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24.08.2016

Konzeption Zivile Verteidigung

Am 24. August 2016 hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière die neue „Konzeption Zivile Verteidigung“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Öffentlichkeit bereits intensiv über einige der Inhalte diskutiert. Oft ging es dabei um die Frage, ob dieses Konzept in der aktuellen Situation nach den Terroranschlägen von Würzburg und Ansbach, dem Amoklauf in München und den wiederholten Spannungen zwischen Russland und der NATO schlichte Panikmache ist.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Henning Goersch, Professor für Bevölkerungsschutz, Lehrstuhl für Emergency Practitioner und Emergency Management, Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften, Berlin
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  • Prof. Dr. Silja Vöneky, Direktorin der Abteilung 2 Völkerrecht und Rechtsvergleichung und Professorin für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Rechtsethik und Rechtsvergleichung, Institut für Öffentliches Recht, Universität Freiburg, Freiburg
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  • Prof. Dr. Dirk Helbing, Professor für Computational Social Science, ETH Zürich, sowie Mitglied in der Schweizer Expertenkommission zur Zukunft der Datenbearbeitung und Datensicherheit und Mitglied in der Kommission „Digitalisierte Gesellschaft“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Zürich
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  • Prof. Dr. Harald Karutz, Professor für Notfall- und Rettungsmanagement, Medical School Hamburg, Hamburg, und Leiter des Notfallpädagogischen Institut, Essen
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  • Dr. Gabriele Hufschmidt, Wissenschaftliche Koordinatorin des Masterstudiengangs „Katastrophenvorsorge und Katastrophenmanagement“, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn
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Prof. Dr. Henning Goersch

Professor für Bevölkerungsschutz, Lehrstuhl für Emergency Practioner/Emergency Management, Akkon-Hochschule, Hamburg:

„Die ‚Konzeption Zivile Verteidigung’ ist grundsätzlich als vollständig zu betrachten. Es muss dabei berücksichtigt werden, dass sich die Perspektive des Papiers aus dem Begriff ‚Zivile Verteidigung’ (vergleiche auch GG §73 Abs. 1 Satz 1) ergibt, der durch das Bundesministerium des Innern 1964 definiert wurde. Die Überschriften der Kapitel 5, 6, 7 und 8 inklusive der meisten Unterkapitel, entsprechen dieser Definition. Konkretisierungen der Konzeption sollen durch eine Reihe von weiteren Planungen vollzogen werden (vergleiche S. 64f.), wobei die Ausführungen des Papiers aktuell keine wesentlichen Neuerungen zu den bekannten Konzepten enthalten.“

„Wissenschaftliche Grundlage des Berichtes ist offensichtlich weitgehend die Studie ‚Analyse sicherheitspolitischer Bedrohungen und Risiken unter Aspekten der Zivilen Verteidigung und des Zivilschutzes’ [1]. Darüber hinaus werden Bezüge zum ‚Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr’ sowie zu den Risikoanalysen von Bund und Ländern hergestellt. Warum das wissenschaftliche Beratungsgremium ‚Schutzkommission beim Bundesminister des Innern’ im Jahr 2015 gerade in der durch die ‚Konzeption Zivile Verteidigung’ beschriebenen Situation aufgelöst wurde, ist schwer nachvollziehbar.“

„Erneut ist hier der Hinweis notwendig, dass Grundlage aller Betrachtungen in der ‚Konzeption Zivile Verteidigung’ die gesetzlichen Grundlagen und deren Fokus sind. Dabei spielt auch die jahrzehntealte Debatte über die Trennung von Zivil- und Katastrophenschutz eine wesentliche Rolle: Welche genaue Abgrenzung lässt sich ziehen? Welche Szenarien lassen sich eindeutig zuordnen? Was ist bei verschwimmenden Grenzen zu tun? Man behilft sich daher mit Konstruktionen wie der ‚Katastrophenhilfe’ durch den Bund an die Länder oder mit dem übergreifenden Begriff ‚Bevölkerungsschutz.“

„Die Verwundbarkeit moderner Gesellschaften nimmt extrem zu. Grund hierfür sind die Steigerung von Komplexität und Kopplung von Versorgungssystemen aller Art. Bereits geringfügige Störungen, beispielsweise durch ein lokales Extremwetterereignis, einen Cyberangriff oder einen terroristischen Anschlag, können kaskadenartig verheerende Auswirkungen entwickeln. Aus Perspektive der zivilen Verteidigung sind die Szenarien angemessen.“

„Die Konzeption betrachtet Verwundbarkeit und Ressourcenabhängigkeit aus Perspektive der zivilen Verteidigung. Damit wird das Pendant zum ‚Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr’ geschaffen, welches wiederum einen militärischen Fokus hat.“

„Die Gesamtheit aller intendierten und nicht-intendierten, zum Beispiel auf natürlichen Ursachen beruhenden, Angriffspunkte kann jedoch nur durch eine ganzheitliche Betrachtung der Risiken erfolgen, beispielsweise in einem entsprechenden umfassenden Bevölkerungsschutzkonzept, für das es allerdings keine rechtliche Grundlage gibt.“

„In einer stark vernetzten, eng gekoppelten und hoch komplexen Gesellschaft ist die Vorbereitung des Einzelnen und dadurch die Schaffung entsprechender Redundanzen der wirkungsvollste Mechanismus der Bewältigung von Schadensereignissen. Ich habe viele Jahre zu diesem Thema geforscht [2]. Die wichtigsten Erkenntnisse sind: Die Empfehlungen müssen realistisch und umsetzbar sein. Es kann daher nicht eine Empfehlung geben, die für jeden Menschen Gültigkeit besitzt. Darüber hinaus ist eine Vielzahl von Zielgruppen zu betrachten, die jeweils ein angepasstes Konzept benötigen. Letztlich müssen die Maßnahmen lokal und möglichst in persönlicher Beratung verbreitet werden, wie zum Beispiel durch die Sicherheitsinformationszentren in Österreich.“

„Die Bevölkerung in Deutschland ist fast vollkommen unvorbereitet. Dies lässt sich mit Hilfe von Studien gut zeigen. Dazu tragen unter anderem die ständige Verfügbarkeit nahezu jeglicher Waren und Dienstleistungen bei, sowie die Tatsache, dass Notfall- und Katastrophenwissen über viele Jahrzehnte immer mehr zu Expertenwissen geworden ist.“

„Vielfach werden die Schweiz und Japan als vorbildlich in der Vorbereitung der Bevölkerung genannt: die Schweiz vor allem auf Grund von allgemeinen Dienstpflichten, Schutzraumbau und gesetzlichen Regelungen; Japan vor allem auf Grund von in viele Alltagssituationen inkludierte Katastrophenübungen.“

„Ergänzend lässt sich festhalten: Weit mehr als 90 Prozent der Menschen weltweit werden bei Katastrophen von Laien (Freunden, Bekannten, Verwandten, Fremden) gerettet. Dies vor allem, weil diese bereits vor Ort sind und weil in Katastrophen meist pro-soziales Verhalten überwiegt. Dies zeigt sich in Studien sehr deutlich, teilweise trotz anderslautender Berichterstattung. Hier existiert also enormes Potential, das bei der Bewältigung von Katastrophen stärker berücksichtigt und gefördert werden sollte.“

„Menschen lassen sich meist ungern evakuieren, weil sie Angst vor Plünderungen haben. Diese Angst ist häufig unbegründet. Wenn Menschen in einer Evakuierung ein Gebiet verlassen, suchen sie möglichst Verwandte oder Freunde auf. Hinzu kommen spontane Hilfsangebote von Fremden.“

„Bei Evakuierungen der angesprochenen Größenordnung sind viele Aufnahmemöglichkeiten nur durch Improvisation zu realisieren. Die hier benannte Größe ist daher ein ausreichender planerischer Ansatzpunkt. Wichtig sind vor allem die Organisation des Transports, die ausreichende zwischenzeitliche Versorgung sowie – sofern möglich – die weitere Verteilung auf private Haushalte.“

Prof. Dr. Silja Vöneky

Direktorin der Abteilung 2 Völkerrecht und Rechtsvergleichung und Professorin für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Rechtsethik und Rechtsvergleichung, Institut für Öffentliches Recht, Universität Freiburg, Freiburg:

„Bezüglich der CBRN-Gefahren (chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren; Anm. d. Red.) werden die Besonderheiten biologischer Wirkstoffe aus meiner Sicht nicht hinreichend berücksichtigt. Biologische Erreger bzw. Kampfstoffe sind besonders schwer zu erkennen und besonders schwer zu bekämpfen, insbesondere wenn es sich um übertragbare Erreger handelt. Geschieht ein Anschlag auf ein Labor in Deutschland, in der EU oder in angrenzenden Staaten wie der Schweiz, sollte zudem ein einfaches Warnsystem greifen, wie es im Fall der Maul-und Klauenseuche schon besteht. Um kritische Infrastruktur in diesem Bereich schützen zu können, sollte jedenfalls eine zentrale Übersicht über alle BSL2-, BSL3- und BSL4-Labore (Labore der Bioschutzstufen 2 bis 4, Anm. d. Red.) in Deutschland und möglichst angrenzenden Staaten bestehen und eine zentrale Meldestelle eingerichtet werden, an die Gefahren gemeldet werden können. Zudem sollte sichergestellt werden, dass die jeweiligen Einsatzkräfte vor Ort besondere Schulungen erhalten, wenn in einer Stadt oder Gemeinde BSL-Labore bestehen, die Anschlagsziele sein können.“

„Für alle relevanten Gefahren sollte ein Warnsystem entwickelt werden, das insbesondere auch vulnerable Gruppen (Kinder, Alte, Kranke etc.) über die Gefahren so informiert, dass diese verstanden werden können und Selbstschutzmaßnahmen eingeleitet werden können. Dies wird in der ‚Konzeption Zivile Verteidigung’ des Bundesinnenministeriums (KZV des BMI) nicht betont.“

„Auch wenn die flächendeckende Bereitstellung öffentlicher Schutzräume nicht realisierbar ist, wie in der KZV festgestellt, sollte insbesondere in großen Ballungsräumen damit gerechnet werden, dass gerade bei kurzer oder fehlender Vorwarnzeit viele Menschen auf öffentliche Schutzräume angewiesen sein könnten. Diese sollten daher in Ballungszentren zur Verfügung stehen und schnell zugänglich sein.“

„Aufnahmemöglichkeiten in Höhe von 1 Prozent der Wohnbevölkerung durch die Länder erscheint als ein zu schematischer Wert, der den Besonderheiten verschiedener Gebiete in Deutschland nicht gerecht wird. Insbesondere wenn CBRN-Risiken besonders hoch sind, weil Atomkraftwerke, Labore oder chemische Anlagen in unmittelbarer Nähe (in Deutschland oder im angrenzenden Ausland) in Betrieb sind, sollte ein deutlich höherer Wert angesetzt werden, der einheitlich festgesetzt wird und nicht in das Ermessen der Länder gestellt wird.“

„Um Schadensereignisse in deutschen und grenznahen Kernkraftwerken und die Gefahren für die Bevölkerung zuverlässig feststellen zu können, reicht es nicht aus, sich darauf zu verlassen, dass ein Anlagenbetreiber unverzüglich die zuständigen Behörden benachrichtigt. Es sollten – vielmehr sofern noch nicht vorhanden – gerade in Städten und Gemeinden im Umfeld von Kernkraftwerken regelmäßige Messungen der Radioaktivität erfolgen, um gesundheitsschädliche Strahlungen unter Umständen auch ohne Hinweise des inländischen oder ausländischen Betreibers entdecken zu können. Evakuierungspläne sollten in besonders gefährdeten Gebieten nicht nur zur Verfügung gestellt werden, sondern durch regelmäßige Notfallübungen – in die die Bevölkerung einbezogen wird – auch praktisch handhabbar gemacht und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden.“

„Systemische Risiken können minimiert werden, indem Notfallsysteme, die unabhängig voneinander funktionieren – Energie, Wasser etc. – entweder vom Staat bereitgestellt werden und/oder von den Betreibern eingesetzt werden müssen. Letzteres kann aber nicht durch Selbstverpflichtungen gewährleistet werden, da die Anreize privater Betreiber gering sind, für Risiken mit geringer Wahrscheinlichkeit vorzusorgen, wenn die Kosten für diese Vorsorge nicht unerheblich sind.“

„Hinreichender Selbstschutz kann nur erreicht werden, wenn es zum einen eine regelmäßige, realistische, leicht verständliche Aufklärung über relevante Gefahren und Risiken für alle Gruppen der Bevölkerung gibt, auch beispielsweise durch Apps, und zum anderen Selbstschutzmaßnahmen leicht verfügbar gemacht werden und ihre praktische Anwendung regelmäßig geübt wird, wie beispielsweise ein Standard-Selbstschutz-Set zu einem günstigen Preis, das in jeder Apotheke angeboten und beworben wird.“

Anmerkung der Redaktion:
Prof. Dr. Silja Vöneky ist außerdem Mitglied des Centre for Security and Society der Universität Freiburg, war als früheres Mitglied des Deutschen Ethikrates (bis April 2016) Leiterin der Arbeitsgruppe Biosicherheit und war Leiterin des rechtswissenschaftlichen, BMBF-geförderten Projektes „Kompetenznetzwerk für das Recht der zivilen Sicherheit in Europa“; im Rahmen ihres Forschungsjahres an der Harvard Law School (08/2015 bis 08/2016) hat sie sich mit Risikominimierungspflichten für Staaten bezüglich existentieller Risiken durch Forschung und Technik beschäftigt. Außerdem ist sie Mitglied im Fachbeirat des Science Media Center Germany.

Prof. Dr. Dirk Helbing

Professor für Computational Social Science, ETH Zürich, sowie Mitglied in der Schweizer Expertenkommission zur Zukunft der Datenbearbeitung und Datensicherheit und Mitglied in der Kommission „Digitalisierte Gesellschaft“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Zürich:

„Zunächst möchte ich betonen, dass mich die ‚Konzeption Zivile Verteidigung’ viel optimistischer über unsere Zukunft macht. Der kluge Mensch baut vor, dann gibt es auch keinen Grund zu Hysterie oder Panik. Auf die Kraft der Zivilgesellschaft zu setzen, auch in etwaigen Krisensituationen, und sie staatlich zu unterstützen, ist gerade in Deutschland genau der richtige Schritt. Das sorgt für Resilienz, das heißt die Fähigkeit der Gesellschaft, mit unerwarteten Situationen aller Art zurechtzukommen. Die Stichworte ‚zivil’, ‚dezentral/disloziert’ und ‚subsidiär’ sind in diesem Zusammenhang wichtig und entsprechen dem Stand der Forschung über komplexe Systeme wie unserer Wirtschaft und Gesellschaft.“

„Es beruhigt mich sehr zu sehen, dass die Erkenntnisse der Komplexitätsforschung, der Netzwerkforschung, der Computational Social Science, der globalen Systemtheorie, der Risikoforschung und Wissenschaft systemischer Risiken nun zunehmend berücksichtigt werden und dass man die Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft auf allen Ebenen Schritt für Schritt stärkt. In diesem Zusammenhang wird man in Zukunft auch an der Bereitstellung von dezentralen Informations- und Kommunikationssystemen arbeiten müssen, die eine krisenfeste Hilfe zur gegenseitigen Hilfe und zur Selbsthilfe ermöglichen, auch wenn die gängigen Kommunikationssysteme ausgefallen sind, sowie über verteilte künstliche Intelligenzsysteme, die uns in allen Lebenslagen assistieren können, Entscheidungen unterstützen sowie Erfindergeist, Koordination und Kooperation fördern. An solchen Konzepten haben wir übrigens begonnen zu arbeiten.“

„Neben den Gefahren ‚von außen’ wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Einschlag von Meteoriten, Kriegen und Epidemien sind komplexitätsbedingte Gefahren ‚von innen’ getreten. Darunter zählen die Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise, die politische Destabilisierung durch die Polarisation der Gesellschaft, die globale Erwärmung, aber auch Korruption, organisiertes Verbrechen, Cyberkriminalität, und die immer stärkeren Abhängigkeiten aller Systeme von elektrischen Systemen und vom Internet. Daher sind klassische Verteidigungskonzepte, etwa durch die Bundeswehr, nicht ausreichend. Genau aus diesem Grund wird jetzt darüber nachgedacht, wie man das System auf allen Ebenen resilienter, also widerstandsfähiger, machen kann. Die Befähigung der Bürger, sich so weit wie möglich um sich selber und um einander kümmern zu können, ist dabei ein wichtiges Element.“

„Was die Gefährdung der inneren politischen Stabilität angeht, darf man nicht nur nach unten und außen schauen – Stichwort IS-Terrorismus –, sondern man muss auch einflussreiche nichtstaatliche Akteure mit eigener politischer, nicht-demokratischer Agenda berücksichtigen. Es ist auch wichtig, eine Kultur des gegenseitigen Respekts und der gegenseitigen Hilfe über die ethnischen, kulturellen und religiösen Grenzen hinweg zu fördern. Die Weltoffenheit hat Deutschland stark und erfolgreich gemacht.“

„Ich denke, dass man noch ergänzende Maßnahmen ergreifen könnte. Nehmen wir an, das Strom- und Kommunikationsnetz ist für einige Zeit nicht verfügbar. Dann wäre es gut, wenn man Smartphones mit Solarpanels aufladen könnte, wenn sich die Handys untereinander vernetzen könnten (Stichwort Meshnet und ad hoc-Netzwerke (dezentrale Netzwerke, Anm. d. Red.)), und wenn sie eine Zahlungsfunktion und Apps enthielten, mit denen man eine Sharing Economy betreiben kann, also Hilfe zur Selbsthilfe koordinieren kann. Man könnte sich auch vorstellen, dass im Krisenfall eine Notfallfunktion im Handy aktiviert wird. Ein Informationssystem, vielleicht sogar ein künstliches Intelligenzsystem, könnte uns anleiten, was zu tun ist, und wo man welche Angebote und Hilfe finden kann. Wir haben übrigens gerade ein erstes kleines Projekt in diese Richtung bei der EU beantragt.“

„Neben der Sicherstellung der physischen Versorgung ist auch an die psychologischen und sozialen Bedürfnisse zu denken. Es ist sinnvoll, sich ein funktionierendes soziales Netzwerk aufzubauen, auf das man sich im Krisenfall verlassen kann. Wer möchte, kann sich auch als Urban Gardener betätigen oder in einem sogenannten Fablab oder Makerspace (öffentlich zugängliche Hightech-Werkstätten, Anm. der Red.) lernen, wie man mit 3D-Druckern und anderen Geräten Werkzeuge und viele nützliche Dinge für den Alltagsgebrauch selber herstellen kann. Es ist faszinierend, was man heute alles selber produzieren kann. Derartiges Basteln und Tüfteln fördert auch den Erfindergeist. In den USA hat der Präsident übrigens gerade die Initiative ‚A Nation of Makers’ auf den Weg gebracht.“

„Wir haben lange keine Krisen erlebt und können uns daher kaum vorstellen, wie es wäre, ohne die Bequemlichkeiten und Selbstverständlichkeiten unseres heutigen Alltags auskommen zu müssen. In anderen Ländern, wo es öfters Engpässe und Katastrophen gibt, hat man gelernt zu improvisieren. Das sollten wir wieder üben. Man kann das auch auf spielerische Art und Weise tun, beispielsweise beim Gemeindefest.“

„In Krisensituationen haben viele Menschen die natürliche Tendenz, sich gegenseitig zu helfen, denn wir sind soziale Wesen. In vielen Fällen fehlt es aber an Koordination. Es wäre also sinnvoll, robuste Koordinationsplattformen zu bauen.“

„Insgesamt ist der moderne Mensch nicht so leicht zu schocken. Aber vieles hängt von einer guten Kommunikation ab. Man muss vermeiden, Panik und Hysterie zu schüren, auch wenn es mehr Aufmerksamkeit bringen würde. Hier sind die Medien in der Pflicht. Entscheidend ist, dass die Öffentlichkeit der Kommunikation vertrauen kann. Beschönigungen können das Vertrauen untergraben. Man sollte sich vorneweg gut überlegen, welche Kommunikatoren das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen, auch außerhalb der Politik. Die Vorbereitung auf mögliche Krisenszenarien muss auch adäquate Krisenkommunikation mit einschließen.“

„Falls das nicht ausreichend ist, wären auch flankierende Maßnahmen denkbar. Im Moment haben wir durch die Flüchtlingslager eine wesentlich höhere Kapazität.“

Prof. Dr. Harald Karutz

Professor für Notfall- und Rettungsmanagement, Medical School Hamburg, Hamburg, und Leiter des Notfallpädagogischen Institut, Essen

„Das neue Zivilschutzkonzept des Bundes ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung, der im Grunde genommen längst überfällig war. Viele Forschungsprojekte zur inneren Sicherheit haben in den letzten Jahren aufgezeigt, dass gerade hochentwickelte, vor allem auch sehr technisierte Gesellschaften verletzbar und für Krisensituationen anfällig sind. Wir wissen beispielsweise, dass die Bundesrepublik Deutschland für einen größeren Stromausfall, bestimmte Versorgungsengpässe und großflächige, länger andauernde Schadenslagen nicht besonders gut gerüstet ist. Dass der Bund mögliche Bedrohungsszenarien aufgreift und mit einem schlüssigen Konzept darauf reagiert, ist deshalb absolut vernünftig und richtig so – und hat auch nichts mit Panikmache zu tun.“

„Das neue Zivilschutzkonzept greift viele sehr wichtige Aspekte auf und ist in einigen Bereichen bereits erstaunlich ausdifferenziert. Ein systemisches Grundproblem des Föderalismus besteht allerdings weiterhin: die komplizierte Verteilung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern. Inwiefern die zahlreichen Schnittstellen im Fall des Falles funktionieren, bleibt deshalb abzuwarten.“

„Man muss sehen, wie das Konzept tatsächlich in der Praxis umgesetzt wird. Wenn Planungen für den Zivilschutz beispielsweise nur in Aktenschränken von Behörden verstauben, helfen sie ganz sicher nicht weiter. Die Tragfähigkeit einer Zivilschutzkonzeption hängt wesentlich davon ab, wie sehr sie von den beteiligten Institutionen und der Bevölkerung selbst akzeptiert wird. Das wird sich erst noch zeigen.“

„Dringend erforderlich wäre eigentlich ein gesellschaftlicher Diskurs über Fragen der inneren Sicherheit. Eine besonders kluge Risikokommunikation, vor allem auch eine offene und ehrliche Aufklärung über mögliche Bedrohungen und die tatsächliche Verwundbarkeit unserer Gesellschaft, hat es in den letzten Jahren allerdings nicht gegeben. Das zeigt sich jetzt auch in den Reaktionen auf das neue Konzept, die teilweise schlichtweg unangebracht sind und von einem fehlenden Risikobewusstsein zeugen.“

„Eine Schwachstelle des Zivilschutzkonzeptes könnte darin bestehen, dass es hinter verschlossenen Türen mehr oder weniger heimlich erarbeitet worden ist und jetzt sozusagen ‚aus dem Hut gezaubert’ wird. Natürlich sorgt das für einige Irritationen.“

„Es wäre günstiger, die Bevölkerung in derartige Notfallplanungen aktiv einzubeziehen und die Veröffentlichung eines Zivilschutzkonzeptes längerfristig vorzubereiten und ‚anzubahnen’. Auf diese Weise ließe sich in der Bevölkerung sehr wahrscheinlich eine deutlich höhere Akzeptanz erzielen.“

„Die Handlungsanweisungen aus dem neuen Zivilschutzkonzept sind sicherlich gut begründet, aber sie allein reichen längst noch nicht aus. Der bloßen Aufforderung, bestimmte Vorräte anzulegen, wird kaum jemand Folge leisten. Voraussetzung für persönliche Notfallvorsorge ist immer ein angemessenes Risikobewusstsein. Und solange dies nicht vorhanden ist, wird sich in der Bevölkerung auch nicht viel ändern.“

„Selbst wenn jemand die Einsicht gewonnen hat, dass er oder sie vorsorgen sollte, wird längst noch nicht entsprechend gehandelt. Hier spricht man von der ‚Intentions-Verhaltens-Lücke’. Um diese Lücke zu schließen, braucht man eigentlich eine persönliche Beratung, Begleitung und Unterstützung bei der Umsetzung von Vorsorgemaßnahmen. Genau die gibt es aber auch weiterhin nicht.“

„Die Selbsthilfefähigkeit ist in Deutschland eine zentrale Schwachstelle des gesamten Bevölkerungsschutzsystems. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden sämtliche Ressourcen und Strukturen etwas voreilig abgebaut. Auch deshalb ist heute überhaupt kein Risikobewusstsein mehr vorhanden.“

„In anderen Ländern wird teilweise deutlich mehr unternommen, um die Bevölkerung auf Notfälle vorzubereiten. In Polen wird beispielsweise schon in Kindergärten und Schulen über mögliche Unglücke gesprochen. Auch regelmäßige Notfallübungen und Notfalltrainings sind dort völlig selbstverständlich. Demgegenüber ist es in Deutschland bislang noch nicht einmal gelungen, an Schulen bundesweit Erste-Hilfe-Kurse zu etablieren. Dass der Bund in diesem Bereich jetzt mehr Engagement zeigen will, ist sehr erfreulich und kann man nur begrüßen.“

„Keineswegs reagiert die Bevölkerung bei größeren Schadenslagen so, wie man es in Katastrophenfilmen aus Hollywood präsentiert bekommt. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben vielmehr gezeigt, dass rasch eine sehr große Hilfsbereitschaft vorhanden ist und tatkräftig Hand angelegt wird. Das Verhalten der Betroffenen ist überwiegend prosozial und relativ vernünftig; Panik tritt nur in Ausnahmefällen auf. Von daher ist es absolut angebracht, die Bevölkerung als überaus wertvolle Ressource für die Katastrophenbewältigung zu nutzen. Genau hier liegt allerdings auch ein Problem: Hilfsmaßnahmen müssen koordiniert und gesteuert werden. Ungebundene Helfer organisieren sich aber oftmals selbst und greifen dabei auf soziale Medien zurück. Die Behörden und Organisationen der Gefahrenabwehr haben jedoch jetzt erst damit begonnen, sich mit diesem Phänomen intensiver zu beschäftigen.“

Dr. Gabriele Hufschmidt

Wissenschaftliche Koordinatorin des Masterstudiengangs „Katastrophenvorsorge und Katastrophenmanagement“, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn

„Im Konzept wird erkannt, dass das Wissen um mögliche Bedrohungen und Vorsorgemaßnahmen in der Bevölkerung zur Stärkung der Selbsthilfe zentral ist. Eine verstärkte Risikokommunikation in Sinne einer ‚proaktiven Informationsstrategie wird angekündigt. Auch wird ein ‚offener gesellschaftlicher Diskurs’ als wünschenswert erachtet. Dies ist sehr zu begrüßen. Konkrete Überlegungen zur Umsetzung sind jedoch nur ansatzweise erkennbar. Generell sollte im Bereich der Bildung, konkret schon in den Schulen, angesetzt werden, damit zivil- und katastrophenschutzrelevantes Wissen auch wirklich gesamtgesellschaftlich aufgebaut werden kann. ‚Nur’ eine Art Informationskampagne vom Bund ‚an’ die Bevölkerung wird nicht reichen. Man sollte zudem nicht vergessen, dass auch die Bevölkerung wertvolles Wissen besitzt, da sie zum Beispiel die lokalen Gegebenheiten gut kennt. Möchte man auch dieses Wissen nutzen?“

„Die Konzeption zielt darauf ab, im Verteidigungsfall mithilfe von zivilen Maßnahmen vor allem im Bereich der Vorsorge Verluste und Schäden so gering wie möglich zu halten. Sie gibt einen Überblick der verschiedenen Themenfelder, Akteure, Strukturen und Gesetze, die hierfür zusammenwirken müssen, und berücksichtigt auch die Strukturen und Ressourcen des Katastrophenschutzes (Ländersache). Dieser ganzheitliche Ansatz ist generell sinnvoll. Denn nur ganzheitlich gedacht kann man die vielfältigen Wechselwirkungen und Verknüpfungen zum Beispiel im Bereich lebenswichtiger Infrastrukturen (Strom, Wasser etc.) erkennen und Vorsorgemaßnahmen treffen, die auch die Auswirkungen von systemischen Risiken berücksichtigen. Der Erfolg der Konzeption wird von ihrer Umsetzung abhängen.“

„Die Konzeption geht nicht in die Tiefe, wenn es darum geht, konkrete Angriffspunkte zu nennen, auch wenn Cyber-Attacken auf Infrastrukturen generell genannt werden. Konkrete Szenarien mit konkreten Angriffspunkten, ggf. auch mit Blick auf systemische Risiken, existieren vermutlich intern bereits oder sind in Vorbereitung.“

„Das Papier soll ein ‚konzeptionelles Basisdokument' für die ‚ressortabgestimmte Aufgabenerfüllung’ sein, das ‚Zusammenhänge und Prinzipien’ beschreibt. Die Zielsetzung ist daher nicht hauptsächlich, konkrete Handlungsanweisungen für die Bevölkerung zu geben, also eine Art Ratgeber zu sein. Diesen Ratgeber gibt es bereits seit einigen Jahren. Er kann über das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), das dem BMI zugeordnet ist, bezogen werden [3].“

„Größere Schadenslagen der letzten Jahre – zum Beispiel in Zusammenhang mit Starkregen oder Hochwasser – haben gezeigt, dass die Menschen reaktionsfähig sind, Ressourcen und Kräfte mobilisieren und sich gegenseitig helfen. Wenn es jedoch darum geht, länger als ein paar Tage ohne Strom, Wasser und Nahrungsmittel auszukommen, wird vor allem die städtische Bevölkerung Probleme bekommen, da Notfallreserven meist nicht vorhanden sind. Das Bewusstsein der Bevölkerung für Notlagen ist zum Beispiel in Ländern wie Japan und Neuseeland ausgeprägter: diese Länder sind verschiedenen (Natur-)Gefahren stärker ausgesetzt als Deutschland. Die Bewusstseinsbildung beginnt dort schon in den Schulen und wird proaktiv seitens der Regierung gefördert. In Deutschland könnte das Bewusstsein für Großschadenslagen besser sein. Zum Beispiel ist das Erdbebenrisiko in der Niederrheinischen Bucht nicht zu unterschätzen. Da länger nichts passiert ist, fehlt das Bewusstsein, dass etwas passieren kann.“

Mögliche Interessenkonflikte

Alle: keine angegeben.

Primärquelle

Bundesministerium des Innern (2016): Konzeption Zivile Verteidigung (KZV).

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Ehrhart H.G., Neuneck G. (2015): Analyse sicherheitspolitischer Bedrohungen und Risiken unter Aspekten der Zivilen Verteidigung und des Zivilschutzes. Reihe „Demokratie, Sicherheit, Frieden“, Band 216.

[2] Goersch H.G., Werner U. (2011): Empirische Untersuchung der Realisierbarkeit vonMaßnahmen zur Erhöhung der Selbstschutzfähigkeit der Bevölkerung. Reihe „Forschung im Bevölkerungsschutz“, Band 15.

[3] Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe: Ratgeber für Notfallvorsorge und richtiges Handeln in Notsituationen. Erhältlich auch in den Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Tschechisch, Türkisch.

Weitere Recherchequellen

100 Resilient Cities

Collier S J, Lakoff A (2011): Systemic Risk. Introduction. Limn outlines contemporary problems, Number One.

Fischhoff B. (2011): Communicating About the Risks of Terrorism (or Anything Else). Am Psychol, 66(6): 520–531. DOI: 10.1037/a0024570.

Renn O. (2012): Coping with complexity, uncertainty, and ambiguity: The risk governance approach. NSF-DFG Joint Risk Meeting, Washington D.C., Vortragsfolien

World Economic Forum, Global Agenda Council on Risk & Resilience (2016): Resilience Insights.
Anmerkung der Redaktion:
Sehr aufschlussreich sind die zwei Abbildungen „Global Risk Landscape 2016“ und „The Global Risks Interconnections Map 2016“.

World Economic Forum (2016): Global Risks 2016.
Anmerkung der Redaktion:
Sehr aufschlussreich sind die Abbildungen im Teil 1 des Berichts, v. a. „Top 5 Global Risks in Terms of Likelihood, 2007 – 2016“, „Top 5 Global Risks in Terms of Impact, 2007 – 2016“, „The 10 Most Changing Global Risks, 2015 – 2016“, „The Top 5 Global Risks of Highest Concern for the Next 18 Months and 10 Years“.