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12.09.2022

Wie kann der Strompreis am sinnvollsten begrenzt werden?

     

  • EU-Kommission plant Notfallmaßnahmen gegen hohe Strompreise
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  • „Zufallsgewinne“ von Kraftwerksbetreibern dürften offenbar demnächst „abgeschöpft“ werden, um mit dem Geld Verbraucher zu entlasten
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  • Forschende: Abschöpfen greift am wenigsten in den Strommarkt ein, weitere Maßnahmen wie Basisstrompreis sinnvoll, darf aber nicht zu Verschwendung einladen
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Angesichts der stark gestiegenen Strompreise plant die EU-Kommission, auch für Strom Notfallmaßnahmen zu ergreifen. Diese sollen einen weiteren Preisanstieg begrenzen und Geld für die Entlastung von Verbrauchern bereitstellen. Dafür könnten unter anderem „Zufallsgewinne“ von Stromerzeugern abgeschöpft werden und das Stromsparen gezielt gefördert, um Verbrauchsspitzen zu senken. Die rechtliche Grundlage soll Presseberichten zufolge am 13.9.2022, vorgestellt werden.

Der Strompreis ist in den vergangenen Wochen vor allem deshalb stark gestiegen, weil an den Strombörsen die Preise für eine Kilowattstunde durch das teuerste Kraftwerk gesetzt werden, das gebraucht wird, um den Strombedarf zu decken. Da das vor allem in Spitzenzeiten Gaskraftwerke sind und Gaspreise derzeit stark gestiegen sind, ist auch der Strompreis stark gestiegen.

Das liegt auch daran, dass alle Stromerzeuger den gleichen an der Börse entstandenen Preis erhalten – auch die, die ihren Strom für deutlich weniger Geld angeboten haben. Deren Gewinne sind im Schatten der Gaspreise stark gestiegen, sie werden daher als „Zufallsgewinne“ bezeichnet und vor allem von Atom-, Kohle- und auch Windkraft- wie Solaranlagenbetreibern – sofern diese am Markt selbst teilnehmen – eingefahren.

Auch die Bundesregierung hatte in ihrem dritten Entlastungspaket angekündigt, dieses Geld „abschöpfen“ zu wollen. Unter anderem könnte das Geld genutzt werden, um die Verbraucher durch die Finanzierung eines „Basisbedarfs“ zu entlasten. Auf lange Sicht plant die Bundesregierung, den Gaspreis vom Strompreis zu entkoppeln.

Wir haben Forschende gefragt, wie diese Maßnahmen zur Entlastung von Stromverbrauchern konkret ausgestaltet und schnell eingeführt werden können.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Lion Hirth, Professor für Energiepolitik, Kompetenzzentrum für Nachhaltigkeit, Hertie School, und Research Fellow am Mercator Institute on Global Commons and Climate Change,Geschäftsführer der Beratungsfirma Neon, Berlin
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  • Prof. Dr. Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin in der Abteilung „Energie, Verkehr und Umwelt“, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin
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  • Prof. Dr. Uwe Leprich, Dozent für Ökonomische/Wirtschaftspolitische Nachhaltigkeitsstrategien, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, und ehemaliger Abteilungsleiter für Klimaschutz und Energie des Umweltbundesamtes
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  • Prof. Dr. Erik Gawel, Leiter des Departments Ökonomie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig, und Direktor des Instituts für Infrastruktur- und Ressourcenmanagement der Universität Leipzig
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  • Dr. Felix Christian Matthes, Forschungskoordinator Energie- und Klimapolitik in der Abteilung Energie und Klimaschutz, Öko-Institut e.V., Berlin
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  • Dr. Martin Weibelzahl, Fachbereichsleiter am Kern­kompetenz­zentrum Finanz-­ & Informations­management und Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik, Bayreuth
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Statements

Prof. Dr. Lion Hirth

Professor für Energiepolitik, Kompetenzzentrum für Nachhaltigkeit, Hertie School, und Research Fellow am Mercator Institute on Global Commons and Climate Change,Geschäftsführer der Beratungsfirma Neon, Berlin

„Unabhängig davon, wie genau man den Basisverbrauch festlegt, ist das Wichtigste: Energiesparen muss sich weiter finanziell lohnen. Wir müssen die Spar-Anreize erhalten oder im besten Fall noch verstärken. Wie man es auf keinen Fall machen sollte, sieht man in Österreich: Dort ist im Ergebnis der Strompreis für fast die Hälfte der Menschen auf 10 Cent gedeckelt – das ist etwa 90 Prozent unter den realen Preisen! Das ist eine Einladung zur Energieverschwendung auf Staatskosten. Außerdem gefährdet das die Stabilität der Stromnetze, weil Menschen von Gas- auf Stromheizungen ausweichen könnten.“

„Eine Deckelung von Strom- oder Gaspreisen auf dem Großhandelsmarkt wäre fatal. Von allen diskutierten Optionen ist dies die schlechteste.“

Prof. Dr. Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung „Energie, Verkehr und Umwelt“, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin

„Ich sehe eine Strompreisbremse sehr kritisch. Wir haben derzeit eine Strom-Krise in Europa. Ausgelöst vor allem durch die Tatsache, dass in Frankreich über die Hälfte der Atomkraftwerke nicht am Netz sind – aus technischen Gründen und aufgrund des Klimawandels. Der Klimawandel führt zusätzlich dazu, dass ebenso viele Kohlekraftwerke Probleme haben, aber auch die Wasserkraftwerke weniger als geplant Strom produzieren.“

„Eine Deckelung des Strompreises kann die Krise verstärken, indem der Stromverbrauch subventioniert wird. Es gäbe unzureichende Anreize zum Stromsparen. Besser wäre, das Stromsparen zu subventionieren, und betroffene Haushalte und Unternehmen direkt zu entlasten. Nicht Preise müssen gedeckelt werden, sondern Kosten.“

„Zufallsgewinne abzuschöpfen kann sinnvoll sein, wenn damit nicht Unternehmen, die in Zukunftsmärkte investieren, belastet werden. Dies kann beispielsweise durch eine Umlage oder eine Abgabe passieren.“ Die Einnahmen sollten zielgerichtet an betroffene Unternehmen und Haushalte rückerstattet werden. Eindeutiger Nachteil kann sein, dass Unternehmen zu sehr belastet werden und ihnen die Spielräume für Investitionen fehlen. Daher wäre es sinnvoll, dass nur solche Zufallsgewinne besteuert werden, die nicht in Zukunftsinvestitionen fließen sollen.“

Auf die Frage, wie das Strommarktdesign mittelfristig weiterentwickelt werden könnte:
„Erneuerbare Energien müssen schnell und überall ausgebaut werden. Das Strommarktdesign muss in der Lage sein, den notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien zu gewährleisten. Das bisherige Strommarktdesign ist insbesondere auf fossile Energieträger ausgerichtet. Erneuerbare Energien senken den Strombörsenpreis.“

„Das zukünftige Strommarktdesign muss für eine/die Flexibilisierung von Stromangebot und –nachfrage sorgen und eine stärkere Systemverantwortung von Erneuerbaren Energien hervorbringen. Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien kommt es auch auf Stromspeicher, Lastmanagement und eine dezentrale intelligente Netzinfrastruktur an. Wir benötigen einen Markt für alle Flexibilitätsoptionen im Strommarkt. Die Reform des Strommarktdesigns sollte in Europa erfolgen, Alleingänge einzelner Länder sind kontraproduktiv.“

Prof. Dr. Uwe Leprich

Dozent für Ökonomische/Wirtschaftspolitische Nachhaltigkeitsstrategien, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, und ehemaliger Abteilungsleiter für Klimaschutz und Energie des Umweltbundesamtes

Auf die Frage, wie ein Basisverbrauch für Strom sinnvoll festgelegt werden kann:
„Gefordert ist hier eine pragmatische und schnell umsetzbare Lösung, wie sie beispielsweise das österreichische Kabinett in der letzten Woche beschlossen hat: Ab 1. Dezember 2022 bereits sollen Haushaltskunden für den Bezug von jährlich 2.900 kWh nur noch 10 Cent pro Kilowattstunde zahlen. Das entspricht rund 80 Prozent des durchschnittlichen Jahresstromverbrauchs von allen Haushaltskunden.“

„Für Deutschland würde sich im Bereich der Haushaltskunden ein gedeckelter Preis von 30 Cent pro Kilowattstunde anbieten, der sich an den stabilen Preis in der Vor-Corona-Zeit anlehnt. Um einen Sparanreiz zu erhalten, würde sich – ähnlich wie in Österreich – ein Prozentsatz des üblichen Durchschnittsverbrauchs anbieten, allerdings nach Haushaltsgrößen gestaffelt. Legt man hier ebenfalls 80 Prozent und die bekannten Durchschnittsverbräuche der Haushalte zugrunde, ergibt sich folgender Basisverbrauch im Haushaltsbereich: eine Person – 1200 kWh im Jahr, zwei Personen – 2000 kWh im Jahr, drei Personen – 2800 kWh im Jahr, vier Personen und mehr – 3400 kWh im Jahr.“

„Da der Gewerbebereich sehr heterogen ist und beim Stromverbrauch je nach Branche sehr differiert, sollte man sich hüten, hier zu differenziert und damit maximal bürokratisch heranzugehen. Vorstellbar wäre, die Deckelung eines Verbrauchs bis 30.000 kWh auf 30 Cent pro kWh, da bis zu diesem Verbrauch die Strompreise häufig denen der Haushaltskunden entsprechen.“

„Die Deckelungen könnten ohne weiteres zum 1. Dezember 2022 in Kraft treten, wenn das politische Tempo ähnlich hoch ist wie bei den Pandemie-Maßnahmen.“

Auf die Frage, welche Vorschläge der EU zur Deckelung der Strompreise sinnvoll sind:
„Die hohen Strompreise begründen sich derzeit insbesondere durch die hohen Erdgas- und Steinkohlepreise, da die entsprechenden Kraftwerke als letzte noch benötigte Kraftwerke in der Einsatzreihenfolge – ‚Grenzkraftwerke in der Merit Order‘ – den einheitlichen Preis für alle Anbieter setzen. Das von der EU favorisierte Verfahren, nämlich allen Stromerzeugern mit unverändert niedrigen variablen Kosten die leistungslosen ‚Zufallsgewinne‘ wieder abzuknöpfen, ist daher stringent und ordnungspolitisch unbedingt geboten.“

„Das betrifft in Deutschland in erster Linie die Betreiber der Braunkohle- und der restlichen drei Atomkraftwerke, aber auch diejenigen Anlagenbetreiber der Erneuerbaren Energien, die sich direkt oder indirekt an der Strombörse vermarkten. Die Differenz zwischen den Börsenpreisen und den eigenen variablen Kosten – Brennstoff- plus CO2-Kosten – beziehungsweise den in den Ausschreibungen erzielten Vergütungen – bei den Erneuerbaren – lässt sich leicht und transparent ermitteln und abschöpfen.“

„Auch wenn die EU ihre Vorschläge oftmals mit einer naiven Markt-Prosa hinterlegt und die Sicherung der Existenz ‚unverzerrter‘ Märkte als Selbstzweck ansieht, ist der hier favorisierte Vorschlag insbesondere unter Gerechtigkeits- und Praktikabilitätsgründen sinnvoll und sollte möglichst rasch als verbindliche europaweite Vorschrift verabschiedet werden.“

Auf die Frage, wie das Strommarktdesign mittelfristig weiterentwickelt werden könnte:
„Wenn man mit ‚Strommarktdesign‘ auf die Strombörse fokussiert – also die ‚Sektor-Design‘-Themen Stromnetze, Versorgungssicherheit, Ausschreibungen der Erneuerbaren Energien etc. ausklammert – geht es in erster Linie um die Frage, ob künftig auf der Grundlage des Börsenpreissignals ausreichend in neue flexible Kapazitäten zur Flankierung der dargebotsabhängigen Wind- und Solaranlagen investiert wird. Sollte dies nicht der Fall sein, ist die Versorgungssicherheit zweifellos gefährdet.“

„Während insbesondere ‚Lehrbuch‘-Ökonomen davon überzeugt sind, dass die Strombörse dies leisten wird, werden erfahrungsgemäß die verantwortlichen Politiker alles dafür tun, die ‚Hosenträger um den Gürtel‘ zu ergänzen – um den früheren Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel zu zitieren. Eine vergleichsweise sichere und praktikable Lösung könnte darin bestehen, den Übertragungsnetzbetreibern als Regelzonen-Verantwortliche die zusätzliche Kompetenz einzuräumen, die absehbar notwendigen Flexibilitäts-Kapazitäten über Ausschreibungen zu akquirieren und die Kosten in den Netzentgelten weiterzugeben. Die Strombörse wäre dann lediglich noch ein ‚Zubrot‘-Markt für alle Ausschreibungsgewinner.“

Prof. Dr. Erik Gawel

Leiter des Departments Ökonomie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig, und Direktor des Instituts für Infrastruktur- und Ressourcenmanagement der Universität Leipzig

„Um die Belastung aus hohen Strompreisen zu senken, kommen grundsätzlich verschiedene Ansatzpunkte in Betracht. (Stromausgaben können und sollten immer auch durch eigenverantwortliche Reduzierung des Stromverbrauchs gesenkt werden):“

„Erstens: Maßnahmen auf dem – deutschen – Großhandels-Strommarkt (Kraftwerkseinsatz), um den dortigen Großhandels-Preis zu reduzieren. Dies kann auf der Angebotsseite geschehen – zusätzliche Einspeisung durch Erneuerbare und Kohle gleich mehr Angebot aus ‚günstiger‘ Produktion –, aber auch auf der Nachfrageseite – Stromeinsparung und Energieeffizienz beim Stromverbrauch). Die Maßnahmen müssen europäisch koordiniert sein, um nicht preistreibende Zusatznachfrage aus dem Ausland ‚anzulocken‘, wenn der deutsche Großhandelspreis unter das Niveau europäischer Nachbarmärkte sinkt.“

„Zweitens: Maßnahmen auf Endkunden-Märkten zur Preisdeckelung. Um die Differenz aus den (derzeit hohen) Bereitstellungskosten der Stromversorger einerseits und gegebenenfalls künftig gedeckelten Erlösen andererseits auszugleichen, müssen Finanzierungsinstrumente her. In der Diskussion ist hier die Mobilisierung von ‚Zufallsgewinnen‘ bestimmter Stromproduzenten.“

„Der typische Dreiklang lautet folgerichtig: Marktpreise dämpfen, ‚Zufallsgewinne‘ abschöpfen und Endkundenpreise deckeln. Dies findet sich sowohl im Papier des Koalitionsausschusses als auch im Statement der EU-Energieminister.“

„Jeder staatliche Eingriff in Strommärkte hat allerdings Folgeeffekte, die immer mitzudenken sind. Dabei ist von folgenden Zusammenhängen auszugehen:“

„Erstens: Aus guten Gründen ist die Stromproduktion privatwirtschaftlich organisiert; dies sollte so auch bleiben. Wer als privater Produzent ‚freiwillig‘ Strom zur Verfügung stellen soll, muss aber seine Kosten gedeckt sehen.“

„Zweitens: Aus guten Gründen sind die Kraftwerksmärkte europäisch gekoppelt. Daher haben Mangellagen und Preisunterscheide grenzüberschreitende Strombezugseffekte.“

„Drittens: Zugleich müssen Preise gerade in besonderen Knappheitssituationen diese Knappheit anzeigen und Veranlassung zu Anpassungen geben – mehr Kraftwerks-Angebot, weniger Strom-Nachfrage – welche die Gesamtsituation im Interesse aller gerade entspannen.“

„Viertens: Entlastungseingriffe sind auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu bewerten. Wer soll wie stark und wie lange wodurch genau entlastet werden?“

„Fünftens: Für alle Maßnahmen müssen die rechtlichen Befugnisse vorliegen, die ökonomischen Folgeeffekte vertretbar sein und die zur Durchführung nötigen Informationen vorliegen.“

Der Staat kann – vergleichsweise einfach – in die Preisbildung auf deutschen Endkundenmärkten ‚deckelnd‘ eingreifen. Er muss dabei folgende Punkte beantworten: Denn da den Stromversorgern so Erlöse ausfallen, müssen diese aus irgendeiner Quelle kompensiert werden. Das Modell sollte zudem einfach und unbürokratisch sein. Darüber hinaus sollen Strompreise unbedingt auch die ökonomische und ökologische Wahrheit sagen und zu Einsparungen Anlass geben. Deckelungen beschränken diese Anreizfunktion oder heben sie sogar auf. Und schließlich werden Endkunden je nach Deckelungsmodell in unterschiedlichem Ausmaß Preisvorteile zugewendet. Der genaue Zuschnitt entscheidet daher auch über die Gerechtigkeitsfrage.“

„Ein vertretbarer Kompromiss besteht darin, einen zu definierenden Grundbedarf preislich zu deckeln. Dies erhält Anreize zur Minderung des Stromverbrauchs – Grenzverbrauch zu ‚ungedeckelten‘ Normalpreisen –) und begrenzt gleichzeitig den Kompensationsbedarf für Stromversorger.“

„Die auszuwählende Reichweite wirft aber schwierige Gestaltungsfragen auf: Sollen auch Unternehmen entlastet werden? Auch Spitzenverdiener? Auch Zweit- und Drittwohnungen? – ebenso wie die konkrete Bemessung des Basisbedarfs: Pro Kopf? Nach historischem Verbrauch? Pro Haushalt?).“

„Am einfachsten umzusetzen wäre ein Modell, das ausschließlich im bestehenden Vertragsverhältnis zwischen Endkunden und Stromversorger realisiert werden kann, ohne eine staatliche Antrags- und Ausgleichsbürokratie zu benötigen. Der Stromversorger kennt jedoch nicht die Haushaltsgröße oder Haushaltszusammensetzung oder die Zahl der von einer Peron unterhaltenen Wohnungen. Es könnten daher im einfachsten Falle X Prozent – zum Beispiel 80 Prozent – des Durchschnittsverbrauchs der vergangenen drei Jahre mit einem reduzierten Basispreis berechnet werden.“

„Wie der Durchschnittsverbrauch zu ermitteln wäre, ist ebenfalls nicht selbsterklärend: Der eigene Verbrauchsdurchschnitt honorierte Verschwendung in der Vergangenheit und bestrafte Energie-Einsparer. Ein Normdurchschnitt wäre insoweit gerechter, allerdings ist dann zu klären, wer für diese Durchschnittsbildung in Betracht kommt (vergleichbare Haushaltsgröße?) und woher die Daten stammen, um sie von einem Stromversorger für die Stromrechnung rechtssicher zugrunde zu legen.“

„In jedem Modell werden aber zum Teil gravierende Gerechtigkeitslücken auftreten – je nach Haushaltszusammensetzung, früheren Einsparbemühungen versus früherer ‚Verschwendung‘ von Haushalten, Begünstigungen von Hochverdienern, Doppelbegünstigung bei Zweitwohnungen, Abgrenzungen im Unternehmenssektor – das Koalitions-Papier nennt hier: ‚kleine und mittelständische Unternehmen mit Versorgertarif‘– und so weiter. Die gerechte Organisation einer solchen Preis-Schonung ist daher im Ansatz und in der Umsetzung schwierig und politisch heikel.“

„Der Zielkonflikt zwischen Schnelligkeit und Einfachheit einerseits und ausgefeilter Berücksichtigung des ‚wahren Entlastungs-Bedarfs‘ andererseits – vergleichbar mit der Kritik an der Energie-Pauschale von 300 Euro brutto für zunächst jeden Arbeitnehmer – muss insoweit gelöst und politisch vertreten werden. Hier kommt vermutlich ein einfaches und informationsschlankes, aber nicht vollendet gerechtes Modell in Frage.“

„Komplizierter ist die Frage zu lösen, woher die Mittel stammen sollen, die der Staat den Stromversorgern verschaffen muss, um die Erlösausfälle zu kompensieren.“

Auf dem Großhandelsmarkt werden zunächst gar keine ‚Gewinne‘ sichtbar. Gewinne wären Gesamterlöse minus Gesamtkosten einschließlich der Fixkosten; der Markt offenbart nur Grenzkosten und Grenz- beziehungsweise Stückerlöse, Preis pro Kilowattstunde. Richtigerweise spricht daher das Koalitionspapier auch von einer Erlösdeckelung.“

„Durch staatlichen Preiseingriff könnte der Erlös für Kraftwerke auf dem Großhandelsmarkt gedeckelt werden. Dies ist aber nicht einfach und auch nicht folgenlos machbar.“

„Wird der (einheitliche) Markt-Strompreis insgesamt unter dem Gleichgewichtspreis gedeckelt, müssen Kraftwerke mit höheren Grenzkosten mangels ausreichender Vergütung ausscheiden: Die Stromnachfrage könnte nicht voll gedeckt werden. Zudem vermindern sich die Anreize zur Reduzierung der Nachfrage.“

„Ersatzweise könnte erwogen werden, verschiedene Strompreise vorzusehen: Die zur vollen Nachfragedeckung benötigten teuersten Kraftwerke werden zu ihren (hohen) Grenzkosten entlohnt, die günstigeren Anbieter erhalten einen oder mehrere gestaffelte niedrigere Preise. In einem homogenen Markt – Strom wird nicht differenziert – die hier eigentlich wesensfremden Preisdifferenzierungen einzuführen, hat zahlreiche problematische Effekte. Wie genau diese Preisdifferenzierung aussehen soll und wo die Erlösgrenze für die ‚günstigen‘ Kraftwerke liegen soll, lässt sich dabei nicht ‚natürlich‘ herleiten. Ein alternatives Auktionsmodell, bei dem jeder Anbieter zu seinem Gebot entlohnt wird – ‚pay as bid‘ statt derzeit ‚pay as clear‘ – wird nicht mehr zu Grenzkostengeboten möglich sein – Erneuerbare müssten dann zur Vollkostendeckung mehr fordern – und hat im Übrigen mit Herausforderungen strategischen Verhaltens zu kämpfen.“

„Hier ist also zunächst das grundlegende Verfahren entscheidend: Eine Deckelung lässt die Übergewinne in bestimmtem Umfang gar nicht erst anfallen; eine Abschöpfung setzt ihr Entstehen aber zunächst voraus – und muss anschließend mit dem Abgeschöpften auch ‚umgehen‘, also rechtssichere Lösung für Einzug, Verwaltung und Auskehrung der Mittel finden.“

„Abschöpfung hätte aber den Vorteil, die Preisbildung und den sinnvollen Marktmechanismus nicht zu stören. Hier könnte eine Zwangsumlage in Betracht kommen. Die Zwangsumlage belässt den Stromproduzenten ihren Markterlös, verpflichtet sie aber, einen bestimmten Betrag per Umlage zum Beispiel an den Netzbetreiber abzuführen. Aus diesem ‚Topf‘ ließen sich Stromversorger kompensieren, die Einnahmeausfälle aus dem Modell ‚Basistarif‘ (dazu oben) ausgleichen wollen. Dies könnte als die ‚umgekehrte EEG-Umlage‘ verstanden werden, die im Koalitionspapier erwähnt ist.“

„Wer und wieviel genau über die Zwangsumlage einzahlen muss, ist aber wiederum nicht ganz einfach zu bestimmen – und bliebt auch nicht folgenlos, da in die Erlöse eingegriffen wird.“

„Zum einen gibt es ja einen bestimmten Kompensationsbedarf bei den Stromversorgern, die diese Mittel dann benötigen und zum Ausgleich erhalten sollen. Der ‚Topf‘ muss also ausreichend gefüllt sein und hat schwankende Auszahlungen zu bedienen. Passen Einnahmen und Ausgaben nicht zusammen, muss ein weiterer Ausgleichsmechanismus gefunden werden.“

„Es darf auch nicht ‚zu viel‘ abgeschöpft werden, denn aus den Erlösen müssen auch die im Markt nicht sichtbaren Fixkosten gedeckt werden, die zum Beispiel bei Erneuerbaren anteilig sehr hoch sind. Profitabilitätseinschränkungen sind zudem nicht investitionsförderlich, was dem Gedanken strukturell zuwiderläuft, möglichst viel neues Angebot in den Markt zu bringen. Mindestens könnte eine Abschöpfungsdebatte die Unsicherheit erhöhen und zu unerwünschtem Investitionsattentismus (Attentismus = abwartendes Verhalten, Anm. d. Red) beitragen.“

„Zum anderen kann nicht jede Kilowattstunde gleich zu einer Umlage herangezogen werden, zum Beispiel durch eine für alle einheitliche Umlage von 15 Cent pro Kilowattstunde, da dann erneut Grenzanbieter aus dem Markt ausscheiden müssen. Gleiches gilt für prozentuale Erlösabschöpfung – etwa eine ‚Umlage in Höhe von 20 Prozent des erzielten Erlöses‘.“

„Es müsste also eine (künstliche) Grenze geben: Oberhalb behält man seinen Markterlös, unterhalb wird zum Teil ‚abgeschöpft‘. Für diese Grenze gibt es keinen ‚natürlichen Maßstab‘. Und: Egal wo diese Grenze angesetzt wird, sie hat unerwünschte Effekte – knapp unterhalb der Grenze und auch im gesamten ‚Abschöpfungsbereich‘.“

„Differenzierte Umlagen benötigten immer einen Referenzmaßstab, zum Beispiel wieder den – jetzt imaginären – Preisdeckel: Eine Umlage zahlt nur, wer unter dem Deckel geboten hat, also eine Differenz realisiert. Man kann sich ausmalen, was dieses Design für die Gebote bedeutet, da Anbieter einen Anreiz haben, die Zwangsumlage zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Bislang bestehen im Marktdesign Anreize zu wahrheitsgemäßer Offenbarung der eigenen Grenzkosten und zu deren Minimierung. Die Günstigsten kommen zum Zuge, ihre Vergütung bestimmt sich aber über den teuersten noch benötigten Anbieter. Hängt die Zwangsumlage aber vom Bieterverhalten ab, so hat dies unerwünschte Auswirkungen.“

„In Betracht kämen schließlich auch technologiespezifische Preisdeckel. Auch diese sind keineswegs trivial zu bestimmen und haben (unerwünschte) Folgeeffekte. So schwanken die Grenzkosten der Steinkohle je nach europäischem CO2-Preis, Beschaffungskosten auf dem Weltmarkt und Logistikkosten (Transport auf dem Rhein vs. Bahn). Aus der Frühphase der Erneuerbaren-Förderung ist noch gut in Erinnerung, dass dabei ständige Anpassungen nötig waren zwischen Überförderung und unzureichender Mobilisierung von Erneuerbaren Energien-Angebot.“

„Technologiespezifische Preissetzungen machen umfassende und ständige Markteingriffe nötig und verlagern Preis- und Mengenverantwortung auf einen Stromplanungsstaat, der mit ständigen Forderungen der Kraftwerks-Lobbyisten und Blackout-Drohungen konfrontiert ist und gegenüber den Kraftwerksbetreibern im ‚Informationsschatten‘ steht (asymmetrische Informationsverteilung). Im Markt lohnen sich demgegenüber solche Droh- und Verhandlungs-Manöver über staatlich administrierte Vergütungen gerade nicht.“

„Es muss beachtet werden, dass die Strompreisbildung auf die tagesaktuelle Nachfrage- und die aktuelle Grenzkostensituation der am Markt befindlichen Kraftwerke recht volatil reagiert. Das gesuchte ‚neue Modell‘ kann also nicht starr von den derzeitigen Bedingungen ausgehen, sondern muss auch künftige Marktänderungen robust verarbeiten können. Deshalb sind absolute Preisdeckel schwierig; diese müssten gegebenenfalls nach Marktlage (ständig) angepasst werden.“

„Insgesamt wird klar: Dass an dem ‚konkreten Modell‘ noch gebastelt wird, hat sehr gute Gründe.“

Dr. Felix Christian Matthes

Forschungskoordinator Energie- und Klimapolitik in der Abteilung Energie und Klimaschutz, Öko-Institut e.V., Berlin

„Es geht der Regierung darum, eine vor allem schnell wirksame Entlastungsmaßnahme umzusetzen. Dies wird nur auf Grundlage schnell verfügbarer Daten und existierender administrativer beziehungsweise regulatorischer Infrastrukturen gelingen können. Und schnell verfügbar sind letztlich nur die Verbrauchsdaten je Abnahmestelle. Wenn es also wirklich schnell gehen soll, wird der Basisverbrauch bezogen auf einen Vergleichszeitraum ermittelt werden müssen. Dies wird zu Ungerechtigkeiten und Mitnahmeeffekten führen, das ist aber der Preis schnell wirksamer Preisinterventionen. Die eigentlich notwendigen gezielten Entlastungsmaßnahmen für Härtefälle im Bereich der privaten Haushalte und der Wirtschaft lassen sich über Anpassungen der Endkundenpreise einfach nicht schnell umsetzen. Es wird jedoch in jedem Fall darauf zu achten sein, dass der Hochlauf neuer Klimaschutztechnologien wie elektrische Fahrzeuge oder Wärmepumpen durch Basisverbrauchsmodelle nicht ausgebremst wird.“

„Die eigentlich gebotene Prioritätenreihenfolge für Entlastungsmaßnahmen lautet: Gezielte Kompensationsmaßnahmen, gezielte Entlastungen im Bereich der Endkundenpreise, breite beziehungsweise unspezifische Entlastungen im Bereich der Endkundenpreise, selektive Eingriffe in die Preisbildung am Großhandelsmarkt, grundlegende Eingriffe in die Preisbildung am Großhandelsmarkt.“

„Jenseits der gezielten Kompensationsmaßnahmen können schnell und ohne problematische Ausstrahlungseffekte für die Koordinationsfunktion des Strommarktes Entlastungsmaßnahmen nur über Eingriffe bei den Endkundenpreisen erfolgen. Scheinbar elegante und schnell wirkende Eingriffe im Großhandelsmarkt können zu sehr weitreichenden kontraproduktiven Effekten führen und sollten deshalb insbesondere auf Ad-hoc-Basis vermieden werden.“

„Alle der sinnvoll umsetzbaren Modelle sind administrativ beziehungsweise regulatorisch anspruchsvoll. Wenn es um schnelles Handeln geht, wird das aus der regulatorischen beziehungsweise administrativen Perspektive schnellstmöglich umsetzbare Modell den Vorzug bekommen müssen, auch um den Preis von Mitnahmeeffekten oder Ungerechtigkeiten.“

„Für alle Entlastungsmodelle sind erhebliche Finanzmittel erforderlich. Wenn dafür Gelder aus öffentlichen Haushalten nicht ausreichend verfügbar gemacht werden, kann die notwendige Finanzierung nur über Abschöpfungsmechanismen beschafft werden. Mit dem Abschöpfen der sogenannten Zufallsgewinne können die Strompreise nicht gesenkt, aber die dafür notwendigen Mittel beschafft werden.“

„Insofern ist der von den EU-Energieministern verfolgte Weg unter den gegebenen Umständen und mit Blick auf die genannte Prioritätenreihenfolge ein Mittelweg, mit dem hochproblematische Folgewirkungen vermieden werden können, die mit den von Spanien und Griechenland vorgeschlagenen Modellen für Eingriffe am Großhandelsmarkt entstehen würden. Andere denkbare und zielgerichtetere Modelle werden zu viel (Vorbereitungs-) Zeit in Anspruch nehmen.“

Auf die Frage, wie das Strommarktdesign mittelfristig weiterentwickelt werden könnte:
„Das Strommarktdesign hat drei zentrale Funktionen. Die erste besteht in der Koordinationsfunktion zwischen einerseits den Stromerzeugern und andererseits zwischen den Stromerzeugern und -verbrauchern. Die zweite Funktion besteht in der Refinanzierungsfähigkeit für Investitionen und die dritte in der Ermöglichung räumlicher Steuerungssignale.“

„Das bisherige Strommarktdesign mit seiner starken Fokussierung auf den sogenannten Energy-Only-Markt leistet letztlich nur die Koordinationsfunktion auf zufriedenstellende Weise. Die Refinanzierungsfunktion ist nur für Erneuerbare Energien hinreichend gesichert, mit Blick auf die Sicherung einlastbarer Erzeugungskapazitäten (einlastbar = unabhängig vom Wetter steuerbare Kraftwerke wie Wasserstoff- oder Biomasse-Kraftwerke oder auch Speicher; Anm. d. Red.) oder entsprechender Äquivalente auf der Nachfrageseite ist das bisher von der deutschen Politik in Regierung und Parlament verfolgte Konzept der Refinanzierung über den Energy-Only-Markt weitgehend gescheitert. Hier ist die Schaffung von (fokussierten) Kapazitäts- oder Flexibilitätsmärkten überfällig. Ob und in welchem Umfang im Zuge der Schaffung von spezifischen Refinanzierungsmechanismen für Investitionen auch der Energy-Only-Markt segmentiert werden sollte, ist eine noch intensiv zu diskutierende Frage.“

„Grundsatzentscheidungen müssen auch hinsichtlich der Frage getroffen werden, an welcher Stelle im Strommarkt räumliche Signale beziehungsweise Anreize geschaffen werden müssen. Dies betrifft einerseits die Fragen von Preiszonen oder weitergehende Modelle der Netzengpass-Bepreisung, andererseits aber auch die Möglichkeit, räumliche Allokationssignale über die Refinanzierungsmechanismen für Erzeugungsanlagen beziehungsweise geförderte Verbrauchsanlagen wie zum Beispiel Elektrolyseanlagen zu schaffen.“

„Die notwendigen Reformen des Strommarktdesigns sind komplex, bedürfen einer starken Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten und brauchen Zeit beziehungsweise eine extrem sorgfältige Vorbereitung. Deshalb ist der zeitnahe Start entsprechender Klärungs- und Konzeptionsprozesse unbedingt nötig. Gleichzeitig sollten durch die aktuelle Krise motivierte Ad-hoc-Eingriffe in das Strommarktdesign mit möglicherweise sehr weitreichenden Implikationen beziehungsweise kontraproduktiven Effekten genauso dringend vermieden werden.“

Dr. Martin Weibelzahl

Fachbereichsleiter am Kern­kompetenz­zentrum Finanz-­ & Informations­management und Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik, Bayreuth

„In ganz Europa kommt es aktuell aufgrund stark steigender Energiepreise zu existenzbedrohenden Belastungen für sowohl private Haushalte als auch die Industrie. Neben dringend benötigten und sofort wirksamen Werkzeugen der Krisenintervention und Entlastung müssen darüber hinaus unbedingt grundlegende Reformen des Strommarktdesigns stattfinden, um schnellstmöglich die Weichen für ein zukunftsfähiges, nachhaltiges und resilientes Stromsystem in Deutschland und Europa zu stellen.“

„Vor diesem Hintergrund ist die von der EU-Kommission und von Deutschland angekündigte Strommarktreform sehr zu begrüßen. Eine entsprechende Reform muss dabei den veränderten und sich in Zukunft weiter ändernden Rahmenbedingungen und Herausforderungen unseres Energiesystems erfolgreich Rechnung tragen.“

„Die Strompreisbildung in Europa beruht derzeit auf großen Preiszonen. Beispielsweise bilden Deutschland und Luxemburg eine gemeinsame Preiszone innerhalb Europas. Zu jedem Handelszeitpunkt bildet sich innerhalb jeder Preiszone ein gemeinsamer Zonenpreis. Dabei bleiben im Rahmen der Preisbildung innerhalb einer Preiszone lokale Verfügbarkeiten an (erneuerbarem) Strom, lokale Unterschiede in der Stromnachfrage und Transportknappheiten unberücksichtigt, woraus sich Fehlanreize und Ineffizienzen ergeben.“

„Stellen wir uns beispielsweise vor, wir hätten aktuell vorteilhafte Windverhältnisse im Norden Deutschlands. Dies führt zu einer hohen Einspeisung preisgünstiger Windenergie im Norden und entsprechend zu einem sinkenden Strompreis für Gesamtdeutschland (und Luxemburg). Dadurch entstehen Anreize, in Gesamtdeutschland – und damit auch im windstillen Süden Deutschlands – zu diesem Zeitpunkt mehr Strom zu verbrauchen.“

„Im deutschen Stromnetz liegen allerdings teils große Kapazitätsbeschränkungen für den Transport von Strom vor und entsprechend kann zum Beispiel zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands nicht beliebig viel Strom transportiert werden. Zur Gewährleistung der Netzstabilität müssen Windenergieanlagen im Norden abgeregelt und oftmals alte, ineffiziente Kraftwerke im Süden zum Ausgleich hochgefahren werden. Das nennt man Redispatch. Dies führt zu extrem hohen Kosten und gleichzeitig zu unnötigen CO2-Emissionen. Der Netzbetreiber Amprion schätzt aktuell, dass sich in diesem Jahr die Redispatch-Kosten versechsfachen könnten. Dies wird unsere Wirtschaft und Gesellschaft durch eine Finanzierung über entsprechende Entgelte auch zukünftig stark belasten, sollten dringend benötigte Reformen des Strommarkdesigns ausbleiben.“

„Der bevorstehende Winter wird die Notwendigkeit für diesen Redispatch weiter verstärken, da der Stromverbrauch in Deutschland typischerweise nicht an den Stellen lokalisiert ist, an denen sich die (zukünftig noch stärker) witterungsabhängige Stromerzeugung befindet, und Kapazitätsbeschränkungen des Stromnetzes eine immer wichtige Rolle spielen.“

„Um die beschriebenen Fehlanreize – mit hohen Kosten für Redispatch, einer unzureichenden Nutzung Erneuerbarer Energien und einer Abhängigkeit von russischem Gas und Öl – abzubauen, benötigen wir in einer hochgradig dezentralen Welt mit abertausenden von Erzeugern und Verbrauchern lokale, marktliche Anreize für Stromerzeugung und -verbrauch: Lokale Preise müssen sowohl kurzfristig das lokale Stromangebot und die -nachfrage steuern als auch Anreize für Investitionen in nachhaltige Technologien genau dort setzen, wo diese am dringendsten benötigt werden.“

„Lokale Preise bilden dabei zeitliche und örtliche Verfügbarkeiten ab und machen vorhandene Netz- und Erzeugungskapazitäten genau wie Flexibilitätspotenziale nutzbar, um so bestmöglich mit lokalen Knappheiten umzugehen. Zusätzlich werden durch lokale Preise auch neue Investitionen örtlich angereizt, die im Zuge der Dekarbonisierung und einer verstärkten Energieunabhängigkeit extrem wichtig sind. Eine umfassende Strommarktreform sollte unser aktuelles Strommarktdesign schnellstmöglich weiterentwickeln, damit lokale Preise Erneuerbare Energien schlussendlich besser in unser System integrieren und Netzengpässe zielgerichtet adressieren können. Dadurch würden Kosten für unsere Wirtschaft und Gesellschaft reduziert, durch unser aktuell ineffizientes Marktdesign unnötig verursachte CO2-Emissionen verringert und die Abhängigkeiten von russischem Gas weiter abgebaut.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Erik Gawel: „Es bestehen keine Interessenkonflikte.“ 

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

Novirdoust A et al (2021): Electricity Spot Market Design 2030-2050. DOI: 10.24406/fit-n-621457.

Ahunbay MS et al (2021): Electricity Market Design 2030-2050: Shaping Future Electricity Markets for a Climate-Neutral Europe. DOI: 10.24406/fit-n-644366.

Novirdoust A et al (2021): Electricity Market Design 2030-2050: Moving Towards Implementation. DOI 10.24406/fit-n-640928.