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21.12.2020

Mutationen in SARS-CoV-2-Variante in UK und Erbgut-Analysen in Deutschland

In der britischen Bevölkerung breitet sich seit September 2020 beschleunigt eine neuartige Virusvariante von SARS-CoV-2 aus, die einige Mutationen in sich vereint, die nach ersten Befunden für eine höhere biologische Übertragbarkeit sprechen. Das SMC hat deutsche Expertinnen und Experten unter anderem gefragt, wie gut Deutschland darauf vorbereitet ist, solche Virusvarianten im Rahmen von SARS-CoV-2-Surveillance schnell aufzuspüren.

Britische Forscher des COVID-19 Genomics Consortium (COG-UK) haben einen Steckbrief des neuen B.1.1.7.-Clusters von Viren veröffentlicht. Offiziell zählt die neue Variante zum sogenannten Nextstrain Klade 20B, GISAID Klade GR, Linie B.1.1.7. [I]; die Variante wird auch VUI-202012/01 genannt, abgekürzt für die erste „Variant under Investigation“ aus Dezember 2020. Einen ersten Überblick über die in VUI-202012/01 aufgetreten einzelnen Mutationen und das biologische Wissen über deren möglichen Einfluss auf die virale Fitness wird in diesem Dokument des COG-UK zusammengefasst [II].

Die neue Virusvariante ist definiert durch mehrere Mutationen im Spike-Protein (Deletion 69-70, Deletion 144, N501Y, A570D, D614G, P681H, T716I, S982A, D1118H) – das Protein ermöglicht dem Virus, in menschliche Zellen einzudringen – sowie weitere Mutationen in anderen Regionen des Erbguts [I]. Eine der biologisch sicher bedeutsamen Mutationen (N501Y) befindet sich direkt innerhalb der Rezeptor-Bindungsdomäne und nimmt Kontakt mit dem menschlichen ACE2-Rezeptor auf Wirtszellen des Virus auf. Phylogenetische Analysen legen zudem nahe, dass es kaum Zwischenformen zwischen dieser neuen Variante und anderen zirkulierenden SARS-CoV-2-Varianten gibt, die an die Sequenzdatenbank GISAID gemeldet wurden. Ob sich die Variante wirklich explosiv verbreitet, ist derzeit noch unklar. Genauere epidemiologische Daten sollen diese Woche in betroffenen Regionen im Vereinigten Königreich erhoben werden, schreiben Experten der „New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group“ (NERVTAG) in Großbritannien [III]. In dem kurzen Report werden relevante Erkenntnisse und erste laufende Experimente beschrieben, die klären könnten, ob die neue Virusvariante von SARS-CoV-2 tatsächlich leichter übertragen wird und welche biologische Eigenschaften ihr einen möglichen evolutionären Selektionsvorteil verschafft haben. Studien in Zellkultur und Tierversuche müssen erst bestätigten, wie sich Viren mit einigen oder allen beobachteten Mutationen verhalten verglichen mit anderen Virusisolaten. Die NERVTAG-Experten schreiben vorsichtig, es bestehe „moderates Vertrauen“, dass VUI-202012/01 zu einer „wesentlichen Steigerung der Übertragbarkeit im Vergleich zu anderen SARS-CoV-2-Varianten führen könnte“ [III]. Für eine mögliche Erhöhung des R-Wertes der Variante – er beschreibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Mittel ansteckt und damit auch mit welcher Dynamik sich das Virus verbreitet – geben sie dort eine große Spannweite von 0,39 bis 0,93 an, was zeigt, wie unsicher diese Schätzungen noch sind. Erste Berichte zitierten einen Wert von 0,4.

Die Europäische Seuchenbehörde ECDC hat in einem „Threat Assessment Brief“ ebenfalls erste Erkenntnisse über die neue Virusvariante zusammengetragen, so berichteten zum Beispiel neben dem Vereinigten Königreich auch Dänemark (9), die Niederlande (1), Australien (1) und womöglich Belgien (4) über Nachweise des Erregers [IV]. Aus Deutschland sind bis zum 21.12.2020 keine Nachweise von B.1.1.7.-Viren bekannt geworden, die Datenbank des Konsiliarlabors für SARS-CoV-2 am Institut für Virologie der Charité in Berlin weist bisher keine Treffer auf [V]. Allerdings werden in Deutschland nicht wie im COG-UK Konsortium der Vereinigten Königreich fünf bis zehn Prozent aller positiven Virusproben komplett sequenziert. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass die neuartige Virus-Variante bereits nach Deutschland eingeschleppt wurde.

Übersicht

     

  • PD Dr. Roman Wölfel, Oberstarzt und Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr, München
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  • Prof. Dr. Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien, Biozentrum, Universität Basel, Schweiz
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  • Prof. Dr. Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie, Universitätsklinikum Düsseldorf
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Statements

PD Dr. Roman Wölfel

Oberstarzt und Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr, München

„Am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München sequenzieren wir seit dem Frühjahr dieses Jahres immer wieder SARS-CoV-2-Isolate aus unseren diagnostischen Einsendungen. Die jetzt in Großbritannien beschriebene Variante haben wir in dieser Form tatsächlich bisher bei unseren Patientenproben nicht beobachtet.“

„Allerdings untersuchen wir in Zusammenarbeit mit anderen Partnern auch schon seit einiger Zeit Proben von immunsupprimierten Personen mit einer SARS-CoV-2-Infektion. Dabei haben wir – genauso wie andere Forschungsgruppen – mehr genetische Veränderungen in den Viren gefunden, als bei SARS-CoV-2-Infektion von Immungesunden. Es ist daher für mich sehr plausibel, dass eine langandauernde Infektion bei einem Patienten mit reduzierter Immunkompetenz zur Akkumulation von Immune-Escape-Mutationen (Mutationen, die es dem Virus ermöglichen, der Immunantwort zu entkommen; Anm. d. Red.) führen kann.“

„Das britische SARS-CoV-2-Genomsequenzierungskonsortium COG-UK ist ein Zusammenschluss sehr leistungsstarker Einrichtungen aus den nationalen öffentlichen Gesundheitsinstituten, Organisationen des National Health Service, akademischen Einrichtungen und dem Wellcome Sanger Institute. Die Zusammenarbeit dieser Partner auf dem Gebiet der Genomsequenzierung ist nicht neu und baut auf anderen Projekten aus der Zeit vor der Pandemie auf. COG-UK leistet einen sehr großen Beitrag zur GISAID-EpiCov-Datenbank, in der bisher mehr als 120.000 Virusgenome veröffentlicht sind. Die Arbeit des Konsortiums erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass neu auftretende Varianten zeitnah identifiziert und bewertet werden können.“

„Leider gibt es außerhalb von Großbritannien nur wenige vergleichbar starke Genomsequenzierungsnetzwerke. Wie viele andere Fähigkeiten auch, muss man solche Kapazitäten langfristig aufbauen und fördern, um sie dann bei einem besonderen Bedarf wie der jetzigen COVID-19-Pandemie schnell und effektiv einsetzen zu können.“

„Abschätzungen wie eine Erhöhung der Reproduktionszahl (R) um mindestens 0,4 mit einer geschätzten erhöhten Übertragbarkeit von bis zu 70 Prozent lassen sich aus einer großen Zahl von Genomsequenzierungsdaten gewinnen. Auf der Basis der in Großbritannien vorliegenden Daten kann man tatsächlich Übertragungswahrscheinlichkeiten für verschiedene Virusvarianten ausrechnen. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man regelmäßig über einen längeren Zeitraum sehr viele Genomdaten gewinnt. Dann kann man, unter der Annahme das alle Virusvarianten mit gleicher Wahrscheinlichkeit beprobt werden, die Geschwindigkeit ihrer Ausbreitung ableiten. Das entsprechende methodische Vorgehen haben Erik Volz und Kollegen zum Beispiel in diesem Paper beschrieben [1].“

Prof. Dr. Richard Neher

Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien, Biozentrum, Universität Basel, Schweiz

„Vermutlich ist die im Vereinigten Königreich gefundene Variante auch schon in Deutschland zu finden, aber ob nur ganz vereinzelt oder als substanzieller Bruchteil ist nicht klar.“

„Die Erhöhung des R-Wertes, wie für die Variante im Vereinigten Königreich berechnet, wird in erster Linie abgeschätzt aus der Rate mit der sie andere Varianten verdrängt.“

Prof. Dr. Jörg Timm

Leiter des Instituts für Virologie, Universitätsklinikum Düsseldorf

„In Deutschland sind die Bemühungen bei den SARS-CoV-2-Sequenzierungen in meinen Augen nicht ausreichend. Großbritannien hat vorgemacht, wie man entsprechende Strukturen aufbauen kann. Das haben wir in Deutschland – aber auch in vielen anderen europäischen Ländern – bisher verpasst. Ich bin davon überzeugt, dass durch die Analyse von SARS-CoV-2-Sequenzen wichtige zusätzliche Informationen gewonnen werden können. Zum einen können neue zirkulierende Varianten frühzeitig detektiert werden. Für weitere Untersuchungen der biologischen Eigenschaften von neuen Virusvarianten ist das natürlich die Basis. Zum anderen lassen sich über die Analyse von Virussequenzen zusammen mit den Daten zum Kontaktpersonenmanagement der öffentlichen Gesundheitsdienste auch Verbreitungswege von SARS-CoV-2 besser nachvollziehen. Durch Vergleiche von Virussequenzen können Verbindungen hergestellt werden, die dem Kontaktpersonenmanagement entgehen. Umgekehrt konnten wir auch schon bei vermuteten Ausbrüchen durch Genomanalysen zeigen, dass es sich um unabhängige Infektionsereignisse handelt. Für das Verständnis der Übertragungswege sind solche Untersuchungen sehr wichtig.“

„Die Datengrundlage in Deutschland ist für belastbare Aussagen zur Verbreitung einzelner SARS-CoV-2-Varianten nicht ausreichend. Neben den Bemühungen des Konsiliarlabors in Berlin gibt es nur wenige weitere Standorte, die regelmäßig Sequenzdaten erstellen. Auch werden die Sequenzen nicht immer konsequent und zeitnah in öffentlich zugängliche Datenbanken wie zum Beispiel GISAID hinterlegt. Es ist selbstverständlich wichtig, dass die Sequenzen auch möglichst schnell für die Wissenschaft zugänglich sind, damit weitere Untersuchungen durchgeführt werden können. Mit bisher etwa 400 Virussequenzen in GISAID zählen wir in Düsseldorf mit zu den wichtigsten Lieferanten von SARS-CoV-2-Sequenzen aus Deutschland. Das ist für fundierte Analysen der Verteilung von Virusvarianten natürlich viel zu wenig. Für systematische Untersuchungen wäre daher eine deutliche Ausweitung der Virussequenzierung notwendig. Dazu zählt eine Strategie, nach welchen Kriterien Proben für eine Virussequenzierung ausgesucht werden, damit ein möglichst repräsentatives Bild der zirkulierenden Varianten entsteht. Da diese Strukturen bisher fehlen, haben wir momentan nur ein sehr lückenhaftes und verzerrtes Bild von SARS-CoV-2-Varianten und würden es wahrscheinlich erst sehr spät bemerken, wenn neue Varianten in Deutschland zirkulieren. Ein Grund für die fehlenden Strukturen in Deutschland ist die fehlende finanzielle Ausstattung für die SARS-CoV-2-Sequenzierung. Das Nationale Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin wäre aus meiner Sicht die ideale Plattform für eine entsprechende Surveillance von Virusvarianten gewesen, da dort alle wichtigen Akteure in einer Netzwerkstruktur vereint sind. Leider findet sich das Thema in dem Netzwerk nicht ausreichend wieder. Ich finde, da hat man eine große Chance verpasst.“

„Die gesicherten Erkenntnisse über die Variante im Vereinigten Königreich sind noch sehr lückenhaft. Die Tatsache, dass die Variante sich so rasch in England verbreitet, lässt schon vermuten, dass die Übertragung dieser Variante effizienter ist. Das bedeutet nicht, dass die Variante auch eine schwerere Erkrankung auslöst. Dazu gibt es keine gesicherten Daten, dem ersten Eindruck zufolge ist das aber nicht der Fall. Die angegebene Erhöhung des R-Werts für die Variante um 0,4 basiert nach meinem Verständnis auf Vergleichen der R-Werte aus Regionen mit dieser Variante und Regionen, in denen die Variante nicht vorkommt. Das können natürlicherweise nur grobe Schätzungen sein. Es fehlen noch Laboruntersuchungen, in denen die biologischen Eigenschaften der Variante genauer untersucht werden. Dazu zählt auch die Frage, ob die Variante für die Immunantwort ein Problem darstellen kann.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Volz E et al. (2020): Evaluating the Effects of SARS-CoV-2 Spike Mutation D614G on Transmissibility and Pathogenicity. Cell. DOI: 10.1016/j.cell.2020.11.020.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Rambaut A et al. (19.12.2020): Preliminary genomic characterisation of an emergent SARS-CoV-2 lineage in the UK defined by a novel set of spike mutations. Bericht im Diskussionsforum Virological.

[II] COG-UK (20.12.2020): COG-UK update on SARS-CoV-2 Spike mutations of special interest Report 1.

[III] News an Emerging Respiratory Viruses Threats Advisory Group (18.12.2020): NERVTAG meeting on SARS-CoV-2 variant under investigation VUI-202012/01.

[IV] ECDC (20.12.2020): Rapid increase of a SARS-CoV-2 variant with multiple spike protein mutations observed in the United Kingdom.

[V] Genomdatenbank des Konsiliarlabors der Charité: German SARS-CoV-2 sequences.

Weitere Recherchequellen

Science Media Center (2020): Mutationen von SARS-CoV-2 und mögliche Effekte auf den Pandemieverlauf. Press Briefing. Stand: 23.06.2020.