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01.08.2023

Übertrifft die weltweite Hitze die Klimaprognosen?

     

  • Juli 2023 war der heißeste Monat seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen
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  • zugleich extreme Meerestemperaturen und sehr geringes Wachstum des antarktischen Meereises
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  • aktuelle Extremereignisse laut Forschenden im Rahmen von Klimavorhersagen
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In diesem Sommer häufen sich Meldungen über Wetterextreme und nie zuvor gesehene Entwicklungen im Erdsystem: Der Juli 2023 war der heißeste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen mit einer Durchschnittstemperatur von rund 17 Grad Celsius [I]. Die globalen mittleren Temperaturen der Oberflächenwasser der Ozeane sind seit April höher als gewöhnlich und lagen im Juli 0,7 bis 0,8 Grad über dem langjährigen Mittel [II] [III]. Dies stellt bei den stabilen globalen Meerestemperaturen eine große Abweichung dar. Das antarktische Meereis wächst in diesem Winter so langsam wie niemals zuvor und es fehlen rund zwei Millionen Quadratkilometer verglichen mit der durchschnittlichen Meereisausdehnung für diese Jahreszeit [IV]. In verschiedenen Weltregionen – etwa dem Mittelmeerraum, Südasien und Nordamerika – gab es in den letzten Wochen Hitzewellen mit Temperaturen weit über 40 Grad Celsius, ausgedehnte Waldbrände und Warnungen vor Massenbleichen von Korallen [V].

Stellt diese Häufung von Extremereignissen angesichts des voranschreitenden Klimawandels die neue Normalität dar? Oder befinden wir uns in einer vorübergehenden Ausnahmesituation, begünstigt durch das Klimaphänomen El Niño, das im Juli begonnen hat? Sind die aktuellen Wetterextreme unerwartet – oder im Rahmen dessen, was Klimamodelle vorhergesagt haben? Diese Fragen hat das SMC Forschenden gestellt und sie außerdem gebeten, ihren Blick auf die Berichterstattung über die aktuelle Klimasituation zu teilen.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Daniela Domeisen, Professorin für Atmosphärische Prozesse und Vorhersagbarkeit, Universität Lausanne und Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), Schweiz
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  • Prof. Dr. Jakob Zscheischler, Leiter der Arbeitsgruppe Compound weather and climate events, Department Hydrosystemmodellierung, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig
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  • Prof. Dr. Andreas Fink, Professor für Meteorologie, Arbeitsgruppe Atmosphärische Dynamik, Department Troposphärenforschung, Institut für Meteorologie und Klimaforschung, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe
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  • Prof. Dr. Douglas Maraun, Leiter der Forschungsgruppe Regionales Klima, Associate Professor am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel, Karl-Franzens-Universität Graz, Graz, Österreich
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  • Dr. Karsten Haustein, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Atmosphärische Strahlung, Institut für Meteorologie, Universität Leipzig
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  • Jun.-Prof. Dr. Sebastian Sippel, Juniorprofessor für Klima-Attribution, Institut für Meteorologie, Universität Leipzig
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Statements

Prof. Dr. Daniela Domeisen

Professorin für Atmosphärische Prozesse und Vorhersagbarkeit, Universität Lausanne und Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), Schweiz

Beobachtungen im Einklang mit Klimaprognosen?

„Klimaprojektionen sagten schon lange die höhere Wahrscheinlichkeit von Extremereignissen wegen des Klimawandels vorher — diese Vorhersagen sind (leider) korrekt. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis diese Extreme stark gehäuft, intensiviert und global auftreten. Dies ist eine weitere Bestätigung, dass die Vorhersagen der Klimamodelle Bestand haben, und sollte Warnung genug sein, den Klimawandel so stark wie aktuell noch möglich zu beschränken.“

Zusammenhang mit El Niño

„Wir haben es hier mit zwei unabhängigen, aber überlagerten Phänomenen zu tun: dem menschgemachten Klimawandel, welcher uns den Aufwärtstrend in der globalen Mitteltemperatur beschert und dem natürlichen Phänomen El Niño, welches alle paar Jahre auftritt. El-Niño-Jahre sind im globalen Mittel fast immer wärmer als nicht-El-Niño-Jahre, da bei El Niño eine so große Oberfläche im tropischen Pazifik erwärmt wird. Die Auswirkungen von El Niño auf die verschiedenen Weltregionen sind jedoch sehr unterschiedlich und können sich in warmem, kaltem, nassem oder trockenem Wetter äußern, abhängig von der Region und Jahreszeit. Zudem sind diese Auswirkungen nicht jedes Jahr exakt gleich. Gerade auf Europa hat El Niño im Sommer kaum Auswirkungen, und die aktuelle Hitze ist daher vor allem dem Klimawandel geschuldet.“

„Global gesehen kann El Niño die Auswirkungen des Klimawandels je nach Region entweder abschwächen oder verstärken. Das Problem besteht hier hauptsächlich für Regionen, in denen sowohl der Klimawandel als auch El Niño ähnliche Auswirkungen haben und die beiden zusammen daher einen verstärkenden Effekt haben. Als Beispiel kann man das Absterben von Korallen durch die erhöhten Wassertemperaturen um Australien nennen, welche durch El Niño als auch durch den Klimawandel begünstigt werden.“

„Die aktuellen global auftretenden Extreme sind keine kurzfristige Ausnahmesituation, im Gegenteil. Die Forschung zeigt, dass die Extreme in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch weiter zunehmen werden. Auch falls nun nochmals einige wenige Jahre mit leicht tieferer globaler Mitteltemperatur folgen sollten – zum Beispiel durch ein La-Niña-Ereignis – geht der langfristige globale Temperaturtrend aktuell steil nach oben. Dies wird so weitergehen, wenn die Emissionen nicht auf Netto-Null gebracht werden.“

Einfluss auf Kippelemente im Klimasystem

„Am kritischsten sind die nicht umkehrbaren Prozesse, zum Beispiel dauerhafte Veränderungen im Ozean oder das Abschmelzen des Eises, auch wenn diese Systeme im Vergleich zur Atmosphäre langsamer reagieren. Denn sollte der Klimawandel zum Beispiel im Ozean langfristig Änderungen bewirken, können diese Jahrhunderte lang anhalten. Solche Prozesse umzudrehen, geht über unsere heutigen technischen Möglichkeiten hinaus – dafür reicht es nicht mehr, später der Atmosphäre CO2 zu entziehen, sondern es müsste jetzt dafür gesorgt werden, dass solche Prozesse gar nicht erst in Gang gesetzt werden.“

Blick auf die Berichterstattung

„Der Fokus auf die kurzfristige Überschreitung der 1,5-Grad-Marke ist nicht wirklich zentral. 1,5 Grad ist ein wissenschaftlich motivierter, aber politischer Grenzwert, den wir uns gesetzt haben, um die Folgen des Klimawandels möglichst gering zu halten. In Wahrheit zählt jedes Zehntelgrad, und daher jede einzelne Emissionsreduktion und jede vermiedene Erwärmung, um den Klimawandel zu beschränken. Die Auswirkungen des Klimawandels sind ja bereits jetzt weltweit schmerzhaft spürbar, obwohl wir die 1,5-Grad-Marke noch nicht überschritten haben. Worauf warten wir noch?“

Prof. Dr. Jakob Zscheischler

Leiter der Arbeitsgruppe Compound weather and climate events, Department Hydrosystemmodellierung, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig

Beobachtungen im Einklang mit Klimaprognosen?

„Meines Wissens ist vieles, was wir im Moment beobachten, sehr konsistent mit unseren Modellprojektionen – vor allem die außergewöhnlichen Hitzewellen über Land und im Meer, aber auch die gelegentlichen Extremniederschläge. Bei der Anomalie in der Nachbildung des antarktischen Meereises ist das ein bisschen anders. Die Meereisausdehnung ist weit unterhalb dessen, was wir normalerweise für diese Jahreszeit erwarten — mehr als fünf oder mittlerweile sechs Standardabweichungen. Ich glaube, das ist auch außerhalb von Modellsimulationen und zeigt, wie komplex die Prozesse um das arktische Meereis sind. Hier müssen wir jetzt besser verstehen, was diese Anomalie verursacht hat.“

Zusammenhang mit El Niño

„Wir haben im Moment ein El-Niño-Jahr, da erwarten wir generell etwas wärmere Temperaturen als in neutralen Jahren. Wir können aber nicht davon ausgehen, dass die folgenden Jahre wesentlich kühler werden, ganz im Gegenteil. Die volle Wucht des jetzigen El Niños werden wir wahrscheinlich erst in ein bis zwei Jahren spüren. Es ist auch so, dass die vergangenen Jahre durch La Niña leicht kühler waren als sie sonst gewesen wären. Solange die Treibhausgasemissionen nicht sinken, werden die Temperaturen auch in Zukunft weiter ansteigen.“

Blick auf die Berichterstattung

„Generell begrüße ich, dass überhaupt so viel über das Wetter und Klima berichtet wird. Auf der anderen Seite gibt es immer noch sehr viele Berichte, die keinen klaren Bezug zum menschengemachten Klimawandel nehmen. Ich denke, das wäre wichtig, damit den LeserInnen klar wird, dass es sich hier nicht um Ereignisse handelt, gegen die man nichts tun kann. Bei vielen dieser Ereignisse spielt der menschengemachte Klimawandel eine maßgebliche Rolle. Aufklärung darüber könnte dazu beitragen, dass Menschen sich engagieren, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Vor allem bei Hitzewellen, schmelzenden Gletschern und Meereis oder extremen Waldbränden kann man mittlerweile mit recht großer Sicherheit sagen, dass der menschengemachte Klimawandel das Ereignis zumindest verstärkt hat, auch ohne eine spezifische Attributionsstudie durchgeführt zu haben.“

Prof. Dr. Andreas Fink

Professor für Meteorologie, Arbeitsgruppe Atmosphärische Dynamik, Department Troposphärenforschung, Institut für Meteorologie und Klimaforschung, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe

Beobachtungen im Einklang mit Klimaprognosen?

„Die aktuell beobachtete Häufung der Extreme in den Oberflächen- und Meerestemperaturen hat zwei Ursachen, deren jeweiliger Beitrag nicht exakt zu quantifizieren ist: Zum einen der über die zurückliegenden Jahrzehnte beobachtete Anstieg der globalen Mitteltemperatur, der überwiegend auf den vom Menschen verursachten Klimawandel zurückzuführen ist. Diese Hintergrunderwärmung erhöht grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit von extrem hohen Temperaturen an Land und an der Ozeanoberfläche, darunter auch von Allzeitrekorden. Zum anderen gibt es natürliche Schwankungen, welche zeitweilig und regional die Temperaturen erhöhen – die bekannteste Schwankung ist dasEl Niño - La Niña-Phänomen. Derzeit führen diese natürlichen Schwankungen in einigen Regionen – zum Beispiel im Nordatlantik und im Pazifik – zu weiter erhöhten Temperaturen. Nimmt man die Projektionen der Klimamodelle und betrachtet das Zusammenfallen mit diesen natürlichen Schwankungen, würde ich die derzeitigen Beobachtungen als im Rahmen der Klimaprognosen liegend betrachten.“

Zusammenhang mit El Niño

„Bezogen auf einen Allzeitrekord der globalen Jahresmitteltemperatur dürfteEl Niño vermutlich erst 2024 seine volle Wirkung entfalten. Sollte danach ein La Niña Ereignis eintreten, kann die globale Mitteltemperatur in den Folgejahren wieder leicht zurückgehen – langfristig gesehen wird sie aber weiter steigen. Bezüglich extremer Temperaturen wird das anlaufende El-Niño-Ereignis in und um den Pazifik vermutlich bis 2024 von Bedeutung sein. Global gesehen werden Hitzewellen aber auch in den Folgejahren vermehrt beziehungsweise intensiver auftreten. Das ist unabhängig von El Niño und der Klimaerwärmung geschuldet.“

Blick auf die Berichterstattung

„Insgesamt ist es zu begrüßen, dass die Extremereignisse ein gutes Medienecho finden. Die Folgen der vom Menschen gemachten Klimaänderung werden immer ‚spürbarer‘. Allerdings wird der Klimawandel oder El Niño immer wieder allzu vorschnell für ein Extremereignis verantwortlich gemacht. Das Klimasystem ist komplex, da verbieten sich einfache oder pauschale Ursachen. Hier wünsche ich mir eine differenziertere Darstellung.“

Prof. Dr. Douglas Maraun

Leiter der Forschungsgruppe Regionales Klima, Associate Professor am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel, Karl-Franzens-Universität Graz, Graz, Österreich

Beobachtungen im Einklang mit Klimaprognosen?

„Wir können relativ konkret erklären, was die meteorologischen Bedingungen für diese Ereignisse sind. Die eigentliche Frage ist aber, was diese Bedingungen ausgelöst hat, und wie stark der Klimawandel sie begünstigt. Sie sind in der Tat sehr außergewöhnlich und lassen sich nicht allein mit den langfristigen Trends in erhöhten CO2- und reduzierten Aerosolkonzentrationen erklären. Insofern übertrifft die aktuelle Entwicklung unsere Prognosen.“

Zusammenhang mit El Niño

„Die globalen Folgen von El Niñotreten meist erst im Winter, wenn El Niño am stärksten ist, und im Folgejahr auf. Vor allem führt El Niño aber nicht überall zu höheren Temperaturen. Der Einfluss auf Europa ist relativ schwach und vor allem im Winter. Die aktuellen Hitzewellen in Europa haben also nichts mit El Niño zu tun.“

„Die Häufung dieser Extremereignisse wurde wahrscheinlich durch natürliche Klimaschwankungen ausgelöst. Es gibt zum Beispiel immer wieder Jahre oder Jahrzehnte mit vielen Dürren, dann wieder mit weniger. Der Klimawandel macht diese Dürren aber in jedem Zyklus intensiver. Ich erwarte deshalb, dass es einige Jahre so weitergeht, es sich dann wieder für einige Jahre entspannt und dann noch schlimmer wird als jetzt. Allerdings können wir nicht ausschließen, dass der Klimawandel auch die jetzige Häufung beeinflusst – das wäre dann eine dramatische Situation.“

Einfluss auf Kippelemente im Klimasystem

„Ich gehe nicht davon aus, dass die aktuelle Situation ein Kippen des Klimas andeutet. Aber natürlich gibt es Kippelemente, und manche Kipppunkte können schon bald überschritten werden. Am kritischsten ist hier das unaufhaltsame Abschmelzen der Eisschilde. Das wird uns über die nächsten Jahrhunderte wahrscheinlich mehrere Meter Meeresspiegelanstieg bringen.“

Blick auf die Berichterstattung

„Generell wünsche ich mir eine nüchternere Berichterstattung. Vor allem würde es helfen auf dramatisierende Wahrscheinlichkeitsaussagen zu verzichten. Dass eine Hitzewelle ohne Klimawandel ‚praktisch unmöglich‘ gewesen wäre, heißt eben nicht, dass es diese Hitzewelle ohne den Klimawandel nicht gegeben hätte, sondern dass sie, zum Beispiel, etwa zwei Grad kälter gewesen wäre.“

Dr. Karsten Haustein

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Atmosphärische Strahlung, Institut für Meteorologie, Universität Leipzig

Stand der menschengemachten Erwärmung

„Der Juli wird als der mit Abstand wärmste Juli seit Aufzeichnungsbeginn in die Annalen eingehen. Er liegt höchstwahrscheinlich mindestens 0,2 Grad über dem alten Rekord von 2019. Damals war die Abweichung relativ zu 1850 bis 1900 – das ist der IPCC-Bezugszeitraum für ,quasi-vorindustriell‘ – 1,3 Grad. Dieses Jahr werden wir bei einer Abweichung von 1,5 Grad – oder knapp darüber – auf Monatsebene landen. Das heißt nicht, dass das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens bereits überschritten ist, da hierfür der Langfristtrend entscheidet. Tatsächlich haben einige Wintermonate die 1,5-Grad-Marke bereits deutlich überschritten. Im Langfristtrend liegen wir aktuell bei knapp 1,3 Grad menschengemachter Erwärmung. Aber es bedeutet, dass wir den wärmsten Monat im globalen Durchschnitt seit vielen Jahrtausenden überhaupt erlebt haben. Möglicherweise seit der Eem-Warmzeit, die vor circa 115.000 Jahren geendet hat.”

Beobachtungen im Einklang mit Klimaprognosen?

„Teilweise sind die Abweichungen der Meerestemperaturen am oberen Ende dessen, was unter Berücksichtigung des menschlichen Einflusses an natürlicher Schwankungsbreite zu erwarten ist, aber es sind keine völlig unerwarteten Extreme. Klimamodelle haben aufgrund ihrer groben Gitterauflösung zwar unvermeidbare Schwächen, extreme Wetter- und Klimaereignisse abzubilden, die Vielzahl der Modelle und Modellsimulationen gibt jedoch eine hohe Bandbreite. Die Auftretenshäufigkeit bei sogenannten Ensemblesimulationen wird im Kontext von Extremereignissen schon eher unterschätzt. Allerdings sind die gegenwärtigen Extreme bisher einmalig, wie beispielsweise die Ozeanoberflächentemperatur im Nordatlantik.“

Zusammenhang mit El Niño

„Was wir derzeit sehen, ist in erster Linie die Auswirkung unserer menschengemachten Erwärmung. Dies ist der Haupteinflussfaktor bei jedem neuen Rekord. Überlagert wird das Ganze von natürlicher Klimavariabilität. In den vergangenen sechs bis sieben Jahren hat das Klimaphänomen La Niña – durch negative Temperaturabweichungen im zentralen tropischen Pazifik gekennzeichnet – die globalen Temperaturen etwas gedämpft. Seit diesem Frühjahr hat sich langsam das gegenteilige – und bekanntere – Klimaphänomen El Niño im tropischen Pazifik zurückgemeldet. Dies führt in der Regel in der zweiten Jahreshälfte zu deutlich höheren Globaltemperaturen, sodass durchaus ein Teil des Juli-Rekords darauf zurückzuführen ist.“

„Es gibt allerdings noch zwei weitere Einflussfaktoren, die bisher noch nicht ausreichend quantifiziert sind. Erstens: der Einfluss des Hunga-Tonga Vulkanausbruchs Anfang 2022, der große Mengen Wasserdampf in die Stratosphäre geschleudert hat. Normalerweise gelangt bei Vulkanausbrüchen viel Vulkanasche in diese wetterinaktive Schicht der Atmosphäre, diesmal jedoch vorrangig Wasserdampf. Bisherige Schätzungen gehen von einem sehr geringen Effekt auf die Globaltemperatur aus, die Zirkulation der Südhemisphäre könnte jedoch durchaus leicht beeinflusst werden. Somit ist es denkbar, dass ein Teil des extrem langsamen Wachstums des antarktischen Meereises damit im Zusammenhang steht. Das ist derzeit aber reine Spekulation.“

„Zweitens: Die verringerten Sulfat-Emissionen durch Regeländerungen im Bereich von Schiffsemissionen seit Anfang 2020 könnten einen zusätzlichen wärmenden Effekt über den Ozeanen haben. Da Sulfate das Sonnenlicht reflektieren, kommt bei deren Entfernung plötzlich wieder mehr kurzwellige Solarstrahlung am Boden an, was nachweislich einen wärmenden Effekt hat. Beispielsweise haben stark steigende industrielle Sulfat-Emissionen nach dem Zweiten Weltkrieg in Nordamerika und Europa zu einer Abkühlung geführt. Ob die beiden Effekte überhaupt – und wenn ja, wie viel – zum Juli-Rekord beigetragen haben, ist derzeit noch unklar.“

Einfluss auf Kippelemente im Klimasystem

„Kippelemente sind im aktuellen IPCC-Bericht gut zusammengefasst worden. Danach sind das Auftauen des Permafrostes, das Absterben des Regenwaldes, sowie das Stoppen der Nordatlantikzirkulation nicht als unmittelbare Gefahren eingestuft worden. Insbesondere der Amazonas-Regenwald ist sehr davon abhängig, wieviel abgeholzt wird. Spätestens bei zwei Grad globaler Erwärmung relativ zu vorindustrieller Zeit werden diese Komponenten jedoch zunehmend als instabil angesehen. Daher ist jedes Zehntel Grad, das – auch jenseits der 1,5 Grad – vermieden wird, entscheidend.“

„Auf regionaler Ebene hat schon jetzt das Korallensterben ein kritisches Level erreicht. Dasselbe gilt für verheerende Waldbrände und den schleichenden Verlust von Biodiversität. Die sichtbarste Auswirkung in unseren Breiten ist das hitze- und dürrebedingte Waldsterben. Hier sind in gewissen Regionen möglicherweise Kipppunkte zum Erhalt des Waldes überschritten, zumindest in der Art wie er bisher beschaffen war. Da resiliente natürliche Wälder Jahrhunderte zum Wachsen benötigen, dürfte es schwer werden, in den trockeneren Regionen adäquaten Ersatz zu etablieren. Katastrophale Ernteverluste werden ebenfalls zur Regel, auch wenn es nicht dem klassischen Kipppunkt-Kriterium entspricht.“

Blick auf die Berichterstattung

„Die mediale Begleitung der globalen Temperaturrekorde scheint mir angemessen. Allerdings ist es eben wie so oft nur ein kurzer ,Newsflash‘, der am Ende von vermeintlich wichtigeren Themen wieder abgelöst wird. Die Frage ist, wie man seiner medialen Verantwortung dauerhaft gerecht wird. Meiner Meinung nach wäre es von übergeordneter Relevanz, den Entscheidungsträgern immer und immer wieder kritische Fragen zu stellen, wenn sie sich nicht an die im Pariser Abkommen festgelegten Ziele halten. Interessenkonflikte – aka Lobbying – sollten viel stärker in der Alltagsberichterstattung thematisiert werden. Ebenso gilt das, wenn es um systematische Fragen von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit geht, beispielsweise um Fragen nach den Klimakosten, ebenso wie lärm- und abgasbedingte Gesundheitsfolgen. Warum werden diese ohne Diskussion seit Jahrzehnten externalisiert, während die Allgemeinheit die Folgen zu schultern hat? Warum wird die Kriminalisierung der ‘Letzten Generation’ nicht viel stärker infrage gestellt beziehungsweise deren Anliegen ernsthaft und konstruktiv in der Medienberichterstattung aufgegriffen? Und letztlich: Warum wird der wissenschaftliche Konsens oft nur zögerlich vermittelt? Diesbezüglich habe ich leider nach wie vor das Gefühl, dass viel zu oft ,false balance‘ im Spiel ist (die gleiche Gewichtung zweier gegensätzlicher Positionen, obwohl die wissenschaftliche Evidenz klar für eine der Positionen spricht; Anm. d. Red.). In Anbetracht der Dringlichkeit der Klimakrise ist das eine Problematik, die selbstkritischer hinterfragt werden sollte.“

Jun.-Prof. Dr. Sebastian Sippel

Juniorprofessor für Klima-Attribution, Institut für Meteorologie, Universität Leipzig

Beobachtungen im Einklang mit Klimaprognosen?

„Langfristige globale Temperaturtrends sind dem anthropogenen Klimawandel zuzuordnen. Temperaturschwankungen von Jahr zu Jahr werden größtenteils durch die natürliche ENSO-Zirkulation (,El Niño Southern Oscillation‘) im Pazifik verursacht. Bedingt durch eine über drei Jahre andauernde La-Niña-Situation begann das Jahr 2023 eher kühl – relativ zum langfristigen Trend. Durch den Übergang zu einer El-Niño-Situation kam es im Jahresverlauf zu einer starken Erwärmung. Die aktuell gemessenen Temperaturen sind extrem hoch – der Monat Juli zum Beispiel hat den vorherigen globalen Juli-Rekord sehr deutlich übertroffen. Dennoch befinden sich nach aktuellen Analysen die Beobachtungsdaten im Bereich der Modellprojektionen [1].“

Zusammenhang mit El Niño

„Die aktuellen Beobachtungen sind das Resultat einer Kombination aus natürlicher Variabilität im Klimasystem – das beinhaltet El Niño, wie auch ungewöhnliche Variabilitätsmuster im Nordatlantik – und dem langfristigen anthropogenen Klimawandel. Mit der weiteren Entwicklung des El-Niño-Ereignisses und dessen etwas verzögerten Auswirkungen in der Atmosphäre kann durchaus damit gerechnet werden, dass die hohen Temperaturen auf globaler Ebene noch weitere Monate anhalten. Wenn sich das El-Niño-Ereignis abschwächt, wird es auf globaler Ebene kurzfristig kühler werden, der langfristige Erwärmungstrend wird allerdings bestehen bleiben.“

Einfluss auf Kippelemente im Klimasystem

„Aus globalen Rekorden in Tages- oder Monatstemperaturen kann nicht direkt auf die Folgen für bestimmte Kippelemente geschlossen werden. Denn regionale Klimavariabilität kann auch bei hohen globalen Temperaturen eine Rolle spielen und der kritische Schwellwert für das Einsetzen möglicher Kipppunkte ist oft unsicher [2]. Auch ist unsicher, ob ein bestimmtes Kippelement so kurzfristig auf eine sehr hohe Temperatur reagiert. Dennoch gilt: Durch weitere anthropogene Treibhausgasemissionen setzt sich der Klimawandel fort, und somit steigt leider mittel- und langfristig auch das Risiko des Erreichens von Kipppunkten.“

Blick auf die Berichterstattung

„Wir haben vor einigen Jahren eine Studie publiziert [3], in der wir zeigen konnten, dass aus täglichen Temperatur- und Feuchtigkeitskarten auf globaler Ebene – trotz starker natürlicher Variabilität durch El Niño oder das Wettergeschehen – seit etwa 2012 an jedem einzelnen Tag der Klimawandel nachgewiesen kann. Im Kontext der aktuellen Entwicklungen und Berichterstattung erscheint es mir deshalb sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass die hohen globalen Temperaturen aus dem Zusammenspiel von Variabilität und Klimawandel resultieren – und nicht durch ein Phänomen alleine.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Daniela Domeisen: „Keine.“

Prof. Dr. Jakob Zscheischler: „Es bestehen keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Andreas Fink: „Es bestehen keine Interessenkonflikte.“

Dr. Karsten Haustein: „Interessenkonflikte bestehen nicht.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Hausfather Z (26.07.2023): State of the climate: 2023 now likely hottest year on record after extreme summer. Carbon Brief.

[2] Wang S et al. (2023): Mechanisms and Impacts of Earth System Tipping Elements. Reviews of Geophysics. DOI: 10.1029/2021RG000757.

[3] Sippel S et al. (2020): Climate change now detectable from any single day of weather at global scale. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-019-0666-7.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Copernicus Climate Change Service (27.07.2023):Copernicus and WMO: July 2023 is on track to be the hottest month on record. Pressemitteilung.

[II] Climate Change Institute, University of Maine:Daily Sea Surface Temperature.Stand: 01.08.2023.

[III] Science Media Center (2023):Oberflächenwasser in den Ozeanen ungewöhnlich warm.Rapid Reaction. Stand: 19.06.2023.

[IV] Science Media Center (2023):Antarktis im Klimawandel.Living Fact Sheet. Stand: 26.07.2023.

[V] Science Media Center (2023): Große Korallenbleichen in vielen Regionen weltweit erwartet.Rapid Reaction. Stand: 18.07.2023.