. Markus Nöthen
Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn, und Professor für Genetische Medizin, Universität Bonn