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26.04.2024

Psychologische Wirkung und Regulierung von Tiktok

     

  • Tiktok und Tiktok Lite in der Kritik: Debatte in Europa und den USA über psychologische Auswirkungen und Suchtgefahr der Apps
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  • Regulierung steht im Raum, ist aber schwierig, da psychologische Folgen wissenschaftlich noch unzureichend erforscht sind
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  • Forschende: Belohnungssystem kann Suchtpotenzial verschärfen, weitere psychologische Forschung nötig, Tiktok-Verbot in EU unwahrscheinlich
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Die psychologischen Auswirkungen und die Regulierung von Tiktok sind momentan international ein heiß diskutiertes Thema. In den USA wird über ein Gesetz verhandelt, das Bytedance – den Mutterkonzern von Tiktok – dazu verpflichten würde, die Video-App an einen US-amerikanischen Investor zu verkaufen. Erst kürzlich hat auch der US-Senat dafür gestimmt. Auch wenn es dabei vor allem um den Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas und damit um geopolitische Interessen geht, wird in der Diskussion auch immer wieder angeführt, dass Tiktok Kinder und Jugendliche süchtig mache. In der EU geht es zurzeit vor allem um die Risikoabschätzung und potenzielle Suchtgefahr von Tiktok Lite. Darüber hinaus gibt es auch ein EU-Verfahren, das prüfen soll, ob Bytedance bei der Standard-Tiktok-App genug gegen Suchtgefahren und die Verbreitung illegaler Inhalte unternimmt.

Tiktok Lite ist im Grunde eine abgespeckte Version von Tiktok, die weniger Arbeitsspeicher und Speicherplatz benötigt und auch mit schlechterer Internetverbindung funktionieren soll. Unterschiedliche Versionen von Tiktok Lite gibt es schon seit einigen Jahren in bestimmten Ländern außerhalb der EU, seit April ist die App auch in Spanien und Frankreich verfügbar.

Bedenken gibt es gegen das Belohnungssystem der App, mit dem man durch bestimmte Aktivitäten – wie sich täglich einloggen, Videos schauen und liken, andere User auf die Plattform einladen oder Accounts folgen – digitale Münzen verdienen kann. Diese Münzen kann man dann für Gutscheine oder Geschenkkarten ausgeben oder an Content Creator abgeben. Eine große Sorge der Kritikerinnen und Kritiker ist, dass diese Mechanismen das Suchtpotenzial der App weiter verstärken könnten. Außerdem hätte Bytedance nach dem Digital Services Act eine Risikobewertung von Tiktok Lite einreichen müssen. Das war erst nicht passiert, mittlerweile hat die Firma diese Bewertung bei der EU ersten Medienberichten zufolge nachgereicht. Ein mit Tiktok verbundener Account auf X hat nun auch bekanntgegeben, Tiktok beziehungsweise Bytedance würde das Belohnungssystem von Tiktok Lite pausieren und die Bedenken der EU-Kommission adressieren [I]. Diese Information lag zum Zeitpunkt, zu dem die Statements verfasst wurden, noch nicht vor.

Laut „Le Monde“ [II] gibt es bei Tiktok Lite ein tägliches Ziel von 3600 Münzen, was 36 Cent entsprechen soll und durch ungefähr eine Stunde Videos gucken erreichbar ist. Allerdings zählen nur vorgeschlagene Videos aus dem „For You“ oder dem „Followed“-Feed in diese Wertung. Für Videos, die man aktiv sucht und nicht durch den Tiktok-Algorithmus vorgeschlagen bekommt, erhält man keine Münzen.

Es soll bei der Nutzung jedoch einige Einschränkungen geben. So sollen nur Personen über 18 Jahren bei Tiktok Lite Münzen verdienen können. Laut „Le Monde“ kann das per Ausweis, Foto oder Bank-Transaktion nachgewiesen werden. Darüber hinaus gibt es ein Maximum an Punkten, die täglich „verdient“ werden können.

Um in der aktuellen Debatte bei der Einschätzung zu helfen, wie es mit der Regulierung von Tiktok in der EU weitergehen könnte und was in der Forschung zur psychologischen Wirkung von Tiktok bekannt ist, haben wir Expertinnen und Experten aus den Fachgebieten der Plattformregulierung und Psychologie um Statements gebeten.

Übersicht

     

  • Anne-Linda Camerini, Ph.D., Lecturer and Researcher, Faculty of Biomedical Sciences, Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz
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  • Prof. Dr. Hannah Ruschemeier, Juniorprofessorin für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Datenschutzrecht/Recht der Digitalisierung, FernUniversität in Hagen
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  • Dr. Elisa Wegmann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilung Allgemeine Psychologie: Kognition, Universität Duisburg-Essen
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  • Prof. Dr. Matthias Kettemann, Programmleiter Forschungsprogramm „Regelungsstrukturen und Regelbildung in digitalen Kommunikationsräumen“, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI), und Universitätsprofessor für Innovation, Theorie und Philosophie des Rechts, Universität Innsbruck, Österreich
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  • Prof. Dr. Christian Montag, Professor für Molekulare Psychologie, Universität Ulm
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Statements

Anne-Linda Camerini, Ph.D.

Lecturer and Researcher, Faculty of Biomedical Sciences, Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz

Psychologische Wirkung von Tiktok

„Die Forschungslage zu den Auswirkungen der Tiktok-Nutzung auf unser Verhalten und Wohlbefinden ist noch recht dünn [1]. Theoretisch fundierte, methodisch valide und durch ein Peer-Review-Verfahren unabhängig bewertete Studien brauchen Zeit und so hinkt die Forschung den rasanten Entwicklungen gerade im Bereich der sozialen Medien chronisch hinterher. Vor allem der methodische Aspekt ist eine Herausforderung für die Forschung, da Nutzungsdaten, die in der App gesammelt werden, für Forschende nicht zugänglich sind und die vielseitige, in den Alltag eingebettete Nutzung besonders bei Kindern und Jugendlichen schwer mittels Fragebögen erfasst werden kann. Nichtdestotrotz gibt es erste Hinweise darauf, dass Tiktok sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann [2]. So ermöglicht die App, durch das Erstellen und Teilen von Videos kreativ zu sein, sein Selbst auszudrücken, und die eigene Identität zu entwickeln. Auf der anderen Seite besteht durch die mittels Algorithmen höchst personalisierte Nutzung auch das Risiko, eine Abhängigkeit zu entwickeln.“

Belohnungsfunktion von Tiktok Lite

„Den sozialen Medien wird schon seit längerem ein Suchtpotenzial zugesprochen, auch wenn es keine klinisch anerkannte Diagnose dafür gibt. Dagegen ist man beim Thema Internetgaming schon weiter, und es gibt erste Kriterien, die helfen können, eine Internetgaming-Sucht zu erfassen. Internetgaming ist oft mit Challenges, Belohnungen und Personal Bests verbunden, die Spielende dazu verleiten, immer weiterzumachen. Wenn nun Challenges und Belohnungen in soziale Medien eingebettet werden, wie zum Beispiel bei Tiktok Lite, dann kann diese Form der Gamification zu einer erhöhten Abhängigkeit beitragen.“

„Es braucht jedoch entsprechende Studien, um die Hypothese eines erhöhten Suchtpotenzials von Tiktok Lite zu testen. Tiktok-Nutzung ist komplex, und es ist schwierig herauszufinden, welche Funktionen welchen Einfluss haben. Ich denke, es ist nicht nur eine Funktion, sondern das Miteinander von beispielsweise Challenges, Algorithmen und Belohnungen (hierzu zählen auch Views und Likes), die zu einer erhöhten Abhängigkeit von Tiktok (Lite) beitragen können. Aus der Suchtforschung wissen wir, dass Kinder und Jugendliche erhöhte Risikogruppen sind, da bei ihnen der Bereich im Gehirn, der für die Selbstkontrolle zuständig ist – der präfrontale Cortex – noch nicht vollständig ausgebildet ist. Das Risiko einer Tiktok-Abhängigkeit ist umso größer, wenn die sozialen Strukturen fehlen, die den Kindern und Jugendlichen Alternativen zur Tiktok-Nutzung und gegebenenfalls Hilfe anbieten können, wenn die Nutzung nicht mehr ,normal‘ ist, das heißt, einen negativen Einfluss auf ihre schulischen Kompetenzen und Beziehungen im Alltag hat.“

Prof. Dr. Hannah Ruschemeier

Juniorprofessorin für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Datenschutzrecht/Recht der Digitalisierung, FernUniversität in Hagen

„Bei Tiktok Lite handelt es sich nicht um einen neuen, separaten Vermittlungsdienst oder eine eigene Online-Plattform unter der maßgeblichen Verordnung des Digital Services Act (DSA), sondern um eine neue Funktion von Tiktok. Tiktok selbst ist eine sehr große Online-Plattform unter dem DSA und damit besonderen Pflichten unterworfen, unter anderem der Bereitstellung einer Bewertung von systemischen Risiken, die von den Diensten insgesamt ausgehen. Systemische Risiken sind eine neue Kategorie, die Gefahren entgegenwirken soll, die über Beeinträchtigungen von einzelnen Nutzer:innen hinausgehen und die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Zu systemischen Risiken im Sinne von Artikel 34 des DSA gehören insbesondere auch Gefahren für den Schutz von Minderjährigen und nachteilige Folgen für das geistige und körperliche Wohlbefinden einer Person, die hier naheliegend sind. Vor der Einführung neuer Funktionen – wie jetzt Tiktok Lite – muss eine neue Risikobewertung erfolgen (Artikel 34 Absatz 1 Unterabsatz 2 Satz 1 DSA); dazu gehört das Verhältnis der Funktion zu den bisher ermittelten Risiken aber auch die Offenlegung neuer Risiken.“

Mögliche nächste regulatorische Schritte gegen Tiktok

„Die Aufsicht über Verstöße gegen den DSA sieht mehrere Eskalationsstufen vor. Die Kommission hat nun ein Untersuchungsverfahren nach Artikel 66 Absatz 1 DSA eingeleitet und verfolgt dabei zwei Aspekte: Zum einen hat die Kommission zur Verfahrensbeschleunigung eine Aufforderung an Tiktok übersendet, auf die Informationsaufforderung vom 17. April 2024 zu antworten und die Risikoeinschätzung zu übersenden. Dem ist Tiktok jetzt nachgekommen. Zum anderen kann die Kommission bereits vor einem Nichteinhaltungsbeschluss nach Artikel 73 Absatz 1 DSA vorläufige Maßnahmen nach Artikel 70 DSA erlassen. Dabei besteht ein weites Ermessen bei der Kommission, worunter auch eine zeitlich begrenzte Untersagung von Tiktok Lite zählen könnte. Als Ultima Ratio kann nach dem Beschluss eine nationale Aufsichtsbehörde den Zugang der Nutzer:innen zu Tiktok insgesamt einschränken (Artikel 82 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 51 Absatz 3 b) DSA). Die Hürden dafür sind allerdings sehr hoch: Der Verstoß muss einen schwerwiegenden Schaden verursachen und die Zuwiderhandlung eine Straftat darstellen, die das Leben oder die Sicherheit von Personen bedroht. Ein vollständiges Verbot von Tiktok in der nächsten Zeit halte ich für nicht realistisch, bis alle Sanktionsmöglichkeiten des DSA ausgeschöpft sind. Dieser Fall wird allerdings ein wichtiger Test für die effektiven Durchsetzungsmöglichkeiten unter dem DSA.“

Dr. Elisa Wegmann

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilung Allgemeine Psychologie: Kognition, Universität Duisburg-Essen

Psychologische Wirkung von Tiktok

„Studien, die explizit die Nutzung von Tiktok und die psychologischen Wirkmechanismen adressieren, sind aktuell nur vereinzelt vorhanden. Die Merkmale, die die App ausmachen, wie die Präsentation von personalisierten, kurzen Videos, lassen eine bedingte Vergleichbarkeit mit anderen Applikationen zu, sodass es weiteren Forschungsbedarf hinsichtlich der medienspezifischen Charakteristika und Wirkmechanismen einzelner Elemente bedarf. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass eine App nicht ,gut‘ oder ,schlecht‘ ist, sondern eine problematische Nutzung das Resultat des Zusammenspiels von individuellen Merkmalen, kognitiven Mechanismen und situativen Faktoren sowie möglichen medienspezifischen Elementen darstellt. Tiktok setzt Elemente wie Kurzvideos mit dem Ziel ein, Nutzerinnen und Nutzer so lange wie möglich bei der Applikation zu halten, und inkludiert Belohnungselemente wie Likes, vermeintlich nicht enden wollende Inhalte und starke Personalisierung. Aus anderen Studien zu dem Thema wissen wir, dass Likes das Belohnungssystem ansprechen und somit dazu führen können, eine bestimmte Applikation weiter zu nutzen.“

Belohnungsfunktion von Tiktok Lite

„Die bisherigen Elemente von Tiktok wie der endlose Inhalt, die Personalisierung und die kurzen, aufmerksamkeitsgenerierenden Videos könnten dazu führen, dass Personen grundsätzlich länger als beabsichtigt die App nutzen. Die Nutzungszeit selbst gilt aber nicht als primäres Merkmal eines suchtartigen Verhaltens. Es ist eher anzunehmen, dass ein bestimmtes Belohnungsempfinden wie die Befriedigung von grundlegenden Bedürfnissen – zum Beispiel Unterhaltung, Flucht vor dem Alltag, soziale Zugehörigkeit – durch die Nutzung erfolgt, sodass Personen die Verknüpfung von Bedürfnisbefriedigung und der Nutzung erlernen und immer wieder darauf zurückgreifen. Studien aus dem Bereich der Verhaltenssüchte oder auch der exzessiven Smartphone-Nutzung unterstreichen darüber hinaus, dass durch das Erleben positiver Emotionen und die Kompensation von möglichen Defiziten – wie der Umgang mit Stress oder soziale Isolation – ein bestimmtes Nutzungsverhalten intensiviert wird, was zu einer suchtartigen Nutzung führen kann. Auch eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Belohnungen und Impulsivität sowie eine reduzierte Inhibitionskontrolle und die Tendenz zu riskantem Entscheidungsverhalten gehen oft mit einer suchtartigen Nutzung verschiedener Internetanwendungen einher. Aktuell wird diskutiert, welche langfristige Rolle eine verminderte Selbstkontrolle in diesem Prozess spielt. Die neue Funktion greift nun ein weiteres Element auf, indem es monetäre Anreize setzt, die höher ausfallen, wenn die App länger und intensiver genutzt wird. Die genauen Wirkmechanismen und möglichen Folgen können zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden. Es ist aber anzunehmen, dass diese externe Belohnung mit der Aussicht auf einen Gewinn die bisherigen Elemente verstärken und ein weiteres Anreiz-System schaffen nach der Idee: ,Noch eine halbe Stunde, dann kann ich mir diesen Gegenstand kaufen.‘ Dies könnte das Nutzungsverhalten verschärfen, die Nutzungszeit erhöhen und insbesondere für Personen, die ein bereits riskantes Verhalten zeigen, zu einem höheren Risiko einer suchtartigen Nutzung führen. Es bedarf aber weiteren Forschungsbedarf zur Nutzung von Tiktok und Tiktok Lite, um bestimmte Risikogruppen zu identifizieren.“

Prof. Dr. Matthias Kettemann

Programmleiter Forschungsprogramm „Regelungsstrukturen und Regelbildung in digitalen Kommunikationsräumen“, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI), und Universitätsprofessor für Innovation, Theorie und Philosophie des Rechts, Universität Innsbruck, Österreich

Mögliche nächste regulatorische Schritte gegen Tiktok

„Tiktok hat innerhalb der gesetzten Frist einen Risikobewertungsbericht über die Tiktok-Lite-App (Task and Reward Lite) zu erstellen und der Kommission zu übermitteln. Sollte die EU-Kommission feststellen, dass die Tiktok-Lite-App gegen EU-Recht – insbesondere gegen Artikel 34 und 35 DSA – verstößt, so kann dies zu einem Aussetzen der Tiktok-Lite Funktionen, dem Belohnungssystem, in der gesamten EU führen. Falls die App jedoch im Einklang mit den geltenden EU-Gesetzen steht, kann sie neben Spanien und Frankreich auch in anderen EU-Mitgliedstaaten genutzt werden. Wie Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton sagt [3], scheint wahrscheinlich, dass Tiktok Lite ‚so schädlich und suchtfördernd‘ wie Light-Zigaretten sein kann.“

„Die Kritik an dem von Tiktok eingeführten Belohnungssystem ist, dass Tiktok vor Einführung bereits die mit dem System verbundenen Risiken, wie Suchtgefahr und die Auswirkung auf die psychische Gesundheit vor allem Minderjähriger, hätte bewerten und Risikominderungsmaßnahmen ergreifen müssen.“

„Artikel 34 DSA schreibt Anbietern großer Online-Plattformen wie Tiktok die Durchführung einer jährlichen Risikobewertung für ihre Dienste vor. Dabei werden alle systemischen Risiken wie die Verbreitung rechtswidriger Inhalte analysiert, die im Zusammenhang mit diesen Diensten stehen. Bei einem Verstoß drohen Geldbußen bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes, bei Verstößen gegen Informationspflichten bis zu einem Prozent (Artikel 52).“

Tiktok-Verbot in der EU

„Im Gegensatz zu den USA haben wir in der EU mit dem DSA ein umfangreiches Gesetz, welches insbesondere für sehr große Plattformen wie Tiktok gewisse Sorgfalts- und Transparenzpflichten vorschreibt. Bei Verstößen gegen diese Bestimmungen kann gegen die betreffende Plattform eine Geldbuße sowie weitere Sanktionen, die von den Mitgliedsstaaten selbst bestimmt werden, verhängt werden. Zu denken wäre an ein Verbot bestimmter App-Funktionen, aber nicht an ein gänzliches Verbot der App wie in den USA angedacht. Ein Verbot der App sollte überhaupt die Ultima Ratio sein, nämlich wenn die App trotz mehrfacher Ermahnung und Verfahren rechtswidrig handelt. Ein Verbot könnte die Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzen. Daher müsste geprüft werden, ob der Eingriff in das Grundrecht gerechtfertigt werden kann. Das Vorgehen des Kongresses in den USA gegen Tiktok ist nur aus innenpolitischen Gründen zu erklären und nicht rational nachzuvollziehen; außerdem erscheint es fraglich, ob das Verbot vor dem Supreme Court Bestand haben wird. Sollte Trump Präsident werden, würde dann auch der politische Support für ein Verbot fehlen.“

Wichtigste Aspekte der aktuellen Debatte

„Die Debatte um die App besteht schon seit einiger Zeit und Tiktok steht schon länger im Fokus der Behörden. Hauptkritikpunkte sind der unzureichende Schutz persönlicher Daten sowie der Schutz von Kindern und Jugendlichen auf der App. In einigen Ländern, darunter Österreich und Deutschland, wurde bereits die Installation und Nutzung der App auf Diensthandys untersagt – dies primär aus Datenschutz- und Sicherheitsgründen. Die Nutzung der App ist ab dem 13. Lebensjahr erlaubt, aufgrund mangelhafter Altersüberprüfung sind allerdings auch viele jüngere Personen auf der App. Die Nutzung der App ist überdies für Nutzer unter 16 Jahren eingeschränkt möglich, so werden manche Inhalte für Nutzer unter 16 Jahren nicht angezeigt. Auch zum Schutz von Minderjährigen geben Gesetze wie die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sowie der DSA bestimmte Pflichten vor. An Normen mangelt es dementsprechend nicht, aber an der Durchsetzung dieser. Besonders die nicht ausreichende Altersverifikation, die auch schon zu Sperrverfügungen der Landesmedienanstalten gegen Pornografie-Plattformen geführt hat, ist Tiktok vorzuwerfen. Das hoch addiktive algorithmische Design des Empfehlungssystems ist bemerkenswert und wohl auf sehr intensives Optimieren an Milliarden chinesischer Nutzer:innen im letzten Jahrzehnt zurückzuführen. Hier wird es sehr spannend sein, wie ernst das Unternehmen die Offenlegungspflichten nach dem DSA nimmt und auf was die algorithmischen Empfehlungssysteme ‚getrimmt‘ sind.“

Prof. Dr. Christian Montag

Professor für Molekulare Psychologie, Universität Ulm

Psychologische Wirkung von Tiktok

„Die Tiktok-Forschung ist im Vergleich zur Forschung zu anderen Plattformen noch recht jung. Es gibt erste Studien, die im Kontext der exzessiven Nutzung von Tiktok auch ein Suchtrahmenwerk testen [4] [5]. Unabhängig davon, ob das Suchtrahmenwerk in diesem Zusammenhang inhaltlich besonders gut passt: In jedem Fall arbeitet Tiktok – wie die anderen bekannten großen Plattformen – mit einem Datengeschäftsmodell, welches darauf abzielt, Onlinezeiten zu verlängern. Dadurch nimmt die Industrie in Kauf, dass manche Nutzende auch problematische Nutzungsweisen entwickeln. Aus der Literatur zur exzessiven Social-Media-Nutzung ist bekannt, dass besonders jüngere Menschen eher zu einer suchtähnlichen Nutzung von Social-Media-Plattformen neigen. Von daher ist diese Gruppierung von Nutzenden besonders schützenswert.“

Belohnungsfunktion von Tiktok Lite

„Ich denke, dass diese neuen Design-Mechanismen sehr kritisch zu sehen sind und das Potenzial haben, junge Menschen noch stärker auf der Plattform Tiktok zu halten. Für uns in der unabhängigen Forschung ist es allerdings sehr schwer, diese Design-Elemente und ihre Wirkung genau zu untersuchen. Aktuell haben wir – wenn überhaupt – nur unzureichenden Zugang zu entsprechenden Daten der Online-Plattformen. Meine Hoffnung ist, dass der Digital Services Act der EU hier für Besserung sorgt. Sowohl was den Jugendschutz betrifft als auch was den Zugang zu entsprechenden Daten der Plattformen betrifft, damit die hochrelevanten Fragen um die Nutzung von Tiktok und anderen Plattformen besser beantwortet werden können.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Anne-Linda Camerini, Ph.D.: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Hannah Ruschemeier: „Es bestehen keine Interessenkonflikte.“

Dr. Elisa Wegmann: „Im Hinblick auf den aktuellen Beitrag liegen von meiner Seite aus keine Interessenkonflikte vor. Meine Arbeit wird in Teilen von der Deutschen Forschungsgesellschaft finanziert.“

Prof. Dr. Matthias Kettemann: „Interessenkonflikte liegen keine vor.“

Prof. Dr. Christian Montag: „Prof. Dr. Montag meldet keine Interessenkonflikte. Aus Gründen der Transparenz erwähnt er jedoch, dass er (an die Universität Ulm und früher an die Universität Bonn) Forschungsgelder von Einrichtungen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erhalten hat. Er hat Förderanträge für mehrere Agenturen begutachtet; Artikel in Fachzeitschriften begutachtet; akademische Vorträge in klinischen oder wissenschaftlichen Einrichtungen oder Unternehmen gehalten; und hat Bücher oder Buchkapitel für Verleger von Texten zur psychischen Gesundheit verfasst. Für einige dieser Tätigkeiten hat er Honorare erhalten, jedoch nie von Gaming- oder Social-Media-Unternehmen. Er erwähnt, dass er Teil eines Gesprächskreises bei Facebook (Digitalität und Verantwortung) war, der ethische Fragen im Zusammenhang mit sozialen Medien, Digitalisierung und Gesellschaft/Demokratie diskutierte. In diesem Zusammenhang erhielt er kein Gehalt für seine Tätigkeit. Schließlich gibt er an, dass er derzeit auch als unabhängiger Wissenschaftler im wissenschaftlichen Beirat der Gruppe Nymphenburg (München, Deutschland) tätig ist. Diese Tätigkeit wird finanziell abgegolten. Außerdem ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Applied Cognition (Redwood City, CA, USA), eine Tätigkeit, die ebenfalls vergütet wird.“

Weiterführende Recherchequellen

Science Media Center (2023): Auswirkungen sozialer Medien auf mentale Gesundheit. Press Briefing. Stand: 12.12.2023.

Montag C et al. (2024): Safeguarding young users on social media through academic oversight. Comment. Nature Reviews Psychology. DOI: 10.1038/s44159-024-00311-2.

Brand M et al. (2016): Integrating psychological and neurobiological considerations regarding the development and maintenance of specific Internet-use disorders: An Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model. Neuroscience & Biobehavioral Reviews. DOI: 10.1016/j.neubiorev.2016.08.033.

Bucknell Bossen C et al. (2020): Uses and gratifications sought by pre-adolescent and adolescent TikTok consumers. Young Consumers. DOI: 10.1108/YC-07-2020-1186.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Montag C et al. (2021): On the Psychology of TikTok Use: A First Glimpse From Empirical Findings. Frontiers in Public Health. DOI: 10.3389/fpubh.2021.641673.

[2] Tang L et al. (2021): Influence Of Tiktok Usage Toward Positive Emotion And Relationship. European Proceedings of Social and Behavioural Sciences, Breaking the Barriers, Inspiring Tomorrow. DOI: 10.15405/epsbs.2021.06.02.36.

[3] Thierry Breton auf X (17.04.2024).

[4] Montag C et al. (2024): Depressive inclinations mediate the association between personality (neuroticism/conscientiousness) and TikTok Use Disorder tendencies. BMC Psychology. DOI: 10.1186/s40359-024-01541-y.

[5] Yao N et al. (2023): Depression and social anxiety in relation to problematic TikTok use severity: The mediating role of boredom proneness and distress intolerance. Computers in Human Behavior. DOI: 10.1016/j.chb.2023.107751.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] TikTok Policy Europe auf X (24.04.2024).

[II] Defer A (13.04.2024): TikTok Lite, a new app quietly released in France that rewards screen time. Le Monde.