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05.04.2023

Einfluss von Feinstaub bei Lungenkrebs

     

  • Mechanismus könnte erhöhtes Lungenkrebsrisiko durch Feinstaubbelastung erklären
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  • Entzündungsprozess begünstigt Tumorentstehung überr bereits bestehende Treibermutationen
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  • Erkenntnisse zur Wirkung von Feinstaub auf Lungenkrebs könnten relevant bei Grenzwerten für die Luftqualität werden
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Luftverschmutzung durch Feinstaub kann das Lungenkrebsrisiko erhöhen, indem bereits bestehende genetische Mutationen in gesundem Lungengewebe begünstigt werden. Darauf deuten die Ergebnisse einer Studie hin, die bereits im September 2022 auf der Jahrestagung der European Society for Medical Oncology (ESMO) in Paris vorgestellt wurden. Am 05.04.2023 sind diese, inklusive neuer Daten und Analysen, im Fachjournal „Nature“ erschienen (siehe Primärquelle).

Feinstaubpartikel mit einem Durchmesser von weniger als 2,5 Mikrometern (PM2.5) können tief in die Atemwege eindringen und die Lunge nachhaltig schädigen. Bekannt ist auch, dass eine hohe Feinstaubbelastung in der Luft mit einem erhöhten Risiko an Lungenkrebs zu erkranken zusammenhängt [I][II]. Der Mechanismus war jedoch bisher unklar. Um diesem auf den Grund zu gehen, haben die Forschenden in einer Kohortenstudie die Daten von mehr als 32.000 Personen in England, Südkorea, Taiwan und Kanada analysiert. Alle Teilnehmenden hatten eine Treibermutation des EGFR-Rezeptors (Epidermaler Wachstumsfaktor), die vor allem bei Personen mit Lungenkrebs auftritt, die nie geraucht haben [III]. Die Analyse zeigt, dass eine erhöhte PM2.5-Konzentration in der Umgebungsluft bei EGFR-mutationspositiven Personen mit einem zunehmenden Risiko für ein nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom einhergeht.

Anhand von Mausmodellen und menschlichen Zellen konnten die Forschenden zeigen, dass PM2.5 keine neuen Mutationen im Gewebe verursachen. Stattdessen lösen sie Entzündungsprozesse aus, die die Tumorentstehung durch bereits bestehende Mutationen, hier EGFR und KRAS, die häufigste Treibermutation beim nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom, begünstigen. Den Forschenden zufolge könnten bereits drei Jahre PM2.5-Belastung ausreichen, um das Risiko der Entwicklung von EGFR-bedingtem Lungenkrebs zu erhöhen.

Auf Grundlage ihrer Erkenntnisse schlagen die Autorinnen und Autoren den identifizierten Entzündungsprozess – vor allem den beteiligten Botenstoff Interleukin-1β – als Ziel für die Behandlung von nicht-kleinzelligen Lungenkarzinomen vor. Es könnte dafür beispielsweise eine Antikörpertherapie zum Einsatz kommen.

Das SMC hat Forschende um eine Einschätzung der Studienergebnisse gebeten.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Martin Göttlicher, Direktor des Instituts für Molekulare Toxikologie und Pharmakologie, Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, München, und Professor am Lehrstuhl für Toxikologie und Umwelthygiene, Technische Universität München
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  • Prof. Dr. Petros Christopoulos, Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie in der Thoraxklinik, Universitätsklinikum Heidelberg, und Arbeitsgruppenleiter am Deutschen Zentrum für Lungenforschung (DZL), Heidelberg
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Statements

Prof. Dr. Martin Göttlicher

Direktor des Instituts für Molekulare Toxikologie und Pharmakologie, Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, München, und Professor am Lehrstuhl für Toxikologie und Umwelthygiene, Technische Universität München

„Zunächst einmal möchte ich dem großen internationalen Team zu Durchführung, Abschluss und Veröffentlichung einer so komplexen Studie sehr herzlich gratulieren. Die Fragestellung, wie in unterschiedlichem Ausmaß überall vorhandene von Menschen verursachte Umweltbelastungen auf unsere Gesundheit wirken, ist hoch relevant. Für Entscheidungen zur Begrenzung von Belastungen und Abwehr von Schäden ist das Verstehen dieser Zusammenhänge essenziell und vor allem das Verständnis, was bei welchem Ausmaß von Belastungen zu erwarten ist – mit dem Fachbegriff benannt: die zu erwartende Dosis-Wirkungs-Beziehung. Die aktuelle Publikation präsentiert die Kombination eines breiten Spektrums methodischer Ansätze von umweltepidemiologischen Kohortenstudien zur Inzidenz einer bestimmten relativ häufigen Form von Lungenkrebs in Menschen, die nie geraucht haben, über sehr aufwändige Modelle in Mäusen, Zellen und Organoiden in Kultur, zurück zum Studium von Mutationshäufigkeiten in der menschlichen Population. Durch diese Kombination komplementärer Ansätze ist die Studie außergewöhnlich, aber der Komplexität der Fragestellung angemessen.“

„Hinweise, dass Belastungen mit häufigen urbanen Luftschadstoffen einschließlich PM2.5 Feinstaub neben Asthma und Herz-Kreislauferkrankungen auch die Entstehung von Lungenkrebs fördern können, gibt es schon länger. Die Fragestellung der aktuellen Studie ist, was der Mechanismus ist, der dieser Förderung der Tumorentstehung zu Grunde liegt. Untersucht wird dies an einer Tumorart, die in Bezug auf zentrale genetische Veränderung im Rezeptor für den epidermalen Wachstumsfaktor (EGFR) genetisch genau definiert ist. Diese genetisch definierte Tumorform ist unter den Lungentumoren von Menschen, die nie geraucht haben, eine relativ häufige Variante. Für die experimentellen Studien in Mausmodellen und Zell- oder Organkulturen wird eine standardisierte Partikelpräparation verwendet, die einem Aerosol aus urbaner Luftverschmutzung entspricht. PM2.5 zeigt dabei an, dass die eingesetzte Fraktion von Partikeln sich im Luftstrom wie Kügelchen von 2.5 Mikrometer oder kleiner verhalten. Diese Partikel sind so klein, dass sie bis tief in die Atemwege eindringen können.“

„Der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung sind große epidemiologische Studien an Bevölkerungskohorten aus England, Südkorea und Taiwan, die eine Assoziation zwischen der Häufigkeit des Auftretens bestimmter Formen von Lungenkrebs und der Belastung mit PM2.5 am Wohnort der Studienteilnehmenden aufzeigen. Der Zusammenhang ist am deutlichsten in der Kohorte aus Taiwan, in der die höchsten PM2.5 Expositionen gemessen wurden und auch noch statistisch nachweisbar in der Kohorte aus England mit der niedrigsten Exposition. Allerdings legt die Darstellung der Daten aus der relativ niedrig belasteten englischen Kohorte im Gegensatz zu den anderen Studien mit höheren Belastungen nahe, dass der Zusammenhang zwischen Tumorhäufigkeit und Partikelexposition nur bei den höchsten Belastungen der englischen Studienteilnehmenden besteht, aber bei dem großen Teil der niedriger Belasteten nicht mehr auftritt. Dabei liegen die höchsten Expositionen der englischen Kohorte mit 14 Mikrogramm pro Kubikmeter (µg/m³) noch unterhalb der niedrigsten Belastungen in den beiden asiatischen Kohorten (20 µg/m³). Berücksichtigt wurde für diese Studien eine spezifische Form von Lungentumoren, die molekulargenetisch durch Mutationen im Gen für den Rezeptor für den epidermalen Wachstumsfaktor (EGFR) charakterisiert ist und durch Auswahl der berücksichtigten Betroffenen nicht auf Rauchen zurückzuführen ist. Trotz der Signifikanz des Zusammenhangs darf nicht übersehen werden, dass der Effekt von individuell selbst verantwortetem Rauchen auf die Entstehung von Lungentumoren deutlich höher ist als der Effekt der allen zugemuteten Belastungen mit Luftschadstoffen. Raucher haben ein etwa zehnmal höheres Risiko als Nichtraucher. Dagegen gab es in der relativ niedrig belasteten englischen Kohorte etwa ein Zehntel mehr Fälle und eine Verdoppelung bis Verdreifachung bei der speziellen Tumorform in der am höchsten belasteten Kohorte aus Taiwan. Die epidemiologischen Studien werfen die für die aktuelle Publikation zentrale Frage auf, ob PM2.5-Exposition die Entstehung der treibenden Mutationen im EGFR-Gen selbst induziert (das heißt, ob PM2.5 mutagen ist) oder ob die PM2.5-Exposition die Entwicklung von vorbestehenden oder aus anderen Gründen entstandenen Mutationen im EGFR-Gen zu Tumoren fördert (das heißt, als Tumorpromoter wirkt).“

„Zur Beantwortung dieser Frage haben die Autoren die Beobachtungen aus der Bevölkerung in Modelle in der Maus oder in Zellen und Organoiden in der Kulturschale übertragen. Zentral für den experimentellen Ansatz sind sehr präzise eingesetzte modernste Verfahren der Genetik, mit deren Hilfe zu einem gewünschten Zeitpunkt die treibende Mutation im EGFR in den meisten Zellen der Atemwege gleichzeitig eingeführt werden kann. Obwohl diese Mutation im Gegensatz zu der Situation im Menschen in fast allen Zellen vorliegt, kommt es innerhalb des Beobachtungszeitraums von zehn Wochen nur zu wenigen im Mikroskop sichtbaren frühen Tumorformen. Die Behandlung dieser genetisch bereits veränderten Tiere mit PM2.5 über drei Wochen führt zu einer signifikanten Zunahme dieser im Mikroskop nachweisbaren frühen Tumorformen. Dabei würde PM2.5 ohne die vorherige Einführung der Mutation im EGFR-Gen keine Tumore auslösen.“

„Die Reihe der folgenden Experimente belegt,

- dass die PM2.5-Behandlung keine weiteren Mutationen induziert,
- dass das Immunsystem für die Entwicklung der frühen Tumorformen notwendig ist,
- dass sich nach PM2.5-Exposition Immun- beziehungsweise Entzündungszellen in der Lunge sammeln,
- dass es nach PM2.5-Exposition zu einer gegenseitigen Beeinflussung von Lungen- und Immunzellen durch Botenstoffe im Sinn einer entzündlichen Reaktion kommt,
- und dass zumindest einer dieser Botenstoffe, das Interleukin-1β, für die Ausbildung der frühen Tumorformen notwendig ist.“

„Der dritte Ansatz der Publikation geht der Frage nach, ob die in den Modellsystemen beobachteten Prinzipien auch im Menschen vorkommen können. Dabei können natürlich keine experimentellen Mutationen ausgelöst werden. Möglich waren aber Analysen, die zeigen, ob es auch im gesunden menschlichen Lungengewebe vorbestehende kritische Mutationen im EGFR-Gen oder weiteren für die Entwicklung von Lungenkrebs kritischen Genen gibt. Solche Mutationen konnten in der Tat in mehr als der Hälfte der untersuchten Proben gefunden werden und deren Häufigkeit war mit dem Lebensalter der Studienteilnehmer korreliert.“

Zusammenfassend liefert die aktuelle Studie starke Argumente dafür, dass die Belastung mit PM2.5 mit der normalen Atemluft die Entstehung von Lungenkarzinomen fördern kann – wenn auch in geringerem Ausmaß, als dies ein Teil der Bevölkerung durch Zigarettenkonsum für sich selbst in Kauf nimmt. Darauf gründen die Autoren ihre Mahnung, weiter für die Reduktion von Luftschadstoffen im urbanen Raum Sorge zu tragen. Ob die Studie und das entwickelte mechanistische Verständnis Ansätze liefern könnte, Menschen durch Lebensstilfaktoren, Nahrungsmittelergänzungen oder gar Medikamente vor der hier beschriebenen Wirkung von Partikeln zu schützen, mag die Zukunft zeigen. Es scheint jedoch schwer vorstellbar, viele Menschen präventiv über Jahre oder Jahrzehnte zu behandeln, um das Auftreten weniger Fälle von Lungenkarzinomen zu verhindern. Die Studie liefert aber zusätzlich zu der grundsätzlichen Forderung nach Reduktion von Belastungen noch den weiteren wichtigen Hinweis, dass es ein plausibles Ziel geben kann, wie weit die Belastung mit PM2.5 reduzieren werden sollte, beziehungsweise wieviel PM2.5 in der Luft mit Blick auf die Förderung der Tumorentstehung nicht mehr von Bedeutung und tolerabel wäre. Wenn die Wirkung über die Auslösung von Mutationen durch PM2.5 vermittelt wäre, dann würde man fordern, so weit wie möglich zu reduzieren, weil jede einzelne zusätzliche Mutation die entscheidende sein könnte, die am Ende die Entstehung eines Tumors in Gang setzt – wenn auch mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit. Hier wird aber ein anderes Wirkprinzip nachgewiesen, das von PM2.5-induzierten Entzündungsreaktionen abhängt und nicht selbst zu Mutationen führt. Für solche Wirkprinzipien kann man annehmen, dass es eine niedrige Dosis gibt, ab der der Schadstoff keine biologisch relevante Wirkung mehr hat: Wenn keine Entzündungsreaktionen mehr ausgelöst werden, dann sollte nach den in der aktuellen Studie vorgestellten Ergebnissen auch die Entwicklung von vorbestehenden Mutationen zur Tumorerkrankung nicht in Gang kommen. Der Vergleich der Kohorten dieser Studie aus England, Südkorea und Taiwan (Abbildung 1) legt nahe, dass die im Vergleich niedrigen Belastungen in England schon nahe an einer tolerablen Grenze liegen könnten – zumindest mit Blick auf die Förderung der Entstehung von Lungenkarzinomen bei Menschen, die nie geraucht haben. In Deutschland lagen die Jahresmittelwerte 2022 für PM2.5 zwischen 5,2 und 15 µg/m³ je nach Messstation [1]. Damit lagen sie unter dem derzeit gültigen Grenzwert und in dem Bereich, der auch für die englische Kohorte gemessen wurde.“

„Offen ist, wie die Ergebnisse der aktuellen Studie auf genetisch andere Arten von Lungentumoren übertragbar sein werden und ob sich Ansätze zum weiteren Verständnis anderer durch Feinstaub geförderte Erkrankungen ergeben werden. Spannend wird sein, wie die hier vorgestellten Ergebnisse Eingang in das Regelwerk zur Luftreinhaltung finden werden – sowohl mit der Mahnung zur Reduktion als auch mit begründeten Konzepten zur Festlegung noch tolerabler Partikelmengen, die zu niedrig sind, um Entzündungsreaktionen auszulösen, und damit auch keine relevante Wirkung auf die menschliche Gesundheit mehr haben sollten.“

Hintergrundinformationen zum Zusammenhang von Schadstoffen und Tumorentstehung:
Konzeptionell baut die Studie auf grundlegend akzeptierten Zusammenhängen bei der Entstehung von Tumoren und der Wirkung von Schadstoffen auf die Tumorentstehung auf. Ein zentrales Prinzip bei der Entwicklung von normalen Zellen zu Tumorzellen ist die Veränderung (Mutation) in Genen, die die Ausbildung und Aufrechterhaltung des ‚richtigen Verhaltens‘ von Zellen kontrollieren. Dabei reicht in aller Regel die Mutation in einem Gen nicht aus, sondern es müssen mehrere Mutationen in bestimmten Genen in einer Zelle zusammenkommen, damit eine Tumorerkrankung entstehen kann. Mutationen können spontan entstehen, ohne dass man dafür einen äußeren Einfluss verantwortlich machen könnte. Manche tumorfördernden Mutationen oder Genvarianten werden durch Vererbung weitergegeben und die Entstehung neuer Mutationen kann durch Schadstoffe mit bestimmten chemischen Eigenschaften oder ionisierende Strahlung ausgelöst werden. Die allermeisten Mutationen sind für die Funktion einer Zelle nicht von erkennbarer Bedeutung oder führen gar zu einem Nachteil, so dass die betroffenen Zellen verloren gehen. Nur in seltenen Fällen führt eine Mutation zu einem Vorteil einer Zelle in Richtung unbegrenztem Wachstum, Überleben und Tumorbildung. Auf Grund des Vorteils können aber genau diese Zellen im Lauf des Lebens selektioniert und angesammelt werden. Wenn dann in solchen Zellen weitere Mutationen hinzukommen, dann können Kombinationen entstehen, die aus einer normalen Zelle die Ausgangszelle für eine Tumorerkrankung werden lassen. Insgesamt mag die Kombination der kritischen Mutationen als eher unwahrscheinliches Ereignis erscheinen. Die Beobachtung zeigt jedoch, dass bei etwa einem Drittel der Menschen im Lauf des Lebens zumindest einmal eine Kombination entsteht, die die Ausbildung einer Tumorerkrankung ermöglicht.“

„Neben der Auslösung von Mutationen als treibende Kraft für die Tumorentstehung kennt man schon seit etwa 70 Jahren ein zweites Wirkprinzip von Schadstoffen, das die Tumorentstehung fördert, ohne selbst Mutationen auszulösen. Zusammenfassend wurde dieses Prinzip ‚Tumorpromotion‘ genannt. Molekular fasst ,Tumorpromotion‘ eine Vielzahl von Wirkungen zusammen, die in irgendeiner Form Zellen in Richtung der Eigenschaften von Tumorzellen verändern, ohne selbst Mutationen auszulösen. Zu solchen Wirkprinzipien gehören hormonartige Wirkungen von körperfremden Stoffen oder überdosierten körpereigenen Stoffen, Förderung von Entzündungsprozessen, Unterdrückung der Elimination von Tumorvorstufen durch das Immunsystem oder chronische Zellschädigung mit folgendem verstärktem Wachstum der verbliebenen Zellen – aber eben nicht die Auslösung von Mutationen im Erbgut.“

„Wichtig ist die Unterscheidung zwischen mutagenen und promovierenden Wirkprinzipien für die Ableitung von Beziehungen zwischen der Dosis eines Schadstoffes und der erwarteten Wirkung auf die Tumorentstehung. Die meisten Wissenschaftler nehmen für mutagene Wirkungen an, dass selbst sehr wenige zusätzliche Mutationen die Wahrscheinlichkeit für die Tumorentstehung erhöhen können – wenn auch nur sehr wenig. Diese geringe Erhöhung mag im Kontext allgemeiner Lebensrisiken vernachlässigbar sein, aber biologisch sprechen die meisten Argumente dafür, dass von zusätzlichen mutagenen Belastungen auch eine Erhöhung der Tumorrate zu erwarten ist, die umso geringer ausfällt, je kleiner die zusätzliche mutagene Belastung ist. Bei tumorpromovierenden Wirkprinzipien sprechen viele Argumente dafür, dass wiederholte und/oder langfristige Einwirkungen oberhalb einer jeweils spezifischen Schwelle nötig sind, um den tumorpromovierenden Effekt auszulösen. Im Umkehrschluss werden oft Grenzwerte für die Exposition gegenüber einem tumorpromovierenden Stoff oder Prinzip abgeleitet, unterhalb derer keine relevante Auslösung der jeweils relevanten biologischen Wirkung und damit auch keine Förderung der Tumorentstehung zu erwarten ist.“

Prof. Dr. Petros Christopoulos

Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie in der Thoraxklinik, Universitätsklinikum Heidelberg, und Arbeitsgruppenleiter am Deutschen Zentrum für Lungenforschung (DZL), Heidelberg

„Die Autoren belegen die Übertragbarkeit der anhand von Mausmodellen gewonnenen mechanistischen Erkenntnisse auf die Pathogenese menschlicher Lungenkarzinome erstens durch die weltweite epidemiologische Korrelation zwischen Lungenkrebsinzidenz und Exposition gegenüber alveolengängigem (bis in die Lungenbläschen eindringend; Anm. d. Red) Feinstaub (PM2.5); zweitens durch die Hochregulation mehrerer identischer Gene im Lungenepithel von Menschen und Mäusen nach Exposition gegenüber PM2.5; sowie drittens durch die Reduktion der Lungenkrebsinzidenz durch eine medikamentöse Interleukin-1β-Blockade sowohl in Mausmodellen als auch in der CANTOS klinischen Studie [2]. Gemäß den vorgestellten epidemiologischen Analysen wird die Entstehung von weiteren Tumoren inklusive Mesotheliomen (Tumor des Weichteilgewebes; Anm. d. Red.), Oropharynxkarzinomen (Mundrachenkrebs; Anm. d. Red.) und Lippenkarzinomen möglicherweise ebenfalls durch die Feinstaub-Exposition begünstigt. Allerdings bleibt unklar, welche Rolle die identifizierten Mechanismen für die Pathogenese nicht-neoplastischer (nicht neubildender; Anm. d. Red.) Lungenerkrankungen haben könnten.“

„Die Autoren zeigen anhand von umfassenden epidemiologischen und tierexperimentellen Daten, dass die Lungenkanzerogenese durch Feinstaub dosisabhängig mit einer linearen Auswirkung begünstigt wird. Die Schwelle ist offenbar relativ gering, weil selbst eine drei Jahre lange Feinstaub-Exposition für die Entwicklung von EGFR-mutiertem Lungenkrebs auszureichen scheint. Strenge Richtwertgrenzen für Feinstaub könnten diese Effekte minimieren und jedes Jahr Tausende von Lungenkarzinomfällen weltweit verhindern, insbesondere in Regionen mit einer stärkeren Luftverschmutzung.“

„Eine Therapie mit einem Interleukin-1β-Antikörper konnte sowohl in tierexperimentellen Modellen als auch im Rahmen der CANTOS klinischen Studie die Entstehung von Lungenkarzinomen verhindern. Allerdings ist es aktuell zu früh, um die systematische Anwendung einer solchen Therapie für die Allgemeinbevölkerung in Betracht zu ziehen: Einerseits müsste der klinische Nutzen dieser Intervention gemäß vordefinierten Einschlusskriterien prospektiv belegt werden, bevor eine Zulassung erteilt werden kann, beziehungsweise bevor die möglichen Risiken und hohen Kosten verantwortet werden können. Andererseits bestehen neben Interleukin-1β-abhängigen Effekten möglicherweise auch weitere Mechanismen der Feinstaub-bedingten Lungenkrebspromotion, so dass eine Interleukin-1β-Blockade alleine vermutlich weniger effektiv wäre als die Einführung strengerer Richtwertgrenzen für Feinstaub. Aktuell ist eine strengere Regulation der Feinstaub-Belastung die wichtigste praktische Konsequenz aus den Ergebnissen dieser bahnbrechenden Arbeit.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Martin Göttlicher: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Petros Christopoulos: „Interessenkonflikte habe ich hierfür keine.“

Primärquelle

Hill W et al. (2023): Lung adenocarcinoma promotion by air pollutants. Nature. DOI: 10.1038/s41586-023-05874-3.

Weiterführende Recherchequellen

Science Media Centre (2023): expert reaction to study looking at how air pollution might promote some lung cancers. Roundup. Stand: 05.04.2023.

Science Media Center (2022): EU-Kommission schlägt neue Grenzwerte für Luftschadstoffe vor. Research in Context. Stand: 26.10.2022.

Osterweil N (22.09.2022): Luftverschmutzung kann auf direktem Weg Lungenkrebs verursachen – aber auf eine etwas unerwartete Weise. Medscape.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Umweltbundesamt. Luftdaten. Stand: 30.01.2023.

[2] Ridker PM et al. (2017): Effect of interleukin-1β inhibition with canakinumab on incident lung cancer in patients with atherosclerosis: exploratory results from a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(17)32247-X.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Raaschou-Nielsen O et al. (2013): Air pollution and lung cancer incidence in 17 European cohorts: prospective analyses from the European Study of Cohorts for Air Pollution Effects (ESCAPE). Lancet Oncology. DOI: 10.1016/S1470-2045(13)70279-1.

[II] Yu P et al. (2022): Associations between long-term exposure to PM2.5 and site-specific cancer mortality: A nationwide study in Brazil between 2010 and 2018. Environmental Pollution. DOI: 10.1016/j.envpol.2022.119070.

[III] Chapman AM et al. (2016): Lung cancer mutation profile of EGFR, ALK, and KRAS: Meta-analysis and comparison of never and ever smokers. Lung Cancer. DOI: 10.1016/j.lungcan.2016.10.010.