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27.08.2020

Situation des Grönlandeises und seine Rolle in Klimaprozess

In den zurückliegenden Tagen und Wochen wurden wieder vermehrt Studien veröffentlicht, die die Entwicklung des grönländischen Eisschildes beschreiben und mögliche Zukunftsszenarien diskutieren. Einige dieser Arbeiten fanden eine durchaus beachtliche Resonanz in den Medien. Generell besteht bei allen neuen Publikationen keinerlei Zweifel an der Tatsache, dass das Eis in Grönland immer schneller in immer größerem Umfang schmilzt und dabei einen großen Anteil zum Anstieg des Meeresspiegels beiträgt. Daher ist es immer eine gewisse Herausforderung, den qualitativen Wissenszuwachs durch jede neue Arbeit zu ermessen. Wir haben daher einigen Expertinnen und Experten ein paar generelle Fragen zur Situation des Grönlandeises gestellt.

Unbestritten ist: Das Eis in Grönland schmilzt in ungekannten und sich beschleunigendem Umfang [1]. Dabei spielen sowohl Prozesse an den Gletscherfronten als auch das Abschmelzen auf der gesamten Oberfläche des Eisschildes eine Rolle. Bis noch in die frühen 1990er-Jahre waren die Eismassen im Gleichgewicht und trugen bis dahin nicht zum Anstieg des Meeresspiegels bei [2]. Gegenüber dem Zeitraum von 1997 bis 2006 hat sich der Massenverlust des grönländischen Eisschildes im Zeitraum 2007 bis 2016 inzwischen verdoppelt [3]. Der aktuelle Beitrag zum globalen Anstieg des Meeresspiegels ist größer als der der Antarktis [4]. Jährlich 0,76 Millimeter der insgesamt 3,5 Millimeter Meeresspiegelanstieg gehen auf die Vorgänge in Grönland zurück [5]. Das Abschmelzen des gesamten Eises in Grönland würde zu einem Meeresspiegelanstieg von 7,4 Metern führen [5]. Der grönländische Eisschild wird als eines der Kippelemente des Klimasystems diskutiert [6]. Das Abschmelzen großer Eismassen könnte enorme Auswirkungen auf andere klimarelevante Systeme haben. So wird zum Beispiel seit vielen Jahren untersucht und diskutiert, inwiefern der Eintrag des Schmelzwassers in den Nordatlantik Auswirkungen auf den Golfstrom hat [7].

Die in jüngster Zeit veröffentlichen Studie untersuchen verschiedene Fragestellungen des grönländischen Eisschildes. Eine Publikation von Michaela King et al. [8] findet, dass die Zunahme des Gletscherabflusses fast ausschließlich auf den Rückzug der Gletscherfronten zurückzuführen ist und nicht auf Prozesse des Inlandeises. Die Autorin beschreibt einen neuen dynamischen Zustand des anhaltenden Massenverlustes, der auch dann anhalten würde, wenn das oberflächliche Abschmelzen des Eises sich verlangsamen würde. Dies führte zu Überschriften wie „Eisschmelze in Grönland nicht mehr aufzuhalten“. Eine Studie von Ingo Sasgen und weiteren [9] findet, dass nach vergleichsweise moderaten Schmelzvorgängen im Zwei-Jahres-Zeitraum 2017/2018 das Jahr 2019 einen derartig großen Eisverlust aufweist, dass das bisherige Rekordjahr 2012 um 15 Prozent übertroffen wurde. Am gleichen Tag erschien die Arbeit von Ellen Corrick und weiteren [10], die beleuchtet, inwiefern abrupte Erwärmungen in Grönland während der letzten Eiszeit zeitlich nahezu synchron mit relevanten Klima-Ereignissen in anderen Regionen der Erde stattfanden und diskutiert, inwiefern dies so auch künftig wieder möglich ist.

Wir möchten mit diesen Einschätzungen von Experten einen generellen Überblick zu diesem Thema anbieten, damit deutlich wird, vor welchem Wissenshintergrund sich die wissenschaftliche Debatte abspielt, ohne dass dabei eine einzelne Studie im Mittelpunkt steht.

Wir haben die folgenden Fragen gestellt:

1. Wie lässt sich die Situation des Grönlandeises unabhängig von scheinbar alljährlichen Negativrekord-Meldungen beschreiben? Mit welchen Unsicherheiten ist der aktuelle Wissensstand behaftet?

2. Was ist bekannt darüber, wie wahrscheinlich inzwischen das Überschreiten des Tipping Points tatsächlich ist? Wie viel Zeit bliebe noch bis dahin und welche Konsequenzen hätte das? Welche Kopplungen mit anderen wichtigen Klimaelementen wären die Folge?

3. Welche offenen Fragen gilt es für die Wissenschaft zu klären, um die weiteren Entwicklungen in Grönland zu verstehen und deren Ausmaß prognostizieren zu können?

4. Was ist aus Ihrer Sicht besonders wichtig für Journalistinnen und Journalisten bei der Betrachtung des Themas? Worin sehen Sie besondere Potenziale für Missverständnisse in der Berichterstattung?

Übersicht

     

  • Dr. Heiko Goelzer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am NORCE Norwegian Research Centre AS, Bergen, Norwegen
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  • Prof. Dr. Christoph Schneider, Professor für Klimageographie und Geschäftsführender Direktor des Geographischen Instituts, Humboldt-Universität zu Berlin
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  • Prof. Dr. Matthias Braun, Professor für Physische Geographie (Fernerkundung), Institut für Geographie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen
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Statements der Experten zu den Fragen

1. Wie lässt sich die Situation des Grönlandeises unabhängig von scheinbar alljährlichen Negativrekord-Meldungen beschreiben? Mit welchen Unsicherheiten ist der aktuelle Wissensstand behaftet?


Dr. Heiko Goelzer

„Die Massenbilanz des grönländischen Eisschildes folgt seit Anfang der 1990er-Jahre einem klaren langfristigen Negativtrend, der von jährlichen starken Schwankungen überlagert ist. Diese historische Entwicklung ist sehr gut durch Modelle, Messungen und Satellitendaten dokumentiert und hat sehr geringe Unsicherheiten.“

Prof. Dr. Christoph Schneider

„Es gibt bei aller verbleibenden Unsicherheit keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass sich der negative Trend in Grönland nicht fortsetzen würde. Die Übereinstimmung zwischen Modellierungen und aus Satellitendaten gewonnenen Erhebungen der Eismasse Grönlands ist inzwischen beeindruckend. Keines der ernstzunehmenden Modelle kann bei derzeitigem Erwärmungstrend eine Stabilisierung des grönländischen Eises abbilden. Eher im Gegenteil: Aufgrund von eisdynamischen Effekten und der selbstverstärkenden Erwärmung allmählich tiefer sinkender Eisoberfläche, muss man sogar von einem über dem Effekt des generellen Erwärmungstrends liegenden Eisverlustes ausgehen.“

„Die neue Studie von Ellen Corrick und anderen im Fachmagazin ‚Science‘ zur gefundenen Gleichzeitigkeit von Klima-Anomalien in Grönland im Vergleich mit anderen Erdteilen und auf erdgeschichtlichen Zeitskalen macht klar [10], dass es wenig Anlass dafür gibt, zu hoffen, dass die starke globale Erwärmung in Grönland nicht in gleichem Maße auftreten und dort zum weiteren Abschmelzen des grönländischen Inlandeises führen könnte.“

„Michalea King und andere zeigen zudem in einem jüngst im Nature-Fachjournal ‚Communications Earth & Environment‘ erschienen Beitrag [8], dass etwas mehr als ein Drittel des Eisverlustes Grönlands über das Kalben und Abschmelzen an den Kalbungsfronten der großen Auslass-Gletscher Grönlands stattfindet. Das an sich ist nicht neu, aber das Prekäre daran ist, dass die Autoren überzeugend darlegen können, dass dieser Prozess quasi selbstverstärkend mit der Zurückverlegung der Eisfronten ist und sich demnach fortsetzen wird.“

„Im selben Fachjournal berichten nun Ingo Sasgen und Co-Autoren, dass nach zwei Jahren etwas moderateren Abschmelzens an der Oberfläche des grönländischen Inlandeises 2019 ein Rekordjahr – ungefähr gleichauf mit 2012 – bezüglich des Verlustes an Eismasse markiert [9]. Die Autoren können gut aufzeigen, dass die Schwankungen von Jahr zu Jahr vor allem auf Schwankungen der Witterung aufgrund der Konstellation von Hoch- und Tiefdruckgebieten in der Nordhemisphäre begründet liegen.“

Prof. Dr. Matthias Braun

„Hier sollte man vor allem zwischen Meereis und Landeis unterscheiden. Und beim Landeis zusätzlich auch zwischen dem eigentlichen grönländischen Eisschild und den umliegenden Gletschern. Nicht alle Studien trennen das klar – zum Beispiel können die gravimetrischen (mit Methoden der Gravimetrie werden Massenverteilungen ermittelt; Anm. d. Red.) Eismassenänderungen die Signale nicht trennen – andere Studien untersuchen den Eisschild via Altimetrie (Methoden, mit denen topographische Höhen gemessen werden; Anm. d. Red.) oder den Eisabfluss über die Aufsetzlinie.“

„Insgesamt verliert Grönland aber in den vergangenen 20 Jahren erheblich an Masse. In diesem Punkt konvergieren alle Methoden, sodass man einen recht belastbaren Kenntnisstand hat. Beigetragen hierzu haben auch insbesondere die erheblich verbesserten Beobachtungskapazitäten über verschiedene Satellitenmissionen mit unterschiedlichen Messkonzepten sowie umfangreiche Messungen per Flugzeug durch verschiedene Institutionen.“

„Jedes Messverfahren hat seine eigenen Unsicherheiten. Die gravimetrischen Messverfahren vom Satelliten (GRACE, GRACE-FO) werden vor allem durch die isostatische Hebung (schmilzt das Eis über einer Landmasse, so hebt sich diese an, weil der Druck durch das Gewicht des Eises nachlässt; Anm. d. Red.) sowie gegebenenfalls sogenannte Leakage-Effekte beeinflusst. Die Hebungsraten sind jedoch in Grönland durch ein dichtes GNSS-Netzwerk (GNSS ist Sammelbegriff für alle globalen Satellitennavigationssysteme zur Positionsbestimmung, zum Beispiel GPS und Galileo; Anm. d. Red.) recht gut bekannt und daher sind die Änderungsraten aus der Gravimetrie für Grönland auch sehr gut. Die Altimetrie mit Lasern in Satelliten misst entlang der Bahnspuren die Höhenänderungen. An diesen Stellen sind die Ergebnisse daher sehr genau, die Zwischenräume müssen interpoliert werden, was zu Unsicherheiten führt.“

„Ebenso mit Unsicherheiten behaftet ist der Beitrag durch Firnkompaktion (Verdichtung von Schnee, der mindestens ein Jahr alt ist und somit einen Abschmelz-Zyklus überstanden hat; Anm. d. Red.), der über Massenbilanzmodelle abgeschätzt wird. Durch den realativ neuen Erdbeobachtungs-Satelliten ICESat-2 sind erheblich mehr Messungen verfügbar und dadurch erwarten wir eine erhebliche Verbesserung der Güte. Die Radar-Altimetrie misst vergleichbar über größere Flächen. Sie hat gegebenenfalls Schwierigkeiten mit Eindringtiefe in sehr trockenen Bereichen und vor allem am Rand im reliefiertem Gelände. Die sogenannte Input-Output-Methode oder Mass Flux Approach bestimmt möglichst nahe an der Aufsetzlinie den Massendurchfluss und bilanziert aus Massenbilanzmodellen im Hinterland noch das Verhältnis von Akkumulation und Ablation (Abschmelzen und Sublimation von Eis und Schnee; Anm. d. Red.). Daraus wird dann eine Bilanz berechnet. Entsprechend prozessnah ist das Verfahren, es benötigt aber sehr viele verschiedene Messungen – unter anderem Bewegungsänderung, Eismächtigkeitsänderung, Position der Aufsetzlinie, Massenbilanz – und ist daher eben auch mit größeren Unsicherheiten behaftet. Hierbei müssen zudem noch die abgekalbten gegründeten Eisflächen beziehungsweise gegebenenfalls ein Gletschervorstoß mit berücksichtigt werden.“

„Bei den Massenbilanzmodellierungen ist in den vergangenen Jahren insbesondere die mögliche Speicherung/Wiedergefrieren von Schmelzwasser im Firnkörper ein großes Forschungsthema. Dieser Anteil kann räumlich und zeitlich sehr stark variieren und ist schwer zu erfassen.Dennoch gibt es von Jahr zu Jahr Schwankungen, die zum Teil erheblich sein können – insbesondere was den Beitrag der Oberflächenschmelze beziehungsweise Oberflächenmassenbilanz angeht.“

„Es ist daher nicht korrekt zu sagen, dass jedes Jahr ein neues Rekordjahr ist. Das Jahr 2019 war in der Tat – ähnlich wie das bisherige Rekordjahr 2012 – extrem negativ. In dem Jahr war fast der ganze grönländische Eisschild von Eisschmelze an der Oberfläche betroffen. Wir sehen das zum Beispiel auch bei unseren Analysen hier an der Universität in Erlangen-Nürnberg aus regionalen Klimamodellen, aber auch an der Ausdehnung supraglazialer Schmelzwasserseen (Seen auf Gletscheroberflächen; Anm. d. Red). In den Jahren 2017 und 2018 waren die Oberflächen-Schmelzprozesse auf dem Eisschild jedoch deutlich geringer ausgeprägt.“

 

2. Was ist bekannt darüber, wie wahrscheinlich inzwischen das Überschreiten des Tipping Points tatsächlich ist? Wie viel Zeit bliebe noch bis dahin und welche Konsequenzen hätte das? Welche Kopplungen mit anderen wichtigen Klimaelementen wären die Folge?


Dr. Heiko Goelzer

„In Bezug auf die Entwicklung des grönländische Eisschildes gibt es verschiedene Mechanismen, die ein Verhalten als Kippelement zumindest theoretisch nahelegen.“

„Das wohl bekannteste Beispiel ist die Rückkopplung zwischen der sich erwärmenden Atmosphäre und der sich verändernden Eis-Topographie. Schmilzt das Eis durch die Erwärmung, verliert es an Höhe und kommt in Kontakt mit einer niedrigeren und dadurch wärmeren Schicht in der Atmosphäre – es schmilzt noch mehr. Es gibt aber auch andere Mechanismen, die einer derartigen positiven Rückkopplung unterliegen.“

„Zusätzlich benötigt man für das Konzept der Kippelemente aber Schwellen, die, wenn überschritten, das System in einen nachhaltig anderen Zustand überführen. Insbesondere dieser letzte Punkt – das Existieren von wohl definierten Schwellen – ist wissenschaftlich umstritten. Der Grund dieser Unsicherheit liegt vor allem darin, dass Modellexperimente von hoher Komplexität und sehr großer Dauer benötigt werden, um die Interaktionen zwischen den verschiedenen Klimakomponenten – Eis, Atmosphäre, Ozean, Vegetation und so weiter – hinreichend genau abzubilden.“

„Die Punkte der Überschreitung drücken sich nicht direkt in Zeit aus, sondern in diesem Beispiel im Grad der Erwärmung und sind damit abhängig von der zukünftigen Klimaentwicklung. Abhängig von der betrachteten Studie liegt dieser Wert bei einer globalen Erwärmung zwischen einem und fünf Grad über dem vorindustriellen Niveau. Der entscheidende Punkt jenseits theoretischer Überlegungen ist allerdings, dass mit dem Grad der Erwärmung der zu erwartende Massenverlust in jedem Fall nicht-linear ansteigt.“

„Die Konsequenz des Erreichens und der Überschreitung eines Tipping Points wäre der sichere Verlust eines großen Teils des grönländische Eisschildes. Damit verbunden ist ein Meeresspiegelanstieg, der bei Totalverlust bei circa sieben Metern liegt. Wichtig ist, dass die Existenz eines Tipping Points nicht mit einer bestimmten Zeitskala verbunden ist. Das bedeutet, dass es nach Erreichen des Punktes mehrere tausend Jahre dauern kann bis alles Eis geschmolzen ist.“

Prof. Dr. Christoph Schneider

„Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass es die Menschheit nicht vermag, die Erwärmung im 21. Jahrhundert unter der Marke von global 1,5 Grad zu halten, lässt dies keinen anderen Schluss zu, als dass wir entweder den Kipp-Punkt zum fast vollständigen Abschmelzen des Eisschilds Grönlands schon erreicht haben, oder ihn ziemlich absehbar im Laufe des 21. Jahrhunderts überschreiten werden. Auch wenn der Anstieg des mittleren weltweiten Meeres­spiegels – zu dem Grönland derzeit weltweit den größten einzelnen Beitrag liefert – in diesem Jahr­hundert vielleicht, mit ‚Glück‘ und ambitionierter Politik unter einem Meter gehalten werden kann, so ist damit trotzdem auch klar, dass in den kommenden Jahrhunderten beziehungsweise im Verlaufe der nächsten wenigen tausend Jahre der größte Teil des grönländischen Eises abschmelzen wird. Damit verbunden ist dann mindestens etwa fünf Meter weiterer Meeresspiegelanstieg. Nimmt man den bis dahin ebenfalls hinzukommenden enormen Beitrag an abschmelzender Eismasse vor allem aus der Westantarktis hinzu, wird der gesamte Anstieg des Weltmeeresspiegels in den kommenden Jahrhunderten fast unabwendbar zweistellig sein.“

 

3. Welche offenen Fragen gilt es für die Wissenschaft zu klären, um die weiteren Entwicklungen in Grönland zu verstehen und deren Ausmaß prognostizieren zu können?


Dr. Heiko Goelzer

„Die zukünftige Entwicklung des grönländischen Eisschildes hängt sehr stark von der Erwärmung der Atmosphäre ab. Die Unsicherheiten in Bezug auf die zukünftige Entwicklung der Treibhausgas-Konzentration und in Bezug auf die zu erwartende Klimaerwärmung übertragen sich deshalb auch auf unser Wissen über Entwicklungen in Grönland. Die weitere Verbesserung der Klimamodelle, die für Projektionen verwendet werden, ist deshalb ein aktiver Forschungsauftrag. Des Weiteren benötigen wir weitere Forschung, um die Interaktion des grönländischen Eisschildes mit dem umliegenden Ozean besser zu verstehen.“

Prof. Dr. Christoph Schneider

„Für die Forschung heißt dies, dass neben der Weiterentwicklung und Verfeinerung der Modelle, zum Beispiel bezüglich der eisdynamischen Repräsentierung der kleineren Gletscher am Rande Grönlands vorangetrieben werden muss. Auch sollten die Kopplung von Gletschermodellen und globalen Klimamodellen und die Fortsetzung der internationalen Satellitenmissionen zur Überwachung des Eisverlustes Priorität haben. Nicht zuletzt muss aber dringend die detaillierte Modellierung auf der Basis von Klima-Projektionen für einen längeren Zeitraum – zumindest bis in die Mitte des 22. Jahrhunderts – in den Blick genommen werden.“

Prof. Dr. Matthias Braun

„Insbesondere die Interaktion zwischen Landeis und Ozean in den verschiedenen Gebieten in Grönland müssen wir noch viel besser verstehen. Die geophysikalischen Modelle bedürfen hier noch erheblicher Verbesserungen, um die Prozesse besser nachbilden zu können, so diese auch mal wirklich gut erforscht beziehungsweise gemessen und verstanden sind. Gerade Messungen im Ozean oder Messungen im Eiskörper sind enorm aufwändig und schwierig.“

„Die Firnkompaktion beziehungsweise das Wiedergefrieren von Schmelzwasser hatte ich ja bereits als Faktoren erwähnt, die gerade auf einem Eisschild wie Grönland – der stark durch die Oberflächenmassenbilanz geprägt ist – wichtig sind.“

„Wir sehen in der Eisdynamik in verschiedenen Regionen starke saisonale und Jahr-zu-Jahr-Variationen, die zum Teil mit den Schmelzwassermengen und dem sich ausbildenden sub-glazialen Abflusssystem zusammenhängen. Dies kann man aus Satellitenmessungen sehr gut belegen. Das muss aber zukünftig auch besser in den eisdynamischen Modellen abgebildet werden. Die Schwierigkeit liegt in der Heterogenität in Raum und Zeit. Wir haben eben kein Labor, sondern sind in der Natur. Daher sind diese Prozesse mit Modellen oftmals schwer zu greifen. Hier können sicher auch neue Modellierungsansätze und -techniken helfen, zum Beispiel adaptive Gitter. Das heißt, ich sehe noch sehr viel Forschungspotenzial, die Erdbeobachtung und die Modellierung noch stärker zusammen zu bringen und gegebenenfalls auch neue Modell-Ansätze zu versuchen. Das erfordert aber immer ein fundiertes Prozessverständnis, das eben auf Feldmessungen aufbaut. Auch hier gibt es noch sehr viel Potenzial.“

„Für die Bestimmung der Schmelzwasserbeiträge wäre es wünschenswert, die Beiträge der peripheren Gletscher und des Eisschilds besser separieren zu können. Das wäre auch für die Projektionen in die Zukunft sinnvoll. Hier fehlen uns zum Teil Wiederholungsmessungen in passender zeitlicher Dichte oder passende Aufnahmesysteme kommen an ihre Altersgrenze ohne unmittelbaren Ersatz oder freien Datenzugang. Auch für die peripheren Gletscher um Grönland und die Projektionen wäre eine verbesserte Einbeziehung der Erdbeobachtungsergebnisse sowie zum Teil verbesserte Prozessmodelle als Basis der Projektionen sinnvoll.“

„Weiterhin ist es wünschenswert, dass wir auch zukünftig die verschiedenen Messungen zu Massenänderungen zusammen bringen, um die Unsicherheiten möglichst weiter zu minimieren und den aktuellen Zustand bestmöglich zu erfassen. An dieser Stelle bedarf es Kontinuität und Innovation bei den Messsystemen. Satellitenmissionen haben mehrere Jahre Vorlauf, Deutschland hat dabeileider aus meiner Sicht in den vergangenen Jahren viel Zeit und Vorsprung bei den eigenen (Radar-)Missionen verloren. Eine hohe zeitliche und räumliche Abdeckung ist wichtig, um die dynamischen Prozesse gut abzubilden. Hierdurch haben wir in den vergangenen Jahren sehr viel gelernt. Bei der Gravimetrie wäre sicher eine Verbesserung der räumlichen Auflösung toll, um einzelne Auslassbereiche noch besser abbilden zu können. Die Interpolation bei der Altimetrie ist weiterhin einer der Unsicherheitsfaktoren. An dieser Stelle wäre eine Kombination mit Flächendaten insbesondere in den Randbereichen von Grönland eine Option, wenn diese aufgenommen werden. Bei Erdbeobachtung sind kombinierte Ansätze, die die Stärken der unterschiedlichen Sensorik noch besser ausnutzen, sicher eine Option. Zudem bieten KI-Techniken neue Möglichkeiten, die unglaublichen Datenmengen besser zu verknüpfen – dabei müssen wir aber auch (weiter) die Prozesse verstehen. Dabei denke ich zum Beispiel an eine bessere Bestimmung der Eindringtiefe mancher Radar-Sensoren oder eine bessere Wolkenmaskierung über Schnee und Eis für optische Daten. Neue Auswertetechniken wie Radar-Tomographie sind vielversprechend, da sie uns einen Blick in die Struktur des Firn- und Eiskörpers ermöglichen. Hier fehlen uns aber zum Teil noch die passenden Aufnahmesysteme, um dies großflächig und zeitlich wiederkehrend zu machen. Bisher gibt es nur einzelne Flugkampagnen und Konzepte für Satellitensysteme, die aber bisher leider nicht finanziert wurden. Insgesamt sehen wir eine starke Tendenz zu einer Operationalisierung und automatisierten Erstellung von Erdbeobachtungsprodukten .“

 

4. Was ist aus Ihrer Sicht besonders wichtig für Journalistinnen und Journalisten bei der Betrachtung des Themas? Worin sehen Sie besondere Potenziale für Missverständnisse in der Berichterstattung?


Dr. Heiko Goelzer

„Besonders wichtig für die Berichterstattung zum Thema Grönland ist meiner Ansicht nach, die lange Zeitskala des Problems verständlich zu machen. Insbesondere haben Entscheidungen, die wir heute treffen, durch die Rückkopplungen und möglichen Tipping Points große und andauernde Auswirkungen auf die Entwicklung des grönländischen Eisschildes.“

„‚Tipping Point‘ ist ein Schlagwort, dessen Bedeutung selbst für Wissenschaftler nicht immer eindeutig ist. Für manche einfachen Systeme ist das Konzept relativ einfach zu erklären, aber die Übertragung auf komplexe Systeme, in denen sich verschiedene Interaktionen überlagern, ist nicht offensichtlich. Trotzdem ist das grundlegende Konzept – insbesondere bei der Kommunikation von Klimaänderungen – wichtig, um zu erklären, dass Entwicklungen oft nicht linear verlaufen und nicht einfach umkehrbar sind.“

Prof. Dr. Christoph Schneider

„Die Beschränkung der Angabe des zukünftigen Anstiegs des Meeresspiegels auf den kurzen Zeitraum von nur noch 80 Jahren bis zum Ende unseres Jahrhunderts ist gegenüber kommenden Generationen grob irreführend und auch fahrlässig. Zu einer vorausschauenden Informationspolitik gehört ehrlicherweise die Aussage, dass der Meeresspiegelanstieg weitergehen und über wenige Jahrhunderte hinweg betrachtet mindestens etliche Meter betragen wird – und zwar ohne dass wir eine reelle Chance hätten, diesen zu stoppen.“

„Die Welt wird und soll nicht 2100 enden. Die Wissenschaft muss deshalb beginnen, die Konsequenzen jetziger Versäumnisse für die Lebensbedingungen im 22. Jahrhundert besser zu simulieren, zu verstehen und an Gesellschaft und Politik zu kommunizieren. Schließlich gehen Menschen, die das zum Beispiel im Jahr 2110 noch persönlich betreffen könnte, heute bereits in die Kitas. Noch ist das langfristig fast vollständige Abschmelzen der Eismasse Grönlands vielleicht zu verhindern, aber das Fenster für die Möglichkeit, dies mit ambitionierter Klimapolitik zu verhindern, wird sich in den kommenden Jahren immer weiter schließen.“

Prof. Dr. Matthias Braun

„Ich denke, bei dem Thema sollten die Journalistinnen und Journalisten unbedingt kritisch sein und bleiben. Einen Artikel nur auf eine wissenschaftliche Publikation aufzubauen, halte ich für schwierig. Verschiedene Sichtweisen beziehungsweise die Einbindung in den Kontext sind enorm wichtig, um gegebenenfalls auch zu verstehen, wo der Fortschritt in der jeweiligen Analyse besteht. Das heißt, herauszuarbeiten, worin der jeweilige Unterschied beziehungsweise der Mehrwert besteht, nicht nur eine neue ‚Wasserstandsmeldung‘ zu verbreiten. Davon haben wir leider sehr viele und diese laufen dann über alle News-Ticker. Für mich bedeutet guter Journalismus auch, zu übersetzen, zu erklären, wieso wir eben noch nicht alles wissen, auch Interesse zu wecken. Gerade auch in Zeiten von Fridays4Future benötigt es solche Hintergrundinformation und diese wird nach unserer Erfahrung auch sehr gerne nachgefragt. Leider gibt es aber wenig Hintergrundartikel in den gängigen Printmedien, die auch mal die methodischen und technischen Fortschritte, den aktuellen Wissensstand, aber auch offenen Fragen und Unsicherheiten gezielt beleuchten in einer allgemeinverständlichen Sprache. Das kann die Wissenschaft nicht alleine beziehungsweise nicht auch noch leisten.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine spezifischen Angaben erhalten.

Literaturstellen, die zitiert wurden

[1] Shepherd A et al. (2020): Mass balance of the Greenland Ice Sheet from 1992 to 2018. Nature; 579: 233–239. DOI: 10.1038/s41586-019-1855-2.

[2] Nowicki S et al. (2018): Projections of future sea level contributions from the Greenland and Antarctic Ice Sheets: Challenges beyond dynamical ice sheet modeling. Oceanography; 31 (2), 109–117, DOI: 10.5670/oceanog.2018.216.

[3] IPCC (2019): Special Report on the Ocean and Cryosphere in a Changing Climate (SROCC). Summary for Policymakers. Seite 10

[4] IPCC (2019): Special Report on the Ocean and Cryosphere in a Changing Climate (SROCC). Summary for Policymakers. Seite 19

[5] Cazenave A et al. (2018): Global sea level budget 1993-present. Earth Syst. Sci. Data ;10, 1551–1590. DOI: 10.5194/essd-10-1551-2018.

[6] Lenton TM et al. (2008): Tipping elements in the Earth’s climate system. PNAS; 12, 105 (6): 1786-1793. DOI: 10.1079/pnas.0705414105.

[7] Oltmanns M. et al. (2018): Increased risk of a shutdown of ocean convection posed by warm North Atlantic summers. Nature Climate Change; 8: 300–304. DOI: 10.1038/s41558-018-0105-1.
dazu SMC (2018): Schmelzwasser aus Grönland mögliche Gefahr für den Golfstrom. Research in Context.

[8] King MD et al. (2020): Dynamic ice loss from the Greenland Ice Sheet driven by sustained glacier retreat. Commun Earth Environ; 1 (1). DOI: 10.1038/s43247-020-0001-2.

[9] Sasgen I et al. (2020): Return to rapid ice loss in Greenland and record loss in 2019 detected by the GRACE-FO satellites. Commun Earth Environ; 1 (8). DOI: 10.1038/s43247-020-0010-1.

[10] Corrick EC et al. (2020): Synchronous timing of abrupt climate changes during the last glacial period. Science; 369 (6506): 963-969. DOI: 10.1126/science.aay5538.

Weitere Recherchequellen

Polar Portal – Monitoring Ice and Climate in the Artic: Greenland. Webseite des Forschungsverbundes dänischer Arktis-Forschungseinrichtungen.