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17.10.2019

Künstliche embryoartige Struktur aus einzelner Mauszelle hergestellt

Spanischen, US-amerikanischen und chinesischen Wissenschaftlern scheint es gelungen zu sein, aus einzelnen, besonders entwicklungsfähigen Stammzellen von Mäusen eine Art Embryo zu generieren und diesen in Muttertiere zu implantieren. Den Forschenden gelang damit ein weiterer Schritt in Richtung künstlicher Embryonen, die ohne Befruchtung der Eizelle durch Spermien in vitro erzeugt werden. Ihre Ergebnisse veröffentlichen sie im Fachjournal „Cell“ (siehe Primärquelle).

Die Forscher aggregierten einzelne besonders entwicklungsfähige Stammzellen (expanded potential stem cells; EPS cells* (Begriffe mit Sternchen siehe Glossar) – also solche, die sich sowohl zur Hülle des Embryos (Trophoblast*) als auch in jedes Gewebe des Embryos selbst entwickeln können – bis sich daraus eine embryoähnliche Struktur bildete. Erstmals gelang es den Forschenden zudem, voll ausdifferenzierte Zellen des Bindegewebes in den potenten Status zu EPS-Zellen zurückzuprogrammieren.In einer speziellen 3D-Zellkulturvorrichtung aggregierten mehrere dieser potenten EPS-Zellen und wuchsen zu einer der Blastozyste* ähnlichen Struktur heran, die die Forscher EPS-Blastoid* nennen. In einem weiteren Versuch konnten die Forscher zudem nachweisen, dass sich aus einer einzelnen EPS-Zelle ein gesamter Blastoid entwickeln kann. Zu Beginn braucht diese jedoch noch Helferzellen in ihrem näheren Umfeld, die die Wissenschaftler nach und nach abtöteten. Der entstehende Blastoid hatte seinen Ursprung damit letztlich in einer einzigen EPS-Zelle. Diese erstaunliche Embryogenese klappt bei der Maus jedoch nur mit einer Effizienz von 2,7 Prozent.

In vielen Untersuchungen konnten die Autoren der Studie morphologische und molekularbiologische Ähnlichkeit mit einer natürlichen, durch Befruchtung entstandenen Blastozyste zeigen. In letzter Instanz zeigten sie sogar, dass sich die EPS-Blastoide in sieben Prozent der Fälle in den Uterus scheinschwangerer Mäuse einnisten konnten. Selbst wenn die Autoren erwachsene Körperzellen als Ausgangsmaterial verwendeten, konnten sie in 15 Prozent der Versuche embryonähnliche Gebilde züchten. Auch diese nisteten sich in die Gebärmutter ein. Allerdings verlief die weitere Entwicklung dieser Embryonen nicht normal, sondern teilten nur grundlegende Entwicklungselemente mit natürlichen Embryonen; sie scheinen nicht dauerhaft entwicklungsfähig zu sein.

Erst kürzlich gelang es Wissenschaftlern, die Zellen mit erhöhtem Entwicklungspotenzial (EPS) auch von Schwein und Mensch zu kultivieren [Statement zum Thema; a]. Alle diese Fortschritte laufen darauf hinaus, künftig womöglich künstliche Embryonen in der Petrischale erzeugen zu können. Auf den Menschen bezogen heißen sie synthetische, menschliche Entitäten mit embryoartigen Eigenschaften (synthetic human entities with embryo-like features (SHEEFs)). Damit verbunden sind Fragestellungen, wie die Forschung und Anwendung rechtlich und ethisch beurteilt werden sollte [Statements zu diesen Dimensionen; b].

Übersicht

     

  • PD Dr. Michele Boiani, Leiter der Arbeitsgruppe „Mouse Embryology“, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster
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  • Dr. Monika Nowak-Imialek, Wissenschaftlerin am Institut für Nutztiergenetik, Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, Neustadt am Rübenberge
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Statements

PD Dr. Michele Boiani

Leiter der Arbeitsgruppe „Mouse Embryology“, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster

„Die reifen EPS-Aggregate, sogenannte Blastoide, zeigen eindrucksvoll, dass mehrere Wege der Embryogenese möglich sind. Trotzdem muss es aber einen Grund geben, warum sich in der Evolution die Verschmelzung von Eizelle und Spermium als Hauptweg etabliert hat. Die in der aktuellen Publikation gezeigte Entwicklungsfähigkeit der Blastoiden bezieht sich vor allem auf die prä-implantative Entwicklung, die sehr beeindruckend ist. Für mich ist jedoch Vorsicht geboten, wenn die Dezidualisierung des Endometriums (Aufbau der Gebärmutterschleimhaut, sodass sich die Blastozyste einnisten kann; Anm. d. Red.) als in vivo-Marker des Entwicklungspotenzials genannt wird, da sogar exogene Faktoren (Tropfen von Sesamöl) in der Maus eine Art von Dezidualisierung des Endometriums hervorrufen [1].“

„Die Blastoiden sind zwar analog, aber nicht homolog zu den natürlichen Embryonen (mit Eizelle als Quelle) – das muss uns bewusst sein. Ich bin mir nicht so sicher, ob sie in der nahen Zukunft Auskunft über die natürliche Entwicklung geben können.“

„Die Realisierbarkeit von SHEEFs (synthetic human entities with embryo-like features; Anm. d. Red.) halte ich für durchaus gegeben. Mit der Aussage, ‚volle Funktionsfähigkeit‘ wäre ich trotzdem vorsichtig, weil der Goldstandard für den Beweis immer noch die Geburt ist. Dieses Ziel ist definitiv noch nicht erreicht. Unter den Säugetieren entwickelt sich die Maus vergleichsweise rasch – etwa vier Tage bis zur Einnistung, dann noch etwa 15 Tage bis zur Geburt. In der Mausentwicklung muss deswegen alles perfekt abgestimmt und schnell sein. Würde dabei ein Fehler passieren, könnte das das Ende des sich entwickelnden Embryos bedeuten. In anderen Säugetierarten dauert die Entwicklung zehnmal so lange wie bei der Maus, sodass Fehler korrigiert werden können. Aus meiner Sicht könnte ein langsameres Tempo – wie beim Menschen – rein theoretisch die Entwicklung von synthetischen Embryonen aus EPS-Zellen begünstigen.“

„In der Praxis ist die Erzeugung synthetischer Mausembryonen sehr beeindruckend. Dennoch muss man sagen, dass natürliche Embryonen für die Beantwortung von Forschungsfragen bisher deutlich überlegen sind. Wenn stattdessen jemand synthetische Humanembryonen schaffen wollte, wäre es für mich ethisch nicht vertretbar. Ich bin der Meinung, dass synthetische Humanembryonen nicht nur ethisch höchstproblematisch wären, sie würden womöglich auch zum Aufgeben von Tierversuche zugunsten menschlicher Versuche führen. Das halte ich für leichtsinnig.“

Auf die Frage, inwiefern die Forscher tatsächlich zeigen können, dass sich der künstliche Embryo aus einer einzelnen EPS-Zelle entwickelt:
„Mir bleiben da Zweifel, da am Anfang des Verfahrens die einzelnen EPS-Zellen von anderen EPS-Zellen unterstützt wurden, bevor letztere selektiv eliminiert wurden. Nach wie vor ist also nur die Eizelle totipotent.“

„Die Blastoiden und ihre starke Ähnlichkeit zu den echten Embryonen ist für mich sehr überzeugend. Trotzdem ist zu beachten, dass die Blastoiden unter Kulturbedingungen gewachsen sind, die einer normalen Entwicklung nicht ganz entsprechen, da eine 1:1 Mischung von Embryo- und Stammzellmedium verwendet wurde. Wenn sich die Embryonen vollständig in Embryomedium entwickeln würden, dann wäre ich völlig überzeugt.“

„Im Gegensatz zu den Blastoiden sind für mich die post-implantativen Strukturen ein Fall für die Pareidolie (Wikipedia definiert: ‚das Phänomen, in Dingen und Mustern vermeintliche Gesichter und vertraute Wesen oder Gegenstände zu erkennen‘). Die Blastoiden mögen sich zwar eingenistet haben, deren post-implantative Morphologie ist aber stark missgebildet.“

„In der bisherigen Diskussion wurde durchaus vernachlässigt, dass die EPS-Aggregate aus Zellen stammen, die keine bekannte maternale Strukturen haben, wie zum Beispiel Polaritäten und Gradienten der Eizelle. Außerdem haben die Blastoiden auch keine Zona Pellucida (eine Art Schutzhülle der Eizelle, die unter anderem vorzeitiges Einnisten verhindert; Anm. d. Red.). Daher ist die Bedeutung dieser maternalen Strukturen entweder für die normale Entwicklung überschätzt worden, oder es fehlt den EPS-Aggregaten etwas wichtiges. Dieses könnten mitunter Gründe sein, warum die synthetischen Embryonen sich nicht vollständig entwickeln.“

Dr. Monika Nowak-Imialek

Wissenschaftlerin am Institut für Nutztiergenetik, Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, Neustadt am Rübenberge

„Nachdem die ersten EPS-Stammzellen (expanded potential stem cells) bei der Maus etabliert wurden, wurde offenbar, welch großes Potential die Zellen haben. Die EPS-Zellen werden aus normalen Embryonen gewonnen, bekommen aber durch die Kultivierung in einer bestimmten Nährlösung eine einzigartige Fähigkeit; im Vergleich zu den normalen embryonalen Stammzellen haben die EPS-Stammzellen nämlich die Fähigkeit, sich nicht nur in alle drei Keimblätter der Embryonalentwicklung (Endoderm, Ektoderm und Mesoderm), sondern auch in extraembryonales Gewebe, den sogenannten Trophoblasten – aus dem letztlich die Plazenta entsteht – zu entwickeln. Deshalb ist es nicht wirklich überraschend, dass es jetzt Li et al. gelungen ist, aus den EPS-Zellen eine Embryo-ähnliche Struktur sogenannte ‚EPS-Embryonen‘ zu generieren.“

„Die Etablierung von entwicklungsfähigen embryoähnlichen Strukturen in vitro – also in der Petrischale – bei der Maus ist an sich nicht neu. In den vergangenen Jahren haben verschiedene Arbeitsgruppen, unter anderem von Magdalena Zernicka-Goetz und Niels Geijsen‚ ebenfalls ähnliche Arbeiten beschrieben [2][3][4]. Für die Erstellung solcher embryoähnlichen Strukturen wurden entweder zwei (embryonale Stammzellen aus denen ein Embryo entsteht und Trophoblast-Stammzellen aus denen die Plazenta gebildet wird) oder sogar drei verschiedenen Zelllinien (embryonalen Stammzellen, Trophoblast-Stammzellen und extraembryonale Endodermzellen, die den Dottersack bilden) gemeinsam kultiviert.“

„Die hier diskutierte neue Studie von Li et al. stellt einen wichtigen Fortschritt dar, und zeigt, dass es möglich ist, embryoähnliche Strukturen aus nur einem Stammzelltyp zu generieren. Die wichtigen neuen Erkenntnisse sind, dass die EPS-Embryonen nicht nur aus EPS-Zellen, sondern auch aus induzierten erweiterten pluripotenten Zellen (iEPS-Zellen), die von Fibroblasten der Maus stammen, generiert wurden.“

„Es ist zu erwarten, dass im nächsten Schritt entsprechende Experimente auch mit Schweine-EPS-Zellen durchgeführt werden. Ich sehe ein großes Potenzial der EPS-Embryonen in der Nutztierforschung, da sich hiermit neben molekularen und zellulären Grundlagen der Embryonalentwicklung auch Entwicklungsstörungen sowie die Mechanismen der Embryo-Einnistung in der Petrischale erforschen lassen. Außerdem wäre es zusammen mit modernen Methoden des Genome Editings vorstellbar, schon in vitro verschiedene Krankheitsmodelle zu etablieren und potenzielle neue Therapie zu entwickeln.“

„Nachdem die menschlichen EPS-Zelllinien etabliert wurden, kann ich mir auch vorstellen, dass methodisch ähnliche Ergebnisse auch beim Menschen erreicht werden könnten. Die Frage ist nicht, ob es machbar wäre, sondern inwieweit solche menschlichen Embryomodelle in der Forschung verwendet werden dürften und welche Anwendungen ethisch überhaupt akzeptabel wären. Das kann ich leider nicht beantworten.“

„Die Autoren beschreiben, dass es möglich ist, aus einer einzelnen EPS-Zelle der Maus in vitro eine embryoähnlichen Struktur zu entwickeln. Allerdings ist das nur gelungen, wenn am Anfang die einzelne EPS-Zelle von zehn anderen EPS-Zellen, sogenannten Helferzellen, unterstützt wurde. Die Helferzellen wurden dann aber innerhalb der ersten 24 Stunden kontinuierlich eliminiert.“

„Dass die in vitro erzeugten EPS-Embryonen den natürlichen Embryonen ähneln, konnten Li et al. in mehreren wichtigen Experimenten beweisen. Die EPS-Embryonen sind morphologisch von normalen Embryonen nicht zu unterscheiden. Die Genexpression der in vitro erzeugten EPS-Embryonen ähnelt der Genexpression von natürlichen Mausembryonen. Die Autoren haben auch den Beweis geliefert, dass die EPS-Embryonen in der Lage sind, sich in vitro zu entwickeln und sich in die Gebärmutter einzunisten. Letztendlich wäre es interessant, abzuklären, inwieweit die EPS-Embryonen in der Lage sind sich über das Stadium der Einnistung hinaus weiterzuentwickeln und funktionsfähige Feten zu bilden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

PD Dr. Michele Boiani: „Keine.“

Alle: Keine angegeben.

Primärquelle

Li R et al. (2019): Generation of Blastocyst-like Structures from Mouse Embryonic and Adult Cell Cultures. Cell; 179, 1-16. DOI: 10.1016/j.cell.2019.09.029.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Ledford BE et al. (1976): Biochemical and Morphological Changes Following Artificially Stimulated Decidualization in the Mouse Uterus. Biology of Reproduction; 15 (4), 529–535. DOI: 10.1095/biolreprod15.4.529.

[2] Harrison SE et al. (2017): Assembly of embryonic and extraembryonic stem cells to mimic embryogenesis in vitro. Science; 356. eaal1810. DOI: 10.1126/science.aal1810.

[3] Sozen B et al. (2018): Self-assembly of embryonic and two extra-embryonic stem cell types into gastrulating embryo-like structures. Nat Cell Biol.; 20: 979-989. DOI: 10.1038/s41556-018-0147-7.

[4] Rivron NC et al. (2018): Blastocyst-like structures generated solely from stem cells. Nature; 557: 106-111. DOI: 10.1038/s41586-018-0051-0.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[a] Science Media Center (2019): Hoch potente Stammzellen von Mensch und Schwein hergestellt. Research in Context. Stand: 03.06.2019.

[b] Science Media Center (2018): Ethik und Recht bei Embryonenmodellen aus Stammzellen. Research in Context. Stand: 12.12.2018.

Weitere Recherchequellen

Cyranoski D (11.09.2019): Embryo-like structures created from human stem cells. Nature News.

Glossar

Blastomere – einzelne, durch die anfängliche Furchung der befruchteten Eizelle in der Maus entstandene Zelle, die zunächst noch wie die Eizelle totipotent ist und sich in einen kompletten Embryo entwickeln kann.

Blastozyste – Damit wird das Stadium einer sich entwickelnden Eizelle wenige Tage nach der Befruchtung bezeichnet. Sie besteht aus zwei verschiedenen Geweben: einer äußeren Zellschicht (Trophoblast) und einer dort anheftenden inneren Zellmasse, die in den flüssigkeitsgefüllten Innenraum ragt.

EPS-Blastoid – eine Struktur, die aus den besonders potenten EPS-Zellen erwächst und dessen Entwicklung einer natürlichen Blastozyste als früher Form eines Embryos stark ähnelt.

EPS-Zellen – „expanded potential stem cells”; steht für Stammzellen, die ein hohes Entwicklungspotenzial besitzen und sich in alle Zellen eines sich entwickelnden Embryos und seiner Hülle entwickeln können. Sie werden bei der Maus aus Blastomeren des Achtzell-Stadiums abgeleitet.

Trophoblast – bezeichnet die äußere Zellschicht der Blastozyste; sie ist später mit für die Ernährung des Embryos zuständig und knüpft bei der Einnistung Kontakt zum mütterlichen Gewebe.