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26.07.2018

Nur noch rund 13 Prozent der Weltmeere sind unberührt

Nur noch rund 13 Prozent der Weltmeere sind so wenig vom Menschen beeinflusst, dass man sie als „Wildnis“ bezeichnen kann. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie von Kendall Jones et al., die am 26.07.2018 im Fachjournal Current Biology veröffentlicht wurde.

Die Autoren haben eine weltweite Bestandsaufnahme durchgeführt und untersucht, wie sehr die Meere unter menschlichem Einfluss stehen. Sie haben dabei 15 verschiedene menschengemachte Stressfaktoren berücksichtigt, zum Beispiel Fischfang und Eintrag von Nährstoffen vom Land. Außerdem haben die Forscher für jeden dieser anthropogenen Stressoren nur jene Gebiete betrachtet, die zu den zehn Prozent am wenigsten von diesem Faktor betroffenen Regionen zählen. Zudem haben sie bewusst Einflüsse durch den Klimawandel nicht berücksichtigt. Die Forscher schlussfolgern, dass nur noch 13,2 Prozent der Weltmeere als „Wildnis“ bezeichnet werden können. Diese Regionen befinden sich vor allem in der Arktis, in der Antarktis und in abgelegenen Regionen des Pazifischen Ozeans. Die Autoren konstatieren, dass es global fast keine unberührten Küstenregionen mehr gibt.

 

Übersicht

  • Prof. Dr. Thomas Brey, Leiter der Sektion Funktionelle Ökologie, Fachbereich Biowissenschaften, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, und stellvertretender Direktor des Helmholtz-Instituts für Funktionelle Marine Biodiversität (HIFMB), Oldenburg
  • Prof. Dr. Angelika Brandt, Leiterin der Abteilung Marine Zoologie, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum, Frankfurt/Main

Statements

Prof. Dr. Thomas Brey

Leiter der Sektion Funktionelle Ökologie, Fachbereich Biowissenschaften, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, und stellvertretender Direktor des Helmholtz-Instituts für Funktionelle Marine Biodiversität (HIFMB), Oldenburg

„Studien dieser Komplexität, die hochdifferenzierte biologische Daten – in diesem Fall den Artenreichtum – auf globalen Skalen betrachten, haben immer ein Datenproblem: Die Daten sind zum einen unvollständig – die hier genutzte Datenbank Aquamaps [1] stellt Verbreitungsdaten bereit für etwa 23.000 Arten von mehr als 100.000 beschriebenen Arten; dabei fehlen dann noch die unbeschriebenen Arten – und sind zum anderen ungleichmäßig über den Globus verteilt.“

„Die Wildnis-Definition von zehn Prozent ist willkürlich gesetzt. Man hätte puristisch auch fünf Prozent und entspannter auch fünfzehn Prozent nehmen können. Aber: Es gibt keine einfache Messgröße für Wildnis, die wir ja als ‚vom Menschen unberührt bzw. unbeeinflusst’ verstehen. Insofern haben die Autoren wissenschaftlich korrekt gearbeitet, indem sie ein nachvollziehbares und nachprüfbares Messverfahren für ‚Wildnis’ vorschlagen, das auf einer Reihe bekannter und relevanter Stressfaktoren beruht. Ob diese Lösung jetzt die beste ist, wird die wissenschaftliche Diskussion zeigen. Interessante Fragen sind dann etwa: Sind das alle Stressoren? Ist es sinnvoll, alle Stressoren gleich zu gewichten?“

„Es ist eine gute Frage, inwiefern sich Aussagen über weitgehend unerforschte Gebiete treffen lassen und inwiefern diese dann in globalen Betrachtungen einbezogen werden können. In der Regel schließen wir von Bekanntem auf das Unbekannte. Die Methode heißt Bioregionalisierung. Die Annahme ist, dass unter ähnlichen Umweltbedingungen – also zum Beispiel Wassertiefe, Temperatur, Strömung, Sedimente usw. – auch ähnliche Lebensgemeinschaften angetroffen werden. Das hat sich im Groben als richtig erwiesen, aber natürlich finden wir bei feinerer räumlicher Auflösung auch wieder deutliche Unterschiede.“

Auf die Frage, inwiefern die von den Autoren der Studie geforderten größeren Schutzgebieten in den Meeren hilfreich wären, wenn etliche der betrachteten Stressoren vom Land ausgehen:
„Viele Stressoren wirken über große Distanzen, zum Beispiel wird Verschmutzung durch Luft und Wasser bis in die letzten Ecken des Ozeans transportiert. Gerade küstennahe Systeme – also das Flachwasser und die Schelfe – sind ökologisch außerordentlich bedeutungsvoll. Gut 90 Prozent des gesamten biologischen Umsatzes des Ozeans findet genau hier statt.“

Prof. Dr. Angelika Brandt

Leiterin der Abteilung Marine Zoologie, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum, Frankfurt/Main

„Inhaltlich ist die Berechnung für mich nicht überzeugend und relativ ‚willkürlich’. Auch habe ich Probleme mit den Argumenten, zum Beispiel dem Satz: ‚Diese Wildnisgebiete enthalten eine hohe endemische Artenvielfalt, einzigartige funktionale Merkmale und endemische Arten.’ Wie können die Autoren das denn wissen? Denn später schreiben sie selbst: ‚Um marine Wildnis zu identifizieren, müssen biologisch und ökologisch intakte Meereslandschaften gefunden werden, die weitgehend frei von menschlichen Störungen sind.’ In dem Moment, in dem ich eine Probe nehme, störe ich – also sind all die Regionen, aus denen Proben vorliegen, gestört – dann ist es keine Wildnis mehr. Auf der anderen Seite: Wie können die Autoren eine hohe genetische Diversität dort nachgewiesen haben, wo bisher der menschliche Fußabdruck – durch die Probennahme – fehlt!?“

„Aus meiner Sicht ist die Grenze von zehn Prozent für die Wildnis-Definition eine willkürliche Grenze – aber irgendwie muss man ja eingrenzen.“

Auf die Frage, inwiefern die Größenordnung der verbleibenden marinen Wildnis überrascht und inwiefern weitgehend unerforschte Gebiete wie die Tiefsee überhaupt einbezogen werden können:
„70 Prozent der Erde sind Tiefsee; davon liegen 62 Prozent tiefer als 1000 Meter. Der schottische Tiefsee-Biologe John Gage sagte einmal: ‚Wir wissen über die Tiefsee so viel, wie zwei Fußballfelder im Verhältnis zu den Landmassen ausmachen’. Also praktisch extrem wenig. Warum kommen die Autoren dann aber nur 13,2 Prozent noch erhaltener Wildnis? Ich kann das nicht nachvollziehen, auch dann nicht, wenn man – wie die Autoren der Studie es getan haben – die Klimafaktoren herausrechnet.“

„Ich glaube, dass die rein zahlenmäßigen Aussagen der Autoren nicht korrekt sind. Was die Studie bezwecken soll, ist aber sehr gut! Die Autoren möchten, dass ‚marine Wildnis’ in globale Umweltstrategien einbezogen werden soll, mit dem Ziel, die Biodiversität zu erhalten und die ökologischen und evolutionsbiologischen Prozesse nicht zu verändern. Damit schlagen sie im Prinzip 13,2 Prozent des Meeres als Marine Protected Area (MPA; Meeresschutzgebiete; Anm. d. Red.) vor. Ich finde, das ist hervorragend. Also das Ziel des Papers ist sehr gut; und ich hoffe, dass es viele Entscheidungsträger lesen!“

„Das Meer birgt eine viel höhere Biodiversität als das Land. Wir kennen bisher nur einen Bruchteil. Die Biodiversität – auch die im Meer – ist aber für das Überleben des Menschen essenziell. Daher müssen wir auch schützen, was wir nicht kennen, und Refugien für das Leben lassen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine angegeben.

Primärquelle

Jones KR et al. (2018): The Location and Protection Status of Earth’s Diminishing Marine Wilderness. Current Biology 28. DOI: 10.1016/j.cub.2018.06.010.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Aquamaps, Datenbank zur Vorhersage des natürlichen Vorkommens marine Arten.

Weitere Recherchequellen

Conserving Marine Wilderness. Webseite des NAWPA-Komittees (North American Intergovermental Committee on Cooperation for Wilderness and Protected Areas Conservation).