Twitter: Durchbrechen der Echokammer kann Polarisierung verstärken
Verfolgen konservative Twitter-Nutzer Tweets mit klar demokratischem Inhalt, verfestigt sich ihre Haltung nach einem Monat. Unter liberalen Twitter-Usern ist eine entsprechende Entwicklung kaum zu beobachten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forscherteam aus den USA. Die Wissenschaftler wollten mit Hilfe einiger neuer Methoden wie zum Beispiel dem Einsatz von Twitter-Bots herausfinden, welche Folgen ein gezieltes Senden von Informationen des politischen Gegners in Echo-Kammern hat und ob auf diese Weise ein Beitrag zur Entschärfung der gesellschaftlichen Polarisierung in den USA geleistet werden könnte. Ihre Untersuchung weist jedoch darauf hin, dass das Gegenteil der Fall sein könnte. Weitere Forschung sei jedoch dringend geboten, um allgemeingültigen Aussagen treffen zu können, so die Forscher.
Professor für Medienforschung und Digitale Ethik, Hochschule der Medien, Stuttgart
„Die komplexe Studie der US-Kollegen ist gut gemacht und seriös durchgeführt und ausgewertet. Aus deutscher Sicht ist die finanzielle Anreizsetzung zur Teilnahme an der Studie – dies waren unterschiedlich hohe Geldbeträge zwischen 11 und 18 US-Dollar zu verschiedenen Phasen der Untersuchung – durchaus problematisch: Werden dadurch möglicherweise ganz bestimmte Personen als Teilnehmer angesprochen, erfolgte also eine Verzerrung der Stichprobe? Diese Frage kann anhand der vorliegenden Angaben aus der Studie nicht beantwortet werden. Aus US-amerikanischer Sicht war die finanzielle Anreizsetzung allerdings völlig in Ordnung: In den USA ist dies durchaus üblich.“
„Die Ergebnisse der Studie sind interessant. Sie verweisen auf die Festigkeit von politischen Meinungen und Weltsichten, die längerfristig angelegt sind. Als solche können sie offenbar nur schwer von gegenläufigen Positionen verändert werden, wie sie beispielsweise auf Twitter von politischen Gegnern geäußert werden. Dieser Befund stellt die optimistische Vorstellung in Frage, Filterblasen zu durchbrechen, indem man Menschen eines bestimmten politischen Lagers mit den Werthaltungen eines anderen politischen Lagers konfrontiert. Politische Meinungen scheinen recht verfestigt zu sein, jedenfalls bei den in der Studie ausgewählten Personenkreisen, die recht eindeutig einer bestimmten Partei (Republikaner oder Demokraten) zugeneigt sind und regelmäßig/häufig Twitter nutzen.“
„Allerdings ist anzumerken, dass sich die Studie nur auf Twitter bezieht, das in den USA einen höheren Stellenwert besitzt als in Deutschland und dort von anderen Personengruppen genutzt wird. Die Ergebnisse sind also nicht ohne Weiteres auf andere Social-Media-Kanäle, auf Gering- oder Nichtnutzer von Twitter oder auf Menschen mit weniger stark definierten politischen Überzeugungen zu übertragen. Ebensowenig dürften die Ergebnisse der Studie auf Deutschland projiziert werden – hierzulande ist das Parteienspektrum ein ganz anderes, und auch die Mobilisierung von Wählern und Partei-Sympathisanten funktioniert unterschiedlich. Es gibt nach wie vor viele Hinweise auf die Existenz von Filterblasen – bloß wie stark ihre Macht für den Prozess der Meinungsbildung und der Meinungsänderung ist, wird weiter zu erforschen sein.“
Professor Digitale Kommunikation, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg
„Wichtig erscheint mir, dass der Polarisierungseffekt, den die Autoren für Republikaner finden, auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass sie sich wegen der Studie mehr mit Twitter auseinandergesetzt haben als sonst. Auf diese Weise haben sie möglicherweise auch mehr Inhalte aus ihrer eigenen politischen Richtung wahrgenommen als sonst. Versuchspersonen, die für eine Summe von 11 US-Dollar und eventuell bis zu 18 weitere US-Dollar an einer Studie teilnehmen, gehören zudem vermutlich einer bestimmten sozioökonomischen Schicht an. Das schränkt die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse meines Erachtens stark ein.“
„Andererseits haben auch andere Wissenschaftler verstärkte Polarisierung durch Konfrontation mit gegensätzlichen Positionen gezeigt. So fanden Zollo et al. [1], dass Verschwörungstheoretiker, wenn sie mit Informationen konfrontiert werden, die ihre Ansichten infrage stellen könnten, sich zum Teil noch stärker der Echokammer Gleichgesinnter zuwenden. Magdalena Wojcieszak [2] kam in einer Studie mit Teilnehmern von US-Foren für Neonazis zu dem Schluss, dass die Nutzer solcher Plattformen die Angaben, die sie dort vorfänden, verwenden, um ‚Gegenargumente zu entkräften und Erklärungen zu generieren, die ihre eigenen Vorannahmen stärken‘.“
Professor für Wirtschaftsinformatik und Business Process Management, Cologne Business School – European University of Applied Sciences (CBS), Köln
„Über Prozesse der Meinungsbildung in sozialen Netzen sind nur wenige empirisch gesicherte Einsichten bekannt. Dass bei dieser Forschungslage populäre Meinungsbildungsmodelle (Filterblasen, Echokammern) oft nicht als Modelle, sondern als Gewissheiten ausgegeben werden, trägt nicht zu einer fundierten Debatte bei. Hinter solchen Modellen steht der Erklärungsansatz der ‚Informations-Transfer-Hypothese‘: Die Art der Informationen, denen Menschen ausgesetzt sind, bestimmt deren Einstellungen.“
„Nun ist aber die empirische Befundlage zu dieser Hypothese gemischt. Mal scheint sie die Meinungsbildung gut zu beschreiben, dann aber auch wieder nicht. Hier setzt die umfassende Feldstudie von Bail und Kollegen an. Im Kontext von Twitter untersucht sie bei ingesamt 1652 Personen Effekte, die eine längere Darbietung von Informationen haben, die der eigenen Einstellung widersprechen (counterattitudinal messages).“
„Die Ergebnisse lassen sich zumindest mit einer einfachen Version der ‚Informations-Transfer-Hypothese‘ nicht vereinbaren: Wenn Probanden, die sich den Demokraten zurechnen, einen Monat lang über einen Bot konservative Informationen beziehen, führt dies zur einer leichten, statistisch nicht signifikanten Intensivierung ihrer liberalen Orientierung. Wenn umgekehrt Probanden, die sich den Republikanern zurechnen, über einen Bot liberale Informationen beziehen, führt dies zu einer massiven Verstärkung ihrer konservativen Haltung. Die Autoren mahnen zur Vorsicht bei der Interpretation der Ergebnisse an. Da die Ergebnisse auf Twitter ermittelt wurden, sei unklar, ob die gefundenen gegenläufigen Effekte auch für andere Informationsumgebungen gelten.“
„Der Studie von Bail und Kollegen ist eine breite Diskussion zu wünschen, denn sie macht deutlich, dass Prozesse der Meinungsbildung in sozialen Medien längst nicht so simpel sind, wie uns die Begriffe ‚Filterblase‘ und ‚Echokammer‘ glauben machen wollen.“
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Primärquelle
Bail CA et al. (2018): Exposure to opposing views on social media can increase political polarization. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.1804840115.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Zollo F et al. (2015): Debunking in a World of Tribes. preprint arXiv:1510.04267.
[2] Wojcieszak M (2010): „Don’t talk to me“: effects of ideologically homogeneous online groups and politically dissimilar offline ties on extremism. New Media & Society.
Prof. Dr. Oliver Zöllner
Professor für Medienforschung und Digitale Ethik, Hochschule der Medien, Stuttgart
Prof. Dr. Christian Stöcker
Professor Digitale Kommunikation, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg
Prof. Dr. Dr. Dietmar Janetzko
Professor für Wirtschaftsinformatik und Business Process Management, Cologne Business School – European University of Applied Sciences (CBS), Köln