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23.03.2020

Übersterblichkeit durch andere Notfälle in der SARS-CoV-2-Pandemie

Reportagen zur COVID-19-Pandemie aus Norditalien berichten von überarbeiteten Medizinern, von Kapazitätsproblemen auf den Intensivstationen in Krankenhäusern und von einem Mangel an Material zum Schutz des Personals – ein Gesundheitssystem stößt an seine Grenzen. Auf der Seite der Europäischen Gesellschaft für Intensivmedizin rufen Ärzte aus Norditalien die europäischen Kollegen dazu auf, sich auf eine mögliche Welle von COVID-19-Patienten und die damit einhergehenden Herausforderungen vorzubereiten [I][II].

Daten aus der Sentinel-Krankenhaus-Surveillance für schwere akute respiratorische Infektionskrankheiten (SARI) des Robert Koch-Instituts können helfen, den zeitlichen Verlauf saisonaler Influenzawellen zeitnah zu verfolgen. Die Krankheitslast durch Influenza und Lungenentzündungen (Pneumonie) im akutstationären Bereich wird saisonal während der Grippewellen im Vergleich zur Vorsaison eingeschätzt. Die wöchentliche Anzahl von SARI-Fällen lag in der zehnten Kalenderwoche bei knapp über 300, in der schweren Influenza-Grippewelle 2017/2018 waren es in der Spitze bei den über 60-Jährigen rund 1.200 SARI-Fälle pro Woche, die mindestens sieben Tage auf Intensivstationen behandelt wurden. Insgesamt kam es während der Grippewelle 2017/2018 bei den über 60-Jährigen schätzungsweise zu über 50.000 SARI-Fällen [III].

Das SARI-System liefert hierzulande nun auch im Fall der COVID-19-Pandemie relativ zeitnahe Informationen. Allerdings muss laut der aktuellen Daten aus China und Italien bei schwer erkankten COVID-19-Patienten damit gerechnet werden, dass sie im Vergleich zu anderen schweren akuten respiratorischen Infektionen vermutlich deutlich länger als sieben Tage intensivmedizinische Behandlungen mit Beatmung/zusätzlichem Sauerstoffbedarf benötigen. Eine sehr rasch steigende Anzahl schwerer beatmungsbedürftiger COVID-19-Fälle könnte daher dazu führen, dass die Anzahl verfügbarer Intensivbetten rascher knapp wird.

Zudem betrifft ein Kapazitätsmangel in Krankenhäusern in Zeiten einer Spitzenlast keinesfalls nur diejenigen, die mit dem neuen SARS-CoV-2 infiziert wurden und schwer an COVID-19 erkranken. Betroffen sind auch viele weitere Erkrankte, die auf intensive medizinische Hilfe angewiesen sind und bei überfüllten Krankenhäusern eventuell nicht mehr ausreichend versorgt werden können. Frühere Auswertungen von Pandemien zeigen erhebliche sogenannte Übersterblichkeiten, die deutlich über die direkt von den Pandemie-Erregern verursachten Todesfällen hinaus gehen können [IV]. Es müssen also dringend Vorkehrungen getroffen werden, um auch diese Übersterblichkeit während der COVID-19-Pandemiephase möglichst gering zu halten.

Aktuell sind die Kapazitäten der Intensivstationen noch nicht ausgeschöpft, berichten Intensivmediziner gegenüber dem SMC [V]. Am 23. März waren in einem öffentlich zugänglichen Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) 312 COVID-19-Patienten auf Intensivstationen dokumentiert – eine Schätzung auf der Basis von 478 von 1.100 Intensivstationen [VI]. Für eine schnelle Erfassung bietet die Vereinigung aktuell täglich die Anzahl der verfügbaren Intensivbetten pro Bundesland in einer deutschlandweiten Kartenansicht an [VII].

Das deutsche Gesundheitssystem bereitet sich derzeit intensiv auf die anstehenden Herausforderungen vor, insbesondere einen Zuwachs von beatmungspflichtigen Patienten. Der Gemeinsame Bundesausschuss räumt den Krankenhäusern mehr Flexibilität beim Einsatz von Intensivpflegekräften ein, um unaufschiebbare Behandlungen in Zeiten von Personalmangel sicherzustellen [VIII]. Doch was heißt das für Patienten mit Krebsleiden, Schlaganfall, Herzinfarkt und weiteren Krankheiten, die neben den COVID-19-Patienten auf eine funktionierende Gesundheitsversorgung angewiesen sind?

Eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bearbeiten aktuell eine Leitlinie für sogenannte Triage-Regeln, ein spezifiziertes Verfahren der Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen bei einem hohem Aufkommen an Patienten, wie es von der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin bereits veröffentlicht wurde [IX].

 

Übersicht

     

  • Dr. Annette Rogge, Vorsitzende und Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, und Kommissarische Leiterin des Lehrstuhls Medizinethik, Institut für experimentelle Medizin, Christian-Albrechts-Universität Kiel
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  • Prof. Dr. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin
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  • Prof. Dr. Max Geraedts, Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie, Fachbereich Medizin, Philipps-Universität Marburg
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Statements

Dr. Annette Rogge

Vorsitzende und Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, und Kommissarische Leiterin des Lehrstuhls Medizinethik, Institut für experimentelle Medizin, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Auf die Frage, nach welchen Kriterien entschieden werde, wer behandelt wird, wenn alle Betten im Krankenhaus bereits belegt sind:
„Zunächst sollte wie immer in der Medizin in jedem Einzelfall geprüft werden, ob intensivmedizinische Maßnahmen dem Willen des Patienten entsprechen. Dieser muss entweder vom einwilligungsfähigen Patienten direkt oder bei fehlender Einwilligungsfähigkeit vom gesetzlichen Stellvertreter erhoben werden, sofern die medizinische Situation dies zeitlich erlaubt. Wird die Behandlung nicht gewünscht, darf sie – wie auch außerhalb einer Krisensituation – nicht durchgeführt werden!“

„In Notfall-Entscheidungssituationen zur Verteilung von knappen Intensivkapazitäten sollte transparent und von allen Verantwortlichen nach denselben Kriterien entschieden werden. Als ethisch allgemein akzeptierte Allokationskriterien gelten kurz gefasst in hierarchischer Reihung: Die medizinische Bedürftigkeit (Schweregrad der Erkrankung und Dringlichkeit der Intensivmaßnahme) und dann der erwartete medizinische Nutzen (Erfolgsaussicht).“

„Allgemein ist bei derartig komplexen ethischen Fragestellungen eine gemeinsame Entscheidungsfindung einer Einzelentscheidung vorzuziehen. Falls die klinische Situation dies erlaubt, sollte also eine Abstimmung im Behandlungsteam erfolgen. An vielen deutschen Krankenhäusern stehen auch Strukturen der klinischen Ethikberatung zur Verfügung.“

Prof. Dr. Reinhard Busse

Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin

Auf die Frage, wie hoch das Risiko sei, dass es aufgrund der Ausbreitung und Behandlung von COVID-19 zu einer Übersterblichkeit von Patienten mit anderen Erkrankungen kommt, die unter normalen Bedingungen hätten versorgt werden können:
„Diese Gefahr besteht derzeit nicht, da genügend ‚normale‘ Krankenhausbetten zur Verfügung stehen. So stehen an normalen Tagen über 100.000 Betten in deutschen Krankenhäusern leer. Da elektive, das heißt planbare Aufnahmen zudem abgesagt werden, gibt es derzeit zudem weniger Patienten als sonst. Und auch von den normalerweise ungeplanten Aufnahmen (sogenannte ‚Notfälle‘) muss nicht jeder wirklich stationär behandelt werden, sodass weitere Kapazitäten geschaffen werden können. Schwieriger wird es dann, wenn es zu krankheitsbedingten Ausfällen beim Personal kommt. Auch auf Intensivstationen kann die Absage von Operationen allerdings auch die Kapazität erhöhen.“

Auf die Frage, welche möglichen Gefahren das Zusammenlegen von Stationen in Bezug auf die Versorgungskapazität haben könnte: 
„Das Zusammenlegungen von Stationen ist auf jeden Fall sinnvoll, um so die infizierten COVID-19-Patienten von den anderen Krankenhauspatienten deutlich zu trennen und letztere zu schützen. Jene zählen ja als Kranke ohnehin schon zur Risikogruppe. Dies ist also klar zum Vorteil der nicht-infizierten Kranken.“

„Die Intensivstationen mit ihren rund 28.000 Betten werden natürlich auch weiterhin für andere Patienten offenstehen müssen. Deren Zahl wird aber durch die OP-Absagen abnehmen – und auch die Verweildauer lässt sich beeinflussen. Das heißt, wer sonst, sagen wir eine halbe Woche dort geblieben wäre (das entspricht dem Durchschnitt), der würde dann einen Tag früher auf eine Normalstation verlegt.“

Auf die Frage, nach welchen Kriterien entschieden werde, wer behandelt wird, wenn alle Betten im Krankenhaus bereits belegt sind:
„Da die Bettenkapazität im deutschen Krankenhaussektor sehr hoch ist, ist diese Situation direkt nicht zu erwarten. Engpässe könnte es allerdings bei den Intensiv- beziehungsweise bei Beatmungsbetten geben. Hier gelten zunächst die normalen Regeln, das heißt, wenn es in einem Krankenhaus keine Betten mehr gibt, meldet es sich bei der Leitstelle ab und Patienten werden auf umliegende Krankenhäuser verteilt, sofern diese noch Kapazitäten haben. An dieser Stelle könnte man auf den derzeitigen Extremfall der Lombardei in Italien mit zehnfach höheren Infektionszahlen verweisen: Mit Stand vom 19.03.2020 gibt es dort bei 10 Millionen Einwohnern 8.393 stationäre Corona-Patienten – das wären für Deutschland umgerechnet etwa 65.000 – , davon 1.006 auf Intensivstation – umgerechnet etwa 8.400, beides von den Bettenkapazitäten her bei uns machbar, aber natürlich für das Personal extrem belastend.“

„Viele der jetzt verschobenen Operationen betreffen Patienten mit orthopädischen Operationen etwa an Hüfte oder Knie. Diese können zumeist problemlos auch über längere Zeit verschoben werden oder müssten auch gar nicht stattfinden. Andere Operationen, etwa bei Krebspatienten, sollten hingegen eher zeitnah erfolgen.“

Auf die Frage wie hoch das Risiko einzuschätzen sei, dass es durch krankheitsbedingten Ausfall, wenn die Mitarbeiter selbst an COVID-19 erkranken, oder durch Überlastung des medizinischen Personals zu einer Unterversorgung der Patienten kommen kann:
„Ganz klar, dies ist der größte Unsicherheitsfaktor, den es im Auge zu behalten gilt – nicht nur körperlich (Stichwort fehlende Schutzkleidung), sondern auch psychisch. Bisher sehen wir aber – auch in den anderen Ländern – einen enormen Einsatz und das Melden von Freiwilligen. Wie lange das durchzuhalten ist, ist aktuell schwierig zu beurteilen.“

Prof. Dr. Max Geraedts

Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie, Fachbereich Medizin, Philipps-Universität Marburg

„Sollten sich die Krankheit so ausbreiten wie heute (Stand 20.03.2020) absehbar, dann wäre Ende April in einem Wort-Case-Szenario mit 10 Millionen Betroffenen zu rechnen, von denen ein geringer Prozentsatz intensivpflichtig erkrankt wäre. Unsere Krankenhauskapazitäten sind derzeit so belegt, dass 50 Prozent der Patienten als direkt behandlungsbedürftig beziehungsweise Notfall aufgenommen wird. Von diesen benötigen einige Patienten eine Intensivpflege. Daher wird es bei Überlastung des Systems zu einer Übersterblichkeit kommen. Zudem haben wir bereits jetzt eine Personallücke in der Intensivpflege – beziehungsweise Fehlzuteilung der Kapazitäten in zu vielen kleinen Krankenhäusern –, die zur Übersterblichkeit beitragen wird.“

Auf die Frage, welche Gefahren es für Nicht-Coronapatienten berge, Stationen zusammenzulegen, um Platz für die Versorgung von COVID-19-Patienten einzuräumen: 
„Der Zusammenhang zwischen der Personalausstattung und der Qualität der Versorgung ist gut belegt. Daher muss unter solchen Umständen von Qualitätseinbußen (nosokomiale Infektionen (Ansteckung durch Krankenhausaufenthalt, Anm. d. Red.), Dekubitalulzera (Wundliegegeschwür, Anm. d. Red.) und Sterbefällen) ausgegangen werden.“

Auf die Frage, für welche Patienten eine Überbelegung der Krankenhäuser zum Problem werden könne:
„Insbesondere Patienten mit akutem Schlaganfall, Herzinfarkt, Sepsis, Polytrauma und andere sind gefährdet.“

Auf die Frage, nach welchen Kriterien entschieden werde, wer behandelt wird, wenn alle Betten im Krankenhaus bereits belegt sind:
„Triage-Regeln sind meines Wissens nicht allgemeingültig verabschiedet – vor Ort wird daher wahrscheinlich nach Überlebenschance und Restlebenserwartung entschieden werden.“

Auf die Frage, wie hoch das Risiko für Patienten sei, deren Operationen als elektiv gelten und aufgeschoben werden:
„Eher gering: Wenn kein Notfall vorliegt steigt das Risiko zwar an, es kann aber niemand sicher sagen, dass zum Beispiel ein Tag oder eine Woche, ein Monat zu einer Risikoerhöhung von genau X Prozent führt.“

Auf die Frage, wie hoch das Risiko einzuschätzen sei, dass es durch krankheitsbedingten Ausfall, wenn die Mitarbeiter selbst an COVID-19 erkranken, oder durch Überlastung des medizinischen Personals zu einer Unterversorgung der Patienten kommen kann:
„Das kann tatsächlich ein Problem werden – die Personalsituation ist bereits heute nicht gut gelöst – eine zentralere Planung der Krankenhausversorgung wäre schon lange angesagt. Bei hoher COVID-19-Belastung werden Personalausfälle daher negative Konsequenzen haben.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Annette Rogge: „Keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Max Geraedts: „Interessenkonflikte liegen bei mir nicht vor.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Kesecioglu J et al. (05.03.2020): Preparing for COVID-19: Shared experience & guidance from our colleagues in Northern Italy. European Society of Intensive Care Medicine.

[II] Nacoti M et al. (21.03.2020): At the Epicenter of the Covid-19 Pandemic and Humanitarian Crises in Italy: Changing Perspectives on Preparation and Mitigation. NEJM Catalyst. DOI: 10.1056/CAT.20.0080.

[III] Robert Koch-Institut (2019): Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland, Saison 2018/19. DOI: 10.25646/6232.

[IV] Ansart S et al. (2009): Mortality burden of the 1918–1919 influenza pandemic in Europe. Influenza Other Respir Viruses; 3(3): 99–106. DOI: 10.1111/j.1750-2659.2009.00080.x

[V] SMC (21.03.2020): Warten auf die COVID-19-Welle: Situation auf den Intensivstationen. Rapid Reaction.

[VI] Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (2020): DIVI Intensivregister.

[VII] Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (2020): Daten des DIVI Intensivregisters im Überblick.

[VIII] Pressemitteilung des Gemeinsamen Bundesausschusses (20.03.2020): Hecken: „G-BA ermöglicht notwendige maximale Flexibilität beim Einsatz von Intensivpflegepersonal zur Sicherstellung der Versorgung von COVID-19-Erkrankten“.

[IX] Arbeitsgruppe Ethik (17.03.2020): Allokation intensivmedizinischer Ressourcen aus Anlass der Covid-19-Pandemie.Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin.

Weitere Recherchequellen, die von den Experten empfohlen wurden

Michalsen et al. (2013): End-of-Life Care in der Intensivmedizin. Springer. ISBN 978-3-642-36944-5

Krütli P et al. (2018): Prioritätenliste und Kontingentberechnung. Pandemievorbereitung in der Schweiz. ETH Zürich. DOI: 10.21256/zhaw-5543.