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05.08.2019

Neuer Expositonsweg für Neonicotinoide identifiziert

Es gibt möglicherweise einen bisher unbekannten Weg, über den auch bestäubende und andere nützliche Insekten Neonicotinoiden ausgesetzt sind, die eigentlich nicht zu den Zielorganismen dieser Insektizide zählen: von Läusen und anderen Insekten produzierter Honigtau. Dies wäre neben der Übertragung durch Pollen und Nektar ein weiterer Expositionsweg, der ursprünglich beim Einsatz von Neonicotinoiden nicht erwartet wurde. Zu diesem Ergebnis kommen spanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer aktuellen Studie, die im Fachjournal „PNAS“ veröffentlicht wurde.

Honigtau ist eine wichtige, zuckerhaltige Nährstoffquelle für viele Insekten – zum Beispiel von Schwebfliegen, Wespen, Ameisen und Bienen. Er wird unter anderem von Läusen und Zikaden ausgeschieden, die sich direkt vom Zuckersaft aus den Siebröhren der Pflanzen ernähren. Das Autorenteam um Miguel Calvo-Agudo hat den Honigtau von Zitrusschmierläusen gesammelt, die auf Zitrusbäumen leben. Diese Bäume wurden für den Versuch entweder mit Insektizid-freiem Wasser oder mit den Neonicotinoiden Thiamethoxam oder Imidacloprid behandelt. Die Wissenschaftler verfütterten diesen Honigtau an Schwebfliegen und an Schlupfwespen. Das Ergebnis: Sowohl bei den Fliegen als auch bei den Wespen starben deutlich mehr Tiere, wenn sie mit dem Honigtau von Läusen gefüttert wurden, die auf mit Neonicotinoiden behandelten Bäumen lebten. Dies könnte zusätzliche starke negative Auswirkungen auf vielen Insekten haben, die nicht zum eigentlich Ziel der Neonicotinoide gehören. Daher weisen die Autoren darauf hin, dass bei künftigen Risikobewertungen die Expositionsroute über Honigtau mit berücksichtigt werden muss.

Der Einsatz von Insektiziden gilt als eine der Hauptursachen für den dramatischen Insektenrückgang. Neonicotinoide gehören zu den am häufigsten und umfangreichsten eingesetzten Insektiziden. Sie zielen eigentlich auf beißende und saugende Insekten, die sich direkt aus den Leiterbahnen der Wirtspflanzen ernähren. Allerdings werden auch bestäubende Insekten geschädigt, wenn sie mit dem Nektar oder den Pollen der behandelten Pflanzen in Kontakt kommen. Deshalb ist in der EU der Einsatz der drei häufig eingesetzten Neonicotinoide Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam im Freiland verboten und auf die Anwendung in Gewächshäusern beschränkt [a].

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Teja Tscharntke, Leiter der Abteilung Agrarökologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
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  • Prof. Dr. Dr. Randolf Menzel, Professor emeritus und Arbeitsgruppenleiter am Institut für Biologie – Neurobiologie, Freie Universität Berlin
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  • Dr. Dorothea Brückner, Leiterin der Forschungsstelle für Bienenkunde, Fachbereich 2 (Biologie/Chemie), Universität Bremen
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  • Prof. Dr. Johannes Steidle, Leiter des Fachgebiets Tierökologie, Stellvertretender Direktor des Instituts für Zoologie, Universität Hohenheim
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Statements

Prof. Dr. Teja Tscharntke

Leiter der Abteilung Agrarökologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen

„Die gut belegten Ergebnisse basieren auf klar definierten Laborversuchen und lenken den Blick auf eine für nützliche Insekten bedeutende Exposition durch Pestizide, die bisher nicht oder kaum beachtet wurde.“

„Der von Schmierläusen, Blattläusen und anderen saugenden Insekten ausgeschiedene Honigtau ist allgegenwärtig, insbesondere in landwirtschaftlichen Kulturen. Zum Beispiel sind Blattläuse die ökonomisch wichtigsten Schädlinge im Getreide und die parasitischen Wespen – die zu den wichtigsten Gegenspielern der Blattläuse zählen – ernähren sich wesentlich von Honigtau, insbesondere wenn es keine blühenden Pflanzen in der Nähe gibt. Deshalb wird durch vergifteten Honigtau eine biologische Schädlingsbekämpfung hintertrieben.“

„Die Vergiftung von nützlichen Insekten durch kontaminierten Honigtau ist wahrscheinlich weit verbreitet, insbesondere von biologischen Gegenspielern saugender Schadinsekten. Der Versuch von den Autoren der aktuellen Studie belegt eine hohe direkte Mortalität. Grundsätzlich sind aber auch indirekte Schäden bei Nützlingen zu erwarten. Dazu zählen eine Verringerung der Lebensdauer, eine geringere Vitalität und Fruchtbarkeit, eine geringere Fähigkeit, Geschlechtspartner zu finden, eine geringere Suchfähigkeit, die bei parasitischen Wespen sehr wichtig ist, und so weiter.“

„Das ganze Spektrum negativer Wirkungen jenseits der direkten Mortalität ist viel zu wenig untersucht und wird bei der Zulassung von Pestiziden nicht berücksichtigt, spielt aber für das Funktionieren von Ökosystemen und Nahrungsnetzen eine große Rolle.“

Auf die Frage, ob die Ergebnisse auch für Anwendungen in der EU relevant sind, da hier die getesteten Neonicotinoide nicht im Freiland eingesetzt werden dürfen:
„Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass eine biologische Schädlingsbekämpfung im Gewächshaus bei Anwendung von Neonicotinoiden fehlschlagen muss. Mittlerweile gibt es zahlreiche Arten von Nützlingen zu kaufen, die erfolgreich gegen saugende Insekten wie Blattläuse, Schmierläuse oder die Weiße Fliege eingesetzt werden können – aber bei kontaminiertem Honigtau eine kurze Überlebenszeit haben sollten.“

„Da saugende Schädlinge und ihr Honigtau in Land- und Forstwirtschaft allgegenwärtig sind, lauert auch überall die Gefahr, dass diese Zuckerressourcen vergiftet sind – entweder durch systemische Gifte oder auch durch äußere Giftanwendungen. Die Gefahr besteht nicht nur bei den gerade von der EU verbotenen Neonikotinoiden, sondern auch bei anderen Insektiziden – und vermutlich auch bei Fungiziden, die insektizide Wirkungen haben können.“

„Zudem fällt viel Honigtau auf den Boden – und damit auch Gift, das die Nahrungsnetze im Boden stört, wie die Autoren zu Recht betonen.“

Auf die Frage, ob sich denn auf mit Neonicotinoiden behandelten Kulturen überhaupt relevante Populationen von Honigtau-produzierenden Insekten finden lassen, da diese zu den Zielorganismen dieser Insektizide gehören:
„Neonicotinoide sind in der Tat sehr effektiv, es gibt aber mittlerweile sehr viele Schädlingsarten, die resistent geworden sind. Insofern kann es immer noch zu Honigtauproduktion kommen, die eine umweltfreundliche, biologische Bekämpfung hintertreibt.“

Auf die Frage, ob bekannt ist, in welchem Umfang Honigbienen Honigtau nutzen:
„Honigbienen können viel Honigtau konsumieren, und Pestizide finden sich in der Mehrzahl der verkauften Honiggläser. Der beliebte Waldhonig basiert großenteils auf dem Zucker, den Honigbienen von Schildläusen und anderen saugenden Insekten im Wald gewonnen haben. Entsprechend sollte ein Insektizideinsatz im Wald auch zu Vergiftungen von Honigtau-konsumierenden Honigbienen führen.“

Prof. Dr. Dr. Randolf Menzel

Professor emeritus und Arbeitsgruppenleiter am Institut für Biologie – Neurobiologie, Freie Universität Berlin

„In dieser wichtigen Studie wird nachgewiesen, dass die süßen Ausscheidungen von Blattläusen Insektizide der Gruppe der Neonicotinoide – in diesem Fall Thiamethoxam und Imidacloprid – enthalten, wenn die Bäume mit diesen Insektiziden behandelt werden. Schwebfliegen und Wespen, die diesen Honigtau aufnehmen, haben eine kürzere Lebensdauer.“

„Das Ergebnis dieser sorgfältig durchgeführten Studie ist einerseits nicht neu, weil die beiden getesteten Neonicotinoide zu den hoch toxischen Insektiziden gehören, für die die schädliche Wirkung auf Nicht-Ziel-Insekten in vielfältigen Studien nachgewiesen wurde. Andererseits ist diese Studie außerordentlich wichtig, weil damit ein neuer und sehr wichtiger Weg der Aufnahme von Insektiziden durch Nicht-Ziel-Insekten nachgewiesen wurde. Zwar wurde dieser Weg immer wieder vermutet, aber eine genaue Studie gab es dazu noch nicht.“

„Da sehr viele Nicht-Ziel-Insekten Honigtau aufnehmen und sich die Neonicotinoide über Jahre in den Bäumen halten, ist es dringend geboten, die schädigende Wirkung von kontaminiertem Honigtau noch genauer zu studieren. So sollte nicht nur die Überlebensrate quantifiziert werden, sondern auch die nicht letalen Schädigungen auf das Verhalten, die Immunkompetenz und die Fortpflanzung der betroffenen Nicht-Ziel-Insekten untersucht werden.“

Dr. Dorothea Brückner

Leiterin der Forschungsstelle für Bienenkunde, Fachbereich 2 (Biologie/Chemie), Universität Bremen

„Die Methodik der Studie ist außergewöhnlich komplex. Sie arbeitet mit drei sehr unterschiedlichen Insektenarten und einer hochspezifischen chemischen Analytik. Die Forscher haben sich damit einer großen Herausforderung gestellt. Meines Wissens ist dieser Ansatz tatsächlich neu in der Wissenschaft und ich finde das Versuchsdesign daher als sehr originell, aber auch als sehr aufwendig in der Durchführung. Die Schädigung von Nutzinsekten durch die Aufnahme von Honigtau, der mit Neonicotinoiden kontaminiert ist, konnte in der Studie gezeigt werden. Dies ist ein äußerst wichtiges Ergebnis!“

„Zum jetzigen Zeitpunkt sind alle Studien zur Wirkung von Neonicotinoiden wünschenswert und sehr zu begrüßen, da die verschiedensten Wirkungswege denkbar sind. Da alle natürlichen Ökosysteme hochkomplex und somit schwer zu analysieren sind, konnte die Wirkungsweise von Neonicotinoiden auf die Vielzahl der Insektenarten bislang nicht ausreichend erforscht werden.“

„Die vorliegende Studie an Zitrusbäumen zeigt einen indirekten Weg der Schädigung über von Blattläusen abgespritzten Honigtau. Auch andere Neonicotinoide könnten über diesen Weg schädigend wirken. Es müsste nachgewiesen werden, dass dies nicht so ist, um diese Annahme auszuschließen. Es handelt sich um Ergebnisse einer Forschung, die im Gewächshaus durchgeführt wurde – jedoch gibt es keinen Grund anzunehmen, dass sie nicht auch für das Freiland relevant sind.“

Auf die Frage, ob bekannt ist, in welchem Umfang Honigbienen Honigtau nutzen:
„Es ist bekannt, dass Honigbienen Honigtau von diversen Pflanzen sammeln, nicht nur von Bäumen wie Eiche, Linde und Nadelbäumen, sondern zum Beispiel auch von Kartoffeln. Zudem ist bekannt, dass Ameisen viel Honigtau von Bäumen sammeln, aber zum Beispiel auch von Rainfarn. Honigtau spielt als Futter für Insekten ganz sicher eine sehr große Rolle. Die Schädigung durch mit Neonicotinoiden kontaminierten Honigtau ist für viele Bestäuberarten denkbar – zum Beispiel auch für die zahlreichen Arten von solitären Bienen, Schmetterlingen und Wespen.“

Prof. Dr. Johannes Steidle

Leiter des Fachgebiets Tierökologie, Stellvertretender Direktor des Instituts für Zoologie, Universität Hohenheim

„Die Arbeit ist methodisch sauber durchgeführt worden. Die Versuchsorganismen wurden unter realistischen Bedingungen im Labor mit Neonicotinoiden in Kontakt gebracht und begleitende Analysen zeigen, dass Neonicotinoide in relevanten Mengen in Honigtau vorkommen.“

„Sicherlich werden Kritiker der Studie als Erstes feststellen, dass man aus Laborstudien nicht auf das Freiland schließen kann. Das ist falsch. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung und sind wichtig. Komplexe Beziehungen lassen sich oft nur in einem kontrollierten Laborexperiment untersuchen. Freilandstudien erlauben meist nur Korrelationen, da selten alle Einflussfaktoren kontrolliert werden können.“

„Die Studie ist für mich ein echter Meilenstein und zwar aus zwei Gründen. Erstens: Sie zeigt einen bisher völlig unbeachteten Weg, wie Nicht-Ziel-Organismen mit Neonicotinoiden in Kontakt kommen können. Nämlich über Honigtau, der von Blattläusen und ihren Verwandten abgegeben wird, wenn sie an Pflanzen saugen, die mit Neonicotinoiden behandelt wurden. Dieser Weg ist vermutlich wesentlich bedeutsamer als die Schädigung über Pollen und Nektar, da Honigtau die wichtigste Nahrungsquelle für viele Nicht-Ziel-Organismen – vor allem auf Agrarflächen – darstellt. Das liegt zum Beispiel daran, dass er im Unterschied zu Blüten langfristig verfügbar ist.“

„Zweitens: Es ist eine der wenigen Studien, die zeigt, dass räuberische (Schwebfliegen) und parasitoide Insekten von Neonicotinoiden getötet werden können, obwohl sie gar nicht die Zielorganismen der Behandlung sind. Diese Insekten sind ökologisch besonders wichtig, weil sie die Feinde von Pflanzenfressern sind. Was passiert, wenn diese Feinde fehlen, sieht man am Buchsbaumzünsler und der Kastanienminiermotte. Beide haben in Mitteleuropa kaum natürliche Feinde und entlauben regelmäßig ihre Fraßpflanzen. Ähnliches ist beim Wegfall der natürlichen Feinde auch für viele andere Pflanzenarten zu befürchten. Neonicotinoide führen also in eine Zukunft, die nicht grün ist, sondern kahl.“

Auf die Frage, ob die Ergebnisse auch für Anwendungen in der EU relevant sind, da hier die getesteten Neonicotinoide nicht im Freiland eingesetzt werden dürfen:
„Die Untersuchung hat die Wirkungen von zwei Neonicotinoiden über Honigtau für ein bestimmtes System aus Zitrusbäumen, der Zitrusschmierlaus, einer bestimmten Schwebfliege und einer bestimmten parasitischen Wespe gezeigt. Es ist zu erwarten, dass es in ähnlichen Systemen ähnliche Effekte gibt, auch mit anderen Nutzpflanzen und anderen Neonicotinoiden. Daher sollte die Studie unbedingt ein Anlass sein, bei zukünftigen Zulassungsverfahren den beschriebenen Wirkungsweg zu berücksichtigen. Dies wird auch von den Autoren gefordert.“

Auf die Frage, ob sich denn auf mit Neonicotinoiden behandelten Kulturen überhaupt relevante Populationen von Honigtau-produzierenden Insekten finden lassen, da diese zu den Zielorganismen dieser Insektizide gehören:
„Die Studie zeigt, dass Schildläuse auch bei regulär verwendeten Neonicotinoiden nicht sofort sterben, sondern noch Honigtau ausscheiden, der mit Neonicotinoiden kontaminiert ist. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Szenarien, bei denen die Läuse mit nicht-tödlichen Mengen von Neonicotinoiden in Kontakt kommen und anschließend Neonicotinoide im Honigtau ausscheiden, der Nicht-Ziel-Organismen schädigt.“

„Es gibt zahlreiche Insektenarten, die Honigtau als Nahrungsquelle nutzen. Neben den untersuchten Schwebfliegen und parasitoiden Wespen gehören dazu besonders Ameisen – hier gibt es ja auch eine enge, symbiontische Beziehung zu Honigtau produzierenden Blattläusen – aber auch Fliegen, Mücken, Schmetterlinge, Käfer und Netzflügler. Sie alle können potenziell von Neonicotinoiden geschädigt werden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Teja Tscharntke: „Keine.“

Prof. Dr. Randolf Menzel: „Kritische Grundhaltung gegenüber Industrieforschung, Nähe zu ökologischen Aktivitäten ohne Mitglied zu sein.“

Dr. Dorothea Brückner: „Es gibt keinerlei Interessenskonflikte.“

Prof. Dr. Johannes Steidle: „Da fällt mir nichts ein."

Primärquelle

Calvo-Agudo M et al. (2019): Neonicotinoids in excretion product of phloem-feeding insects kill beneficial insects. PNAS; DOI: 10.1073/pnas.1904298116. 

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[a] Science Media Center Germany (2018): EU-Ausschuss stimmt für Verbot von Neonicotinoiden im Freiland. Rapid Reaction. Stand 27.04.2018.