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25.02.2020

Videospiel als ADHS-Therapie bei Kindern

Spielen gegen die Symptome von ADHS: Das ist Idee eines US-amerikanischen Unternehmens namens Akili Interactive Labs. Es entwickelte ein digitales Spiel mit dem wissenschafltichen Namen AKL-T01, das als Therapie bei Kindern mit einer Aufmerksamkeitdefizit-/Hyperaktitvitätsstörung, kurz ADHS, funktionieren soll. Um eine therapeutische Wirkung zu untersuchen, finanzierte das Unternehmen eine randomisiert-kontrollierte klinische Studie, an der insgesamt 348 Patienten teilnahmen und 20 wissenschaftlichen Einrichtungen mitwirkten. Zu Beginn durchliefen alle Probanden mehrere Tests zu ihrer gesundheitlichen Verfassung, der Ausprägung ihrer ADHS-Erkrankung, Gedächtnisleistungen und auch einen Aufmerksamkeitstest namens TOVA, um Grundwerte zu ihrem Gesundheitszustand zu erhalten.

Ein Gruppe der teilnehmenden Kinder zwischen acht und zwölf Jahren spielte das Spiel fünf Mal am Tag, fünf Tage die Woche für vier Wochen, eine Kontrollgruppe verwendete im gleichen Umfang eine vergleichbare digitale Anwendung, die die Studienautoren nicht näher beschreiben. Am letzten Tag des Untersuchungszeitraums absolvierten die Kinder den TOVA-Test erneut und die Forscher verglichen die Ergebnisse. Sie berichten in ihrer Studie eine Verbesserung von 0,93 Punkten des Testergebnisses für die Kinder, die das eigens entwickelte Spiel gespielt hatten; für die andere Gruppe eine Verbesserung im Aufmerksamkeitstests von 0,03 Punkten. In allen anderen Kategorien zeigten sich keinerlei Verbesserungen; auch die Eltern berichteten in Befragungen keine unterschiedlich ausgeprägten Verbesserungen im Alltag der Kinder. Diese Ergebnisse veröffentlichten die Autoren im Fachjournal „The Lancet Digital Health“ (siehe Primärquelle).

Aus Medienberichten [I] und der Selbstbeschreibung des Unternehmens [II] ist ersichtlich, dass es derzeit eine Zulassung bei der zuständigen US-amerikanischen Behörde FDA als Medizinprodukt anstrebt. Seit dem 01. Januar gilt ein neues Gesetz für die digitale Gesundheitsversorgung in Deutschland – das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) – mit dem Gesundheitsminister Jens Spahn den Zugang zu digitalen Gesundheitsangeboten, wie medizinischen Apps erleichtern und die digitale Vernetzung des gesamten Gesundheitssystems stärken möchte. Apps mit einem niedrigen Risikoprofil sollen dem Gesetz nach von Krankenkassen erstattet werden können, sobald sie auf Sicherheit, Tauglichkeit, Qualität und Datenschutzaspekte geprüft und einen Nachweis zur Versorgungsverbesserung erbracht haben [III]. Eine Frage ist, ob ein digitales Spiel wie AKL-T01 eine solche Hürde aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse nehmen würde.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Hanna Christiansen, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Fachbereich Psychologie, Philipps-Universität Marburg
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  • Prof. Dr. Marcel Romanos, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP), Universitätsklinikum Würzburg
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  • Prof. Dr. Ulrich M. Gassner, Kodirektor des Instituts für Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht (IBGM) sowie Gründungsdirektor der Forschungsstelle für Medizinprodukterecht (FMPR) und der Forschungsstelle für E-Health-Recht (FEHR), Juristische Fakultät, Universität Augsburg
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Statements

Prof. Dr. Hanna Christiansen

Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Fachbereich Psychologie, Philipps-Universität Marburg

„Insgesamt halte ich den Ansatz für interessant, da die Pharmakotherapie mit Nebenwirkungen verbunden ist und verhaltenstherapeutische Ansätze relativ lange brauchen. Zumindest bis sich stabile Effekte zeigen, die im Alltag Wirkung zeigen. Auch kommen diese in circa 25 Prozent der Fälle nicht ohne kombinierte Pharmakotherapie aus. Ein computerspielbasierter Ansatz dürfte für viele Kinder attraktiv und alltagsnah sein, wenngleich in der Studie auch sieben Prozent der Nutzer aversive Effekte angeben, davon fünf Prozent Frustration. Gerade Frustrationsintoleranz ist ein Phänomen, das wir häufig bei Kindern mit ADHS antreffen und das beispielsweise auch eine Psychotherapie erschwert.“

„Hinsichtlich einer verbesserten Versorgung halte ich die Studie noch nicht für überzeugend. Nach Information aus der Studie hat der AKL-T01 zwei Teile, einer davon ist ein Wahrnehmungsdiskriminations-Training und laut Autor*innen ein Go-No-Go-Task (Aufgabe zur Überprüfung von Verhaltenskontrolle; eine bestimmte Aufgabe soll nur unter bestimmten Bedingungen ausgeführt werden, sonst nicht; Anm. d. Red.) ähnlich. Die zweite Testhälfte des TOVA-Tests, dem primären Ergebnismaß der Studie, ist ebenfalls ein Go-No-Go Task. Es kann also sein, dass sich hier schlicht Übungseffekte zeigen – wenn Kinder jeden Tag für 25 Minuten über vier Wochen hinweg eine Aufgabe üben und dann im Anschluss mit dieser Aufgabe getestet werden, ist zu erwarten, dass sie darin besser werden. Außerdem hat die Kontrollgruppe nicht das Schema ‚fünf Trainingseinheiten pro Tag‘ vorgeschrieben bekommen, sodass die Gruppen strenggenommen hinsichtlich des Trainings nicht voll vergleichbar sind.“

„In den klinisch relevanten Ergebnismaßen (Beeinträchtigung, ADHS-Skalen, globale klinische Beeinträchtigung) zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen. Diese Maße sind für eine Versorgung jedoch hoch relevant. Aus anderen Studien wissen wir, dass PC-basierte Verfahren, die Kernsymptome der ADHS erfassen, mit Fragebogenmaßen zum Beispiel nur geringfügig übereinstimmen. Auch können gut begabte Kinder häufig einen relativ kurzen Test noch ganz gut kompensieren. Zum Beispiel zeigen Kinder mit hohem IQ geringere Auffälligkeiten in PC-basierten Aufmerksamkeitstest, das heißt sie können dieses Defizit kompensieren. Die Studie schließt Kinder mit einem IQ unter 80 aus, macht aber keine Angaben darüber, wie der durchschnittliche IQ der Kinder für die Gruppen ist und zeigt auch keine Korrelationen für IQ und TOVA-Ergebnisse auf. Die TOVA-Hersteller betonen zwar, dass sie diesen Effekt kennen und deshalb die Testzeit ab dem Alter von sechs Jahren auf 21,8 Minuten hochgesetzt haben. Allerdings ist auch dies noch eine Zeitspanne, die von gut begabten Kindern gut bewältigt werden kann. Zudem gibt es weitere Studien, die zeigen, dass die kognitiven Defizite, die mit einem Test wie dem TOVA erfasst werden, nicht bei allen Kindern mit ADHS vorliegen. Studien zufolge liegt der Teil mit Defiziten in den exekutiven Funktionen – diese werden mit dem TOVA erfasst – zwischen circa 40 bis 60 Prozent.“

„Den größten Nachteil der Studie sehe ich allerdings darin, dass die Patientengruppe ‚nur‘ ADHS und keine weitere Störung hatten. 80 Prozent der Patient*innen mit ADHS haben komorbide Störungen (Störungen, die zusätzlich zur Grunderkrankung auftreten; Anm. d. Red.) und diese Patientengruppe ist die versorgungsrelevante. Das heißt, die Studie sollte in jedem Fall bei Patient*innen mit komorbiden Störungen repliziert werden und auch für die Subtypen der ADHS aufschlüsseln (kombinierter Typ, vorwiegend impulsiv/hyperaktiver Typ, vorwiegend unaufmerksamer Typ).“

„Darüber hinaus berichten die Autor*innen nur unmittelbare prä-post-Effekte. Diese sind in der Regel nach jeder Intervention anzutreffen. Interessant sind aber die Effekte, die über das Therapieende hinaus erhalten bleiben. Die Autor*innen berichten zwar, dass eine weitere Studie läuft, die Effekte vier Wochen nach der Intervention erfassen soll. Aber auch ein solcher Zeitraum ist letztlich zu kurz, wird doch gleichzeitig den pharmakologischen Studien vorgeworfen, dass sie keine follow-up Zeiträume über sechs Monate hinaus aufweisen. In jedem Fall sollten Effekte sechs und zwölf Monate nach Studienende noch nachweisbar sein, um eine solche Intervention für eine verbesserte Versorgung zu implementieren.“

„Wie oben schon ausgeführt, denke ich, dass das primäre Ergebnismaß (TOVA) und das Training mit dem AKL-T01 konfundiert sind (die Ergebnisse also mit einander verwoben sind; Anm. d. Red.), da beide Go-No-Go-Aufgaben enthalten. Wenn ich vier Wochen etwas trainiere, sollte ich in einem Test dazu dann auch besser sein.“

„Die Alltagsrelevanz einer Veränderung von 0,93 Punkten im TOVA-Test bei den Patienten der Interventionsgruppe ist nicht so leicht einzuschätzen. Die Autor*innen berichten weder Mittelwerte noch Standardabweichungen pro Gruppe, was es ermöglicht hätte, Effektstärken zu berechnen. Sie berichten ausschließlich Differenzwerte, die hoch signifikant ausfallen. Sie berichten auch nicht die komplette Teststatistik für den Wilcoxon-Test, womit ebenfalls eine Berechnung der Effektstärken hätte erfolgen könnte. Die im Methodenteil angekündigten odds ratio Maße (Odds Ratio oder das Quotenverhältnis ist eine statistische Maßzahl, die etwas über die Stärke eines Zusammenhangs von zwei Merkmalen aussagt; Anm. d. Red.) werden ebenfalls nicht berichtet – vielleicht sind die im Zusatzmaterial erhältlich, aber das lag mir nicht vor. Von einer hohen Alltagsrelevanz einer Veränderung von 0,93 Punkten im TOVA-Test nach vier Wochen Training würde ich nicht ausgehen. Aber, um den Effekt einschätzen zu können, müssten die statistischen Kennwerte ausführlich berichtet werden – was eigentlich Standard ist und hier ein bisschen stutzig macht, dass das nicht der Fall ist – und es müssten Daten über einen längeren Zeitraum nach Therapieende hinaus zur Verfügung gestellt werden.“

„Aktuell sollen nach der S3-Leitlinie zur Pharmakotherapie [1] Kinder unter sechs Jahren und mit leichter Symptomatik vorwiegend psychosozial/psychotherapeutisch behandelt werden; ab sechs Jahren und moderater Symptomatik soll entweder intensiv psychosozial/psychotherapeutisch oder pharmakologisch oder kombiniert behandelt werden – die Interessen der Patient*innen sind dabei leitend. Bei einer schweren Symptomatik soll initial pharmakologisch behandelt werden. Diese Behandlungsformen weisen alle auch Nachteile auf: So wirkt eine pharmakologische Behandlung in der Regel 30 Minuten nach Wirkstoffeinnahme, aber bis zu 30 Prozent der Patient*innen sprechen nicht darauf an und aversive Nebenwirkungen einer Pharmakotherapie sind häufig. Eine psychotherapeutische Behandlung braucht in der Regel sehr viel länger, bis sich Effekte zeigen, da Verhalten, dass über sechs oder zwölf Jahre gelernt wurde, verändert werden muss. Und das braucht Zeit. Die besten Effekte liegen derzeit für die kombinierte Behandlung vor und Effekte auf das Umfeld, insbesondere Schule und Schulleistungen, sind mit verhaltenstherapeutischen Behandlungen verbunden.“

„Videospiele, die bei Kindern und Jugendlichen populär sind, haben häufig sogenannte ‚Lootboxen‘ implementiert. Lootboxen erweitern die Möglichkeiten der Spieler*innen mit virtuellen Gegenständen und Zusatzinhalten, zum Beispiel, indem sie Verkleidungen oder neue Ausrüstungsgegenstände erhalten können, mit denen sie die eigene Spielfigur individualisieren können. Es wird diskutiert, ob es sich bei dem Einsatz solcher Zufallskomponenten um Glücksspiel handeln könnte. In jedem Fall resultiert so ein ‚zufälliger Gewinn‘ in der Ausschüttung von Dopamin und damit haben solche Spiele einen potenziellen Suchtcharakter. Gleichzeitig ist Dopamin ein Botenstoff, der bei Kindern mit ADHS reduziert ist. Psychostimulanzien setzen genau an diesem Punkt an, indem sie die Verfügbarkeit von Dopamin für Nervenzellen erhöhen. Insofern können Videospiele auch nachteilig sein. Das scheint bei dem AKL-T01 allerdings nicht wirklich eine Rolle zu spielen. Zwar ist der zweite Teil adaptiv designt, doch anscheinend ohne solche Lootboxen. Diese würden den Test unter Umständen sogar sehr viel attraktiver für Kinder machen, allerdings mit den oben genannten Risiken, die dann damit verbunden wären.“

„Nach den obigen Ausführungen denke ich nicht, dass das Training bereits jetzt schon Eingang in die Regelversorgung finden sollte. Dafür müssten die Studienergebnisse transparenter berichtet werden und Langzeiteffekte vorliegen sowie Effekte auf klinisch relevante Maße. Da wir zudem noch nicht wirklich gut die Mechanismen verstanden haben, die bei ADHS gestört sind, brauchen wir eine Forschung, die diese Mechanismen fokussiert und daraus abgeleitet Interventionen entwickelt. Beispielswiese findet Verhaltenstherapie in der Regel einmal in der Woche statt; das heißt, einmal in der Woche werden zum Beispiel Selbstmanagement-Techniken geübt. Damit solche Techniken aber verhaltenswirksam sein können, müssen diese täglich geübt werden. Man sollte daher vielleicht auch prüfen, inwiefern bestehende, evidenzbasierte Interventionen verbessert werden können, zum Beispiel durch hochfrequente Therapien, aber auch digitale Unterstützung, die die Anwendung der Strategien im Alltag fördert und unterstützt.“

Herr Prof. Dr. Marcel Romanos

Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP), Universitätsklinikum Würzburg

„Die Arbeitsgruppe von Steve Faraone legt mit der Studie sehr interessante Befunde vor, die sich des sogenannten ‚Gamification‘-Ansatzes bedienen, das heißt, sie verpackt kognitive Trainings in die Form eines Computerspiels. Dadurch soll das Training attraktiver werden und die Motivation erhöht werden. Die Studie hat allerdings nicht untersucht, inwieweit die Versorgung der Kinder besser wird, sondern, inwieweit sich die Leistung der Kinder in einer Testbatterie für Aufmerksamkeit ändert. Man muss wissen, dass etwa die Hälfte der Kinder mit ADHS in solchen Testbatterien keinerlei Defizite aufweisen und dennoch im Alltag durch die ADHS-Symptome schwer eingeschränkt sind. Insofern kann nicht erwartet werden, dass mit einer besseren Leistung in der künstlichen Testsituation die ADHS-Symptome im Alltag reduziert werden. Tatsächlich haben in der Studie die Beurteilungen der Eltern und Untersucher keine signifikanten Effekte in einem Fragebogen ergeben.“

„Die Studie ist qualitativ hochwertig durchgeführt. Das Ergebnis stellt einen starken Effekt dar. Das Ergebnis sagt allerdings nur aus, dass die Kinder in einer Testbatterie besser werden, in der sie vorher trainiert wurden. Die Studie kann aufgrund des Designs nicht sagen ob a) die Effekte länger bestehen bleiben oder schnell wieder verschwinden, und b) ob sich dadurch irgendetwas im Alltag der Kinder ändert. Wie oben erwähnt sehen die Eltern der Kinder keine signifikanten Effekte im Alltag.“

„Viele vorherige kognitive Trainings (ohne Gamification) führen nachweislich zu einer Verbesserung, zum Beispiel des Arbeitsgedächtnisses oder von Aspekten der Aufmerksamkeit. Allerdings konnte bislang nie nachgewiesen werden, dass es zu einer Generalisierung auf Alltagssituationen kommt. Insofern kann die Studie keinen Nachweis bringen, ob dieses Training tatsächlich den Kindern im Alltag hilft oder nicht.“

„Wichtig wäre noch eine Beurteilung der Kontrollbedingung, wozu mir keine genaueren Informationen vorliegen. Wenn die Kontrollbedingung falsch gewählt ist, kann oftmals eine Verblindung nicht gewährleistet werden, und das Wissen darüber, ob ich die eigentliche Therapie bekomme oder nicht, verändert das Ergebnis erheblich. Das muss man sich noch genauer anschauen.“

„Zur Therapie von ADHS gibt es Leitlinien auf S3-Niveau, das heißt auf dem höchsten Evidenzniveau. Hier wird beschreiben, dass betroffene Kinder im Alter acht bis zwölf – wie in der Studie untersucht – abhängig vom Schwergrad behandelt werden sollen. Bei leichter Symptomausprägung soll mit einer Psychoedukation und Verhaltenstherapie mit Elterntraining begonnen werden. Bei mittlerer und schwerer Ausprägung wird auch eine kombinierte Behandlung zusätzlich mit einem Medikament als sinnvoll beschrieben. Abhängig von komorbiden Störungen und anderen Rahmenbedingungen können verschiedene weitere Therapieelemente hinzukommen. Bislang gibt es für die Verringerung der Kernsymptome sehr gute Belege für die Wirksamkeit von Medikamenten, aber nicht für die Verhaltenstherapie. Diese wiederum zeigt gute bis sehr gute Effekte bei der Verbesserung des Familienklimas, Erziehungskompetenz der Eltern sowie bei Begleitstörungen, wie Sozialverhalten und Ängsten.“

Auf die Frage, inwiefern das Spiel zum jetzigen Stand Eingang in die Regelversorgung finden sollte:
„Dafür fehlen wie beschrieben Belege für eine Wirksamkeit im Alltag. Man sollte nicht den gleichen Fehler machen wie beim Neurofeedback, welches allseits als neues Heilmittel gepriesen wurde, aber für welches es ebenso bis heute keine Wirksamkeitsnachweise gibt und alle Studien eher darauf hindeuten, dass die Effekte allenfalls sehr gering sind. Zudem ist die Durchführung für die Familien sehr aufwändig. Zu klären ist auch hier, ob es einen zusätzlichen Nutzen in Kombination mit anderen Therapieverfahren gibt.“

Prof. Dr. Ulrich M. Gassner

Kodirektor des Instituts für Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht (IBGM) sowie Gründungsdirektor der Forschungsstelle für Medizinprodukterecht (FMPR) und der Forschungsstelle für E-Health-Recht (FEHR), Juristische Fakultät, Universität Augsburg

Vorbemerkung
„Bei digitalen Gesundheitsanwendungen (DGA; Software und andere auf digitalen Technologien basierende Medizinprodukte mit gesundheitsbezogener Zweckbestimmung, zum Beispiel Health Apps) sind zwei Ebenen zu unterscheiden:(1) Zulassung/Zertifizierung(2) Kostenübernahme/Eingang in die Regelversorgung“

„Zu (1): In der EU benötigen Health Apps im Unterschied zu Lifestyle und Wellness Apps eine Zertifizierung nach Medizinprodukterecht. Sie werden als Medizinprodukte behandelt und benötigen eine CE-Zertifizierung, um vertrieben werden zu dürfen. Medizinprodukte werden in vier Risikoklassen eingeteilt (Klasse I, IIa, IIb, III). In Klasse III, der höchsten Risikoklasse, sind klinische Studien erforderlich. Für die Regulierung ist die EU zuständig. Ab 26. Mai 2020 gilt die – unmittelbar für die Mitgliedstaaten verbindliche – Medizinprodukteverordnung, die das derzeit noch geltende Richtlinienrecht ersetzt. In den USA ist es ähnlich (510k, PMA), wobei es dort kein Zertifizierungs- sondern grundsätzlich ein Zulassungsmodell gibt.Zu (2): Für die Frage der Kostenübernahme ist nicht der EU-Gesetzgeber zuständig, sondern die einzelnen Mitgliedstaaten, in der Schweiz teilweise sogar die Kantone. Dementsprechend unterschiedlich sind die Regelungen. Private Krankenversicherungsträger entscheiden im Rahmen der jeweils bestehenden vertraglichen Beziehungen über die Kostenerstattung. Regelmäßig ist die Zulassung/Zertifizierung der DGA Voraussetzung für die Kostenübernahme.“

„1. Eingang in die Regelversorgung in Deutschland: Mit dem ‚Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG)‘ wurde mit Wirkung vom 19. Dezember 2019 ein Leistungsanspruch der GKV- Versicherten auf DGA geschaffen. Das bedeutet, dass künftig Ärztinnen und Ärzte Apps verschreiben können. Die Kosten dafür übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen.“

„Dies betrifft aber nur Medizinprodukte mit niedriger Risikoklasse, das heißt solche, die der Risikoklasse I oder IIa zugehören. DGA, die höheren Risikoklassen zugehören, müssen die für innovative Medizinprodukte allgemein geltenden, trotz einiger Reformen der jüngsten Zeit immer noch recht schwerfälligen Zugangsverfahren durchlaufen.“

„2. Voraussetzungen: Der Anspruch umfasst nur solche DGA, die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen aufgenommen wurden und entweder nach Verordnung des behandelnden Arztes oder mit Genehmigung der Krankenkasse angewendet werden.“

„Es reicht also nicht aus, wenn sich ein Patient eine Health App herunterlädt und die Rechnung bei seiner Krankenkasse einreicht. Materiell muss die DGA folgende Anforderungen erfüllen:Nachweis positiver Versorgungseffekte durch die DGA: Positive Versorgungseffekte sind entweder ein medizinischer Nutzen oder patientenrelevante Verfahrens- und Strukturverbesserungen in der Versorgung. Der medizinische Nutzen meint dabei den patientenrelevanten therapeutischen Effekt insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustands, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens oder einer Verbesserung der Lebensqualität.“

„Die patientenrelevanten Verfahrens- und Strukturverbesserungen in der Versorgung sind im Rahmen der Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder der Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen auf eine Unterstützung des Gesundheitshandelns der Patienten oder eine Integration der Abläufe zwischen Patientinnen und Patienten und Leistungserbringern ausgerichtet. Behauptete positive Versorgungseffekte sind vom Hersteller mittels einer vergleichenden Studie nachzuweisen, die belegt, dass die Intervention gegenüber der Nichtanwendung der digitalen Gesundheitsanwendung überlegen ist. Sollte der Hersteller anfangs noch keine positiven Versorgungseffekte nachweisen können, kann er trotzdem beantragen, dass die digitale Gesundheitsanwendung für bis zu zwölf Monate in das DGA-Verzeichnis zur Erprobung aufgenommen wird. Stimmt das BfArM zu, kann dieser Zeitraum um weitere 12 Monate verlängert werden.“

„Sicherheit, Funktionstauglichkeit: Da die Anwendung ein Medizinprodukt sein muss, wird dieses Kriterium auf natürliche Weise erfüllt sein. Einen besseren Nachweis von Sicherheit, Funktionstauglichkeit und Qualität als das Medizinprodukterecht gibt es für DGA aktuell nicht.“

„Datensicherheit und Datenschutz: Man unterscheidet grundsätzlich explizit zwischen Datensicherheit und Datenschutz. Bei Datensicherheit geht es um technische Schutzvorkehrungen zum Schutz von Daten (vor Viren, Manipulationen, Hackern und anderen). Datenschutz beschreibt wie personenbezogene Daten weiterverarbeitet werden können, um vor Missbrauch geschützt zu sein (gesetzlich geregelt). Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit: Hersteller digitaler Gesundheitsanwendungen sind verpflichtet, die gesetzlichen Vorgaben des Datenschutzes und die Anforderungen an die Datensicherheit nach dem Stand der Technik unter Berücksichtigung der Art der verarbeiteten Daten und der damit verbundenen Schutzstufen sowie des Schutzbedarfs zu gewährleisten und umzusetzen. Personenbezogene Daten dürfen nur aufgrund einer Einwilligung der Versicherten und ausschließlich zu bestimmten Zwecken verarbeitet werden.“

„3. Folgen: Erfüllt die DGA alle Kriterien und wird vom BfArM akzeptiert wird, bezahlen gesetzliche Krankenkassen ein Jahr lang für die Anwendung. Der Hersteller muss während dieser Zeit nachweisen, ob seine App die Versorgung der Patienten bessert. Nach Ablauf des Jahres wird dann evaluiert, ob die Applikation weiterhin im DGA-Verzeichnis bleibt oder nicht. Grundsätzlich wird das BfArM alle Unternehmen bezüglich der Aufnahme in das DGA-Verzeichnis beraten (gegebenfalls kostenpflichtig).“

„4. Aktuelle Entwicklungen: Einzelheiten regelt eine Rechtsverordnung, die voraussichtlich im März 2020 in Kraft treten wird. Für Ende März 2020 hat das BfArM die Veröffentlichung eines Leitfadens für Antragsteller angekündigt.“

„5. Einschätzung: Das DVG ist ein – auch im internationalen Vergleich längst überfälliger – wichtiger Schritt, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranzutreiben. Das wird es mehr Unternehmen ermöglichen, innovative DGA auf den Markt zu bringen. Leider hat es der deutsche Gesetzgeber aber im DVG versäumt, DGA höherer Risikoklassen zu berücksichtigen.“

„6. AKL-T01: Die im Artikel genannte DGA könnte als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa eingestuft werden, sofern die durch sie an den behandelnden Arzt beziehungsweise Psychotherapeuten übermittelten Informationen keine therapeutischen Entscheidungen unterstützen, die eine schwerwiegende Verschlechterung des Gesundheitszustands verursachen können. Um die erforderliche CE-Zertifizierung zu erhalten, muss der Hersteller eine sogenannte ‚benannte Stelle‘ (zum Beispiel den TÜV Produkt-Service) einschalten. Sodann kann er unter Nachweis der oben genannten Voraussetzungen einen Antrag auf Aufnahme von AKL-101 in das DGA-Verzeichnis beim BfArM stellen und damit bei einem positiven Bescheid deren Zugang in die Regelversorgung der GKV-Versicherten sicherstellen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Hanna Christiansen: „Ich bin Professorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters, leite eine Hochschul- und Ausbildungsambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und habe einen Forschungsschwerpunkt zu ADHS. Wir leiten aktuell eine Therapiestudie, die ein Neurofeedbacktraining mit einem Selbstmanagementtraining vergleicht. Zudem haben wir verschiedene Studien zu Diagnostikinstrumenten der ADHS durchgeführt und publiziert.“

Alle: Keine angegeben.

Primärquelle

Kollins SH et al. (2020): A novel digital intervention for actively reducing severity of paediatric ADHD (STARS-ADHD): a randomised controlled trial. The Lancet Digital Health. DOI: 10.1016/S2589-7500(20)30017-0.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und weitere: Interdisziplinäre evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. AWMF-Registernummer 028-045.

Literaturstellen, die von den SMC zitiert wurden

[I] Engel JB (09.05.2018): Akili Grabs $55M, Seeking FDA Approval of First Video Game Therapy. Xconomy.

[II] Akili Interactive: Programs & Products.

[III] Ohne Autor (2019): Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG). Bundesgesetzblatt; Nr. 49.

Weitere Recherchequellen

Albrecht U-V (Hrsg.) (2016): Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps (CHARISMHA).