Gentherapie für Bluter wohl erstmals wirklich wirksam
Wer von der Bluter-Krankheit Hämophilie betroffen ist, muss lebenslang prophylaktisch Blutgerinnungsfaktoren bekommen, etwa über intravenöse Infusionen. Das ist alles andere als eine ideale Therapie. Deswegen versuchen Forscher seit drei Jahrzehnten, Gentherapien zu entwickeln – auf dass eine einzige Behandlung lebenslang wirke. Nun könnte sich erstmals eine Gentherapie als wirksam erweisen, so das Ergebnis einer Studie, die im „New England Journal of Medicine“ (NEJM) erschienen ist (siehe *Primärquelle).
Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin (IHT), Universitätsklinikum Bonn
„George und Kollegen berichten in der aktuellen Ausgabe des NEJM vom 07.12.2017 über eine erfolgreiche Phase I/II-Gentherapie bei zehn Patienten mit einer schweren Verlaufsform der Hämophilie B, d. h. mit einem angeborenen Mangel des Gerinnungsfaktors IX. Das fehlende Gen für den Faktor IX (FIX) wurde mittels eines ungefährlichen Adeno-assoziierten Virus (AAV) in die Leberzellen der Patienten eingebracht. Zwei Punkte dieser Studie sind besonders bemerkenswert und verantwortlich für deren Erfolg. Zum einen wurden mit der Gentherapie bei Hämophilie B-Patienten erstmalig dauerhaft hohe FIX-Aktivitäten von im Mittel mehr als 30 Prozent erreicht. Die Grundlage hierfür war die Verwendung einer etwa achtmal so aktiven Variante des FIX-Proteins, nämlich FIX Padua. Zum anderen zeigten die Patienten – bis auf zwei Ausnahmen mit einem moderaten Anstieg der Leberwerte – keine nennenswerte Immunantwort gegen das Virus-Capsid. Dies wurde erreicht durch eine vergleichsweise geringe Vektordosis (5 x 10^11 Vektorgenome/kg Körpergewicht) sowie spezielle Modifikationen des Vektors.“
„Für die Studienpatienten bedeutete die FIX-Aktivität von 30 Prozent, dass insbesondere spontane Blutungen nicht mehr auftraten und intravenöse Gaben von FIX-Gerinnungsfaktorenkonzentrat praktisch nicht mehr notwendig waren. Dies ist gleichzusetzen mit einer Heilung von spontan auftretenden Blutungen. Eine FIX-Gabe ist für diese Patienten nur noch bei traumatisch bedingten Blutungen erforderlich, zum Beispiel bei Unfällen oder bei Operationen.“
„Dennoch wird es sicher noch drei bis fünf Jahre dauern, bis diese Therapie den meisten Hämophilie B-Patienten zur Verfügung steht. Zunächst stehen umfangreiche klinische Phase III-Studien an, welche zeigen müssen, dass die FIX-Aktivität von 30 Prozent dauerhaft, d. h. über Jahre, bestehen bleibt, dass keine Nebenwirkungen der Leber auftreten wie etwa eine Erhöhung der Leberwerte und dass die Gentherapie auch sonst keine schweren Nebenwirkungen zeigt.“
„Außerdem wird der auf einem Adeno-assozierten Virus basierende Vektor als sehr sicher angesehen. Er ist in der verwendeten Form sehr spezifisch für Leberzellen (Hepatozyten) und integriert nicht in das Genom, sondern bleibt als sogenanntes Episom ein separater Bestandteil der Erbinformation der Zelle. Wie bei jeder neuen Therapie sind auch hier Langzeiterfahrungen notwendig, um letztendlich die Sicherheit der Gentherapie bewerten zu können.“
„Mit der Gentherapie haben die Hämophilie B-Patienten nun eine weitere Therapieoption, die in wenigen Jahren für einen Großteil der Patienten verfügbar sein wird. Gerade erst wurde mit den neuen FIX-Gerinnungskonzentraten, die eine längere Halbwertszeit haben, eine neue Therapie-Ära eingeleitet. Waren früher zwei- bis dreimal wöchentlich intravenöse Injektionen notwendig, reicht heute eine Injektion alle ein bis zwei Wochen aus, um Blutungen weitgehend sicher zu vermeiden. Die Gentherapie würde es den Patienten erlauben, in Zukunft nahezu vollständig auf intravenöse FIX-Gaben zu verzichten und damit ein weitgehend normales Leben ohne Einschränkungen zu führen.“
Leiter der Forschungsabteilung Zell- und Gentherapie, Interdisziplinäre Klinik und Poliklinik für Stammzelltransplantation, Zentrum für Onkologie, Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Hamburg
„Nach den bisherigen Erfahrungen in unterschiedlichen Gentherapie-Studien haben die AAV-Vektoren ein sehr gutes Sicherheitsprofil. Da die Vektoren in der Regel nicht integrieren, ist hier (im Unterschied zu den retroviralen Vektoren) das Risiko der Insertionsmutagenese viel geringer (Wahrscheinlichkeit, dass Mutationen im Genom entstehen, weil ein Fragment eingefügt wird; Anm. d. Red.). Allerdings kommt es auch zu spontanen Insertionen. Es gab auch Berichte, dass diese zu einer malignen Transformation (Übergang von normalen, kontrolliert wachsenden Zellen zu unkontrolliert wachsenden Tumorzellen; Anm. d. Red.) führen können – allerdings ist das sehr umstritten. Alle Daten aus Patienten sprechen bisher dafür, dass die Vektoren sicher sind.“
„Die in der Studie benutzten Vektoren wurden so optimiert, dass sie eine sehr hohe Leber-Spezifität aufweisen. Dadurch wurde das Risiko verringert, dass auch andere Zellen transduziert werden. Durch Nutzung physiologischer, leberspezifischer Promotoren wurde zudem die Gefahr minimiert, dass spontan ins Genom integrierte Vektorkopien benachbarte Gene aktivieren.“
„Die fehlende Integration in das Zielgenom hat allerdings auch einen Nachteil. Sollten die Leberzellen anfangen, sich zu teilen, könnten die therapeutischen Vektoren verloren gehen. Die meiste Zeit ruhen unsere Leberzellen, aber im Prinzip haben sie – wie man schon von Prometheus weiß – ein hohes Teilungspotenzial. Das wird zum Beispiel benötigt, wenn infolge einer Hepatitis ein Teil der Hepatozyten (Leberzellen; Anm. d. Red.) ersetzt werden muss.“
„Die vorliegende Studie baut ja auf frühere klinische Studien auf; sie kommt also nicht so überraschend.“
„Zunächst war gezeigt worden, dass mit AAV-Vektoren eine langfristige Korrektur von Hämophilie B in verschiedenen Tiermodellen möglich ist. In der ersten klinischen Studie zeigte sich dann aber, dass die anfangs erreichten therapeutischen Faktor-IX-Level nur wenige Wochen anhielten, und zwar infolge einer relativ ausgeprägten Immunreaktion, welche durch den benutzten AAV-Vektor ausgelöst worden war [1]. Eine Ursache dafür lag wohl darin, dass viele Menschen – so auch die Patienten jener Studie damals – bereits mit dem AAV-Serotyp (AAV 2) in Kontakt waren und daher bereits Antikörper besaßen.“
„In der nächsten Studie wurde daher ein anderer AAV-Serotyp benutzt (AAV 8), und so konnten bereits langandauernde therapeutische Level von Faktor IX im Blut der Studien-Patienten erreicht werden [2]. Das Problem der Immunreaktion gegen AAV konnte damit deutlich reduziert werden. Dort, wo es weiterhin auftrat, konnte es durch transiente Immunsuppression gemanagt werden. Auch wenn in jener Studie bereits ein klarer therapeutischer Nutzen zu verzeichnen war, waren die Faktor-IX-Level noch recht niedrig, nämlich im Durchschnitt fünf Prozent des Normalwertes.“
„In der nun vorliegenden Studie wurde eine natürlich vorkommende hyperaktive Genvariante des Faktors IX benutzt, die man schon länger kennt. Die ist etwa acht- bis zwölfmal so aktiv. Nahezu folgerichtig sind auch die Level an Faktor-IX-Aktivität in der vorliegenden Studie im Schnitt achtmal höher als in der Vorgängerstudie. Zudem wurde der Vektor optimiert, insbesondere wurde die Leber-Spezifität erhöht. Dadurch konnte auch die Vektordosis im Vergleich zur Nathwani-Studie [2] verringert werden, was die Sicherheit erhöhen dürfte. Die Daten legen nahe, dass mit dem verbesserten Vektor bei geringerer Dosis genauso viele Hepatozyten transduziert wurden (Gene über den Virus-Vektor übertragen bekommen haben; Anm. d. Red.) wie in der Vorgängerstudie und dass der Gewinn an Effizienz mit Hilfe das aktiveren Proteins erreicht wurde.“
„Insofern ist der aktuelle Erfolg auch eine schöne Illustration dafür, dass es nicht ‚schwarz-weiß’ war: Auch die früheren Studien waren zum Teil erfolgreich; nicht zuletzt hat man aus jenen Studien gelernt, was besser gemacht werden kann und muss.“
„Ich denke, dass die Studie ein großer Schritt hinsichtlich einer Zulassung sein dürfte. Die klinische Effizienz bei den zehn Studien-Patienten ist extrem gut und verbessert die Lebensqualität der Patienten entscheidend. Im Moment fehlen noch etwas die spezifischen Langzeitdaten, auch wenn sich aus den anderen Studien zumindest ein gutes Sicherheitsprofil ablesen lässt. Aber mit einer ausreichenden Kohorten-Größe werden sich auch die Daten zur Langzeitaktivität recht gut antizipieren lassen. Insgesamt denke ich, dass es jetzt darauf ankommt, die Daten in einem größeren Kollektiv zu reproduzieren. Dann dürfte einer Zulassung nicht mehr viel im Wege stehen.“
Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin und Gentherapie,, Universitätsklinikum Freiburg
„AAV-Vektoren werden grundsätzlich als sehr sicher eingestuft. Schwere Nebenwirkungen aus klinischen Studien sind kaum bekannt.“
„Im Vergleich zu früheren Studien haben die Autoren dieser Studie eine neue Variante eines AAV-Vektors eingesetzt, mit dem sich therapeutische Gene (hier Faktor IX) besonders effizient in die Leber einführen lassen. Des Weiteren wurde in dieser Studie ein hyperaktive Variante des Faktor IX verwendet, was wahrscheinlich wesentlich zum Erfolg der Studie beigetragen hatte.“
Oberarzt, Hämostaseologische Ambulanz, Hämophiliezentrum und hämostaseologisches Speziallabor, Klinikum der Universität München (LMU)
„Die Ergebnisse der Studie stellen einen großen Fortschritt in der Gentherapie der Hämophilie B dar. Durch das neue Vektordesign scheint es gelungen zu sein, in einer kleinen Gruppe von Patienten nach einer einmaligen Infusion des Therapeutikums eine längerfristig ausreichende Bildung des ansonsten bei diesem Krankheitsbild fehlenden Gerinnungsfaktors IX zu erreichen. Im Vergleich zu den Vorarbeiten bedeutet insbesondere der längerfristige Effekt einen relevanten Fortschritt. In weiteren Studien bleibt die Wirkung und Sicherheit der Therapie, insbesondere Immunreaktionen, bei einer größeren Patientenzahl sowie über einen längeren Zeitraum zu klären.“
Präsident, Paul-Ehrlich-Institut – Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (PEI)
„Wir weisen vorab darauf hin, dass die Experten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, eine grundlegende Bewertung bei Vorliegen präklinischer und klinischer Daten vornehmen, die dem Institut z.B. im Rahmen von Anträgen auf Genehmigung klinischer Prüfungen oder Zulassung eines Arzneimittels vorgelegt werden. Die folgenden Aussagen beruhen auf den Inhalten des Artikels. Der Artikel fasst einige Ergebnisse einer klinischen Prüfung der Phase I/II an zehn Hämophilie-B-Patienten zusammen.“
„Die Publikation weist auf eine im Beobachtungszeitraum anhaltende Bildung des funktionellen Blutgerinnungsfaktors IX hin, so dass acht der behandelten zehn Hämophilie B-Patienten im Beobachtungszeitraum von 52 Tagen keine weitere anlassbezogene Gerinnungsfaktorgabe benötigten.“
„Eine solche Gentherapie der Hämophilie B könnte es eventuell möglich machen, auf eine lebenslange prophylaktische oder anlassbezogene Gabe des Gerinnungsfaktors IX zu verzichten. Auch könnte diese Behandlung möglicherweise übliche Auswirkungen der Hämophilie wie z.B. die Bildung von Hämarthrosen (blutige Gelenkergüsse) und damit einhergehende Arthropathien (Gelenkerkrankungen) verhindern beziehungsweise günstig beeinflussen.“
„Da bisher nur wenige Hämophilie-Patienten behandelt worden sind, muss trotz aller ermutigenden Informationen zur Gentherapie auf die bisher sehr begrenzten verfügbaren Daten hingewiesen werden.“
„Um mehr Informationen zu generieren, z. B. ob die Expression des Faktors IX dauerhaft anhält und ob langfristig adäquate Spiegel von Faktor IX gebildet werden, die in der Lage sind, Blutungsereignisse zu verhindern und zu stoppen, muss in klinischen Prüfungen z. B. auch bei chirurgischen Eingriffen untersucht werden.“
„Zu den Fragen, die hier zudem beantwortet müssen, gehören u. a.: Welche Effekte hat die Co-Medikation beispielsweise von immunsuppressiven Arzneimitteln, Faktorkonzentraten oder Bypassing Agents (z. B. aktivierte Prothrombinkomplex-Konzentrate)? Mit welchen Nebenwirkungen (kurz- und/oder langfristig, toxikologische oder onkologische Effekte) muss gerechnet werden? Diese Aspekte müssen in klinischen Prüfungen mit entsprechenden Beobachtungszeiten untersucht werden.“
„Zusammengefasst: Die Daten sind vielversprechend. Wichtige erste Meilensteine in der Entwicklung einer Gentherapie zur Behandlung der Hämophilie sind erreicht worden, doch ist der weitere Nachweis von Sicherheit und Wirksamkeit erforderlich. Basierend auf den bisher verfügbaren vielversprechenden Daten könnte die Gentherapie in Zukunft in der Hämophilie-Behandlung einen wichtigen Beitrag leisten.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
George LA et al. (2017): Hemophilia B Gene Therapy with a High-Specific-Activity Factor IX Variant. N Engl J Med; 377:2215-2227. DOI: 10.1056/NEJMoa1708538.
Weiterführende Recherchequellen
Chapin JC et al. (2017): Gene Therapy for Hemophilia: Progress to Date. BioDrugs. DOI: 10.1007/s40259-017-0255-0. [Epub ahead of print]
Monahan PE (2015): Gene therapy in an era of emerging treatment options for hemophilia B. J Thromb Haemost;13 Suppl 1:S151-60. DOI: 10.1111/jth.12957.
[A] Gene Therapy, Open-label, Dose-escalation Study of SPK-9001 [Adeno-associated Viral Vector With Human Factor IX Gene] in Subjects With Hemophilia B. Studiennummer: NCT02484092
[B] FIX-LONG Study: A Factor IX (FIX) Gene Transfer, Multi-center Evaluation of the LONG-term Safety and Efficacy Study of SPK-9001 (rAAV-Spark100-hFIX-Padua) in Individuals With Hemophilia B. Studiennummer: NCT03307980
[C] Gene Transfer, Dose-Finding Safety, Tolerability, and Efficacy Study of SPK-8011 [a Recombinant Adeno-Associated Viral Vector With Human Factor VIII Gene] in Individuals With Hemophilia A. Studiennummer: NCT03003533
[D] Weitere Studien zu Hämophilie/Bluterkrankheit und Gentherapie/Gentransfer, registriert bei ClinicalTrials.gov
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Manno CS et al. (2006): Successful transduction of liver in hemophilia by AAV-Factor IX and limitations imposed by the host immune response. Nat Med; 12(3):342-347.
[2] Nathwani AC et al. (2014): Long-term safety and efficacy of factor IX gene therapy in hemophilia B. N Engl J Med;371(21):1994-2004. DOI: 10.1056/NEJMoa1407309.
Prof. Dr. Johannes Oldenburg
Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin (IHT), Universitätsklinikum Bonn
Prof. Dr. Boris Fehse
Leiter der Forschungsabteilung Zell- und Gentherapie, Interdisziplinäre Klinik und Poliklinik für Stammzelltransplantation, Zentrum für Onkologie, Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Hamburg
Prof. Dr. Toni Cathomen
Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin und Gentherapie,, Universitätsklinikum Freiburg
PD Dr. Patrick Möhnle
Oberarzt, Hämostaseologische Ambulanz, Hämophiliezentrum und hämostaseologisches Speziallabor, Klinikum der Universität München (LMU)
Prof. Dr. Klaus Cichutek
Präsident, Paul-Ehrlich-Institut – Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (PEI)