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11.06.2020

Erste S3-Leitlinie für Kaiserschnitt veröffentlicht

Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) hat ihre erste S3-Leitlinie zum Kaiserschnitt veröffentlicht. Medizinische Leitlinien haben das Ziel, den aktuellen Stand des Wissens über ein Fachgebiet zusammenzustellen und daraus möglichst klare Handlungsempfehlungen für die Beratung und Behandlung von Patientinnen und Patienten abzuleiten. S3-Leitlinien müssen höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, insbesondere ist eine systematische Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege („Evidenz“) gefordert.

Die Kaiserschnittrate ist in Deutschland in den vergangenen dreißig Jahren stark gestiegen: Während 1991 noch 15,3 Prozent der Entbindungen per Kaiserschnitt erfolgten, waren es 2018 mit 29,1 Prozent rund doppelt so viele [I]. Die Leitlinie wurde entwickelt, um für mehr Klarheit zu sorgen, wann einer Schwangeren zu einem Kaiserschnitt geraten werden soll und wann nicht.

Die Autoren der Leitlinie gehen auf eine Vielzahl geburtshilflicher Situationen ein. So legen sie dar, dass die vaginale Geburt nach einer unkomplizierten Schwangerschaft nach aktueller Studienlage insgesamt vorteilhafter für Mütter und Kinder ist als der Kaiserschnitt. Hat eine Schwangere bereits zuvor per Kaiserschnitt entbunden, ist der optimale Geburtsmodus nach heutiger wissenschaftlicher Literatur unklar. Studien kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Die Autoren der Leitlinie schätzen die vaginale Geburt nach einem vorangegangenen Kaiserschnitt aber für die meisten Frauen als sicher ein. Liegt ein Kind in Beckenendlage, empfehlen die Autoren ausdrücklich, dass die Schwangere vor der Entbindung in einer Klinik beraten wird, die tatsächlich auch Erfahrung mit der vaginalen Geburt aus Beckenendlage hat. Mehr Hintergrundwissen und eine Datenanalyse des SMC Labs zur Häufigkeit von Schnittentbindungen in den verschiedenen Bundesländern finden Sie im „SMC investigative“.

An der Kaiserschnittleitlinie beteiligt waren neben der DGGG weitere 17 medizinische Fachgesellschaften und Verbände aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie mehrere Institutionen für Qualitätssicherung. Die Erarbeitung der Leitlinie wurde vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

Die SMC-Redaktion hat deutsche und international tätige Fachärztinnen und Fachärzte aus den Bereichen Geburtshilfe und Neonatologie gebeten, Bedeutung und Ausrichtung der neuen Leitlinie zu kommentieren.

Übersicht

     

  • Dr. Georg Macharey, Leitender Oberarzt der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Helsinki University Hospital, Finnland
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  • Dr. Katrin Löser, Leitende Oberärztin der Geburtshilfe, Krankenhaus Südjütland / Sygehus Sønderjylland, Dänemark
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  • Prof. Dr. Holger Stepan, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Leipzig
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  • Prof. Dr. Jörg Kessler, Professor und Oberarzt in der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Haukeland Universitätsklinikum Bergen, Norwegen
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  • Prof. Dr. Ulrich Thome, Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig
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  • Dr. Patricia Van de Vondel, Chefärztin der Frauenklinik, Krankenhaus Porz am Rhein, Köln
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Statements

Dr. Georg Macharey

Leitender Oberarzt der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Helsinki University Hospital, Finnland

„Aus finnischer Sicht erscheint die deutsche Kaiserschnittrate sehr hoch. In Finnland lag die Kaiserschnittrate 2018 bei 16,7 Prozent, von diesen waren 6,7 Prozent geplante Eingriffe und 10 Prozent akute Eingriffe. Ich denke, dass einer der Gründe für den großen Unterschied im Gesundheitssystem selbst liegt. Im finnischen System gehören die Gesellschaften, die die Krankenhäuser besitzen, den Kommunen. Die Kommunen bezahlen auch die Rechnungen der Patienten, also im Prinzip bezahlen sie sich selbst. Dies führt dazu, dass die Ärzte in Finnland presiwert die bestmögliche Versorgung zu liefern haben. Kaiserschnitte sind prinzipiell teurer als vaginale Geburten und da das Krankenhaus keinen Gewinn machen kann, gibt es finanziell keine Anreize, Kaiserschnitte zu verursachen.“

„Trotz der niedrigen Kaiserschnittrate hat Finnland eine der niedrigsten Raten an mütterlicher und neonataler Morbidität und Mortalität. Die finnischen Raten sind sogar noch niedriger als in Deutschland. Das liegt sicherlich an vielerlei Faktoren. Aber einer der wichtigsten Gründe für die niedrige mütterliche und neonatale Morbidität und Mortalität ist bestimmt, dass in Finnland alle Geburtskliniken – mit einer Ausnahme in Lappland – mit einer Zahl von unter 1.000 Geburten pro Jahr geschlossen wurden. Diese Zentralisierung führt zu mehr Qualität durch Quantität und Routine. Ein weiterer Faktor ist das ständige Simulieren von Extrem- und Notsituationen, als auch interne und externe Audits.“

Auf die Frage, welchen Gewinn die in der Leitlinie empfohlene Robson-Klassifikation bringen könnte:
„Die Robson-Klassifikation erlaubt eine Bewertung, Überwachung, Audit und Vergleich der Kaiserschnittraten regional als auch international.“

„Eine vaginale Geburt bei Beckenendlage (BEL) ist sicher, wenn keine Kontraindikation für diese vorliegt und ein erfahrener Geburtshelfer die Geburt betreut. Ich denke, dass sind erst einmal die gleichen Bedingungen, die wir auch für eine Geburt mit einem Kind in Schädellage erwarten. Die Beckenendlagengeburt stellt eine besondere Situation dar, die die Erfahrung voraussetzt, bestimmte Geburtsmanöver und eine Zangengeburt im Notfall vollführen zu können. Außerdem sollte eine Risikoselektion der Patientinnen erfolgen, da es in der Endphase der Geburt zu einer Kompression der Nabelschnur kommt und das Kind zu diesem Zeitpunkt nicht zu tiefe Blutgaswerte aufweisen sollte, da es sonst durch diese Kompression zu einem akuten Sauerstoffmangel kommen kann. Ergo, eine unkomplizierte Geburt mit einem gesunden Fetus – nicht zu klein, keine plazentaren Störung, normaler Fruchtwassermenge, der fetale Nacken ist gebeugt, der Fetus hat keine angeborenen Missbildungen, und die aktive Austreibungsphase dauert maximal 60 Minuten – ist in Kombination mit einem in BEL-erfahrenen Geburtshelfer sicher.“

Auf die Frage, ob die vaginale Geburt auch für Schwangere sicher ist, die zuvor bereits per Kaiserschnitt entbunden haben:
„Ich sehe das ebenso wie die Autoren der Leitlinie. Eine vaginale Geburt bei Zustand nach Sectio birgt Risiken, die allerdings akzeptierbar sind in Häusern mit einer gewissen Größe und ärztlicher Betreuung (Anästhesist, Neonatologe und Notsectio Team im Haus). Selbstverständlich muss man individuell abwägen, in welchen Fällen ein Geburtsversuch bei Zustand nach Sectio Sinn macht.“

„Die Abwägung im Einzelfall zwischen Kaiserschnitt und vaginaler Geburt bei komplizierteren geburtshilflichen Situationen ist nicht schwierig, wenn es keine fetale oder maternale Kontraindikation für eine vaginale Geburt gibt. Dann geht man mit der Mutter die Möglichkeiten durch, und dann entscheidet sich die Patientin. Mehrlingsschwangerschaften werden in Finnland im Allgemeinen vaginal geboren, solange der leitende Fetus in Schädellage ist, bei Patientenwunsch auch falls er in Beckenendlage ist. Bei BEL im Allgemeinen sollten keine Kontraindikationen für die vaginale Geburt vorliegen, und bei Zustand nach Sectio wird prinzipiell erst einmal davon ausgegangen, dass ein normaler Geburtsversuch unternommen wird. Wichtig ist hierbei allerdings, dass niemand gezwungen wird. Man entscheidet im Konsens. Außerdem denke ich, dass auch hierbei wieder die Größe der Geburtskliniken und die Erfahrung der Geburtsärzte entscheidend ist.“

„Ich denke, dass Deutschland mit dieser Leitlinie auf dem richtigen Weg ist. Die Patientinnen müssen sich die Geburtskliniken nur speziell für ihre Situation aussuchen. Hier in Finnland trainieren wir spezielle Geburtssituationen am Phantom – zum Beispiel BEL, Mehrlingsgeburten, Schulterdystokie, Zangen- und Sauglocken-Geburten –, das wird in vielen deutschen Kliniken nicht anders sein. In unserem Krankenhaus gibt es einen eigenen Facharzt, dessen einzige Arbeit es ist, diese Trainings und Simulationen zu koordinieren und zu leiten.“

Dr. Katrin Löser

Leitende Oberärztin der Geburtshilfe, Krankenhaus Südjütland / Sygehus Sønderjylland, Dänemark

„Aus dänischer Perspektive ist die deutsche Kaiserschnittrate eine sehr hohe Rate. Dänemark verfolgt einen Trend zu weniger Kaiserschnitten und liegt zurzeit national bei circa 23 Prozent. Einzelne Krankenhäuser liegen jedoch auch seit Jahren stabil bei Raten um und unter 15 Prozent – ohne dabei die Gesundheit von Mutter oder Kind zu kompromittieren. Die Überwachung von Qualitätsindikatoren zum Vergleich der Krankenhäuser und zur Qualitätssicherung hat in Dänemark Tradition und ist zentraler Bestandteil der sicheren Geburtshilfe.“

„Die Sicherheit von Mutter und Kind muss immer an erster Stelle stehen und die absolute Zahl der Sectiones darf nicht das primär beachtete Qualitätsmerkmal sein. Dänemark und die anderen skandinavischen Länder – und dort auch lokal unterschiedlich stark – zeigen deutlich, dass sichere Geburtshilfe trotz niedriger Sectioraten möglich ist. Ziel sollte immer sein, die notwendigen Kaiserschnitte auszuführen und medizinisch unnötige Eingriffe zu vermeiden, da diese ein Risiko darstellen. Das Leben einer Frau muss in seiner Gesamtperspektive betrachtet werden – und damit auch in Bezug auf zukünftige Familienplanung und eventuell entstehende zukünftige Risiken durch eine Kaiserschnittentbindung. Ein Umdenken kann aber nicht über Nacht erfolgen, sondern ist harte Arbeit, die geburtshilflich und psychologisch gut ausgebildetes Personal erfordert, ein Abrechnungssystem, das dieses Denken unterstützt, sowie ein hohes Maß an individuellem Einsatz. Schwangeren mit dem Wunsch nach unbegründeter Schnittentbindung muss individuell und frühzeitig begegnet und vielschichtig geholfen werden.“

„Bei gut ausgebildetem Personal und strenger Risikoselektion ist eine vaginale Entbindung aus Beckenendlage sicher. Die Studien zeigen, dass kein Unterschied in Morbidität und Mortalität nach zwei Jahren besteht. Viele andere Fragen zu Schaden und Nutzen eines Kaiserschnitts sind nicht eindeutig geklärt und daher ist meiner Meinung nach Vorsicht geboten bei zu forschem Eingreifen in den natürlichen Geburtsprozess.“

„Wichtig ist, dass die Entbindungsklinik über die nötige Expertise und Logistik für Beckenendlagen verfügt. Durch die jahrelange Praxis der überwiegenden Schnittentbindung von Beckenendlagen müssen jetzt neue Expertenteams ausgebildet werden, die wieder die vaginale Geburt aus Beckenendlage beherrschen. Dabei sei besonders auf die Möglichkeiten des Phantom- und Videotrainings hingewiesen. Es darf nicht mit Imageverlust verbunden sein, Patienten an ein anderes Haus zu verweisen. Die vaginale Geburt bei Beckenendlage darf nicht zu einer fanatischen Ideologie verkommen. Die Beteiligten müssen ohne ein Gefühl der Niederlage bereit sein, den Weg der vaginalen Entbindung zu verlassen, falls die Geburt nicht planmäßig voranschreitet.“

Auf die Frage, ob die vaginale Geburt auch für Schwangere sicher ist, die zuvor bereits per Kaiserschnitt entbunden haben:
„Die Entscheidung zum Entbindungsmodus muss aus der Gesamtperspektive erfolgen. Der Eingriff stellt nicht nur ein unmittelbares ein Risiko dar, sondern muss auch in Bezug auf das Leben einer Frau in seiner Gesamtperspektive betrachtet werden – und damit auch in Bezug auf zukünftige Familienplanung und eventuell entstehende zukünftige Risiken durch eine weitere Kaiserschnittentbindung. Des Weiteren muss genau geschaut werden, welche Umstände zu dem vorangegangenen Kaiserschnitt geführt haben und welche anderen Risikofaktoren Mutter und Kind mitbringen. Häufig lässt sich das (Wiederholungs-) Risiko im Vorfeld sehr gut abschätzen. Es werden allerdings Anforderungen an das Fachpersonal und die Logistik der Klinik in Bezug auf Beratung, Betreuung, Überwachung und Notfallinterventionen gestellt.“

„Die Leitlinie stellt hohe Anforderungen an eine qualitativ hochwertige Geburtshilfe. Diese ist nur zu gewährleisten bei ausreichendem Fachpersonal. Gerade die individuelle Beratung und Betreuung der Schwangeren sowie das gemeinsame Abwägen der verschiedenen Optionen im Vorfeld der Geburt erfordert viel Zeit und Geduld. Das Ausbilden von Experten erfordert Training und Zeit. Des Weiteren empfiehlt die Richtlinie zum Teil die Überweisung an andere Häuser – etwas, das in einem monetär (und zum Teil Prestige) geprägten Gesundheitssystem schwierig sein kann. Das Gleiche gilt für den absoluten abrechnungstechnischen Wert einer Schnittentbindung im Vergleich zu einer eventuell langdauernden und intensiv zu überwachenden, komplizierten Geburt. Die logistischen Anforderungen an die Kliniken bedeuten, dass die Anzahl der Geburten pro Jahr groß genug sein muss, um rund um die Uhr nicht nur geburtshilfliche, sondern auch anästhesiologische, operative und pädiatrische Expertise vorhalten zu können. Die Teams müssen gut trainiert und Notfallabläufe möglichst standardisiert sein. Die Teammitglieder Vertrauen in einander und in ihr Können haben. Teamtraining erfordert wiederum Zeit. Qualitätsparameter müssen erhoben und beobachtet werden, damit Anpassungen vorgenommen werden können. Die Leitung muss den Teammitgliedern auch im Falle von Komplikationen zur Seite stehen.“

„Ziel sollte es immer sein, möglichst nur medizinisch notwendige Eingriffe auszuführen und medizinisch unnötige Eingriffe zu vermeiden, da diese ein Risiko darstellen. Dieses gilt insbesondere auch für Eingriffe in den komplexen natürlichen Geburtsverlauf, bei dem viele Fragen in Bezug auf Langzeitauswirkungen noch ungeklärt sind. Trotzdem darf die absolute Zahl nicht das verfolgte Ziel sein, sondern möglichst gesunde Kinder, möglichst zufriedene Familien und Fachpersonal, welches mit seiner Arbeit zufrieden ist. In den skandinavischen Ländern kann man beispielsweise sehen, dass eine niedrige Kaiserschnittrate ohne erhöhtes Risiko möglich ist. Hier ist die Rolle des Geburtshelfers mehr die des zurückhaltenden Begleiters als des Geburtsleiters.“

„Die Richtlinie verweist auf die diversen ungeklärten Auswirkungen, die der Geburtsmodus auf die Gesundheit der Kinder haben kann. Die Geburt ist ein solch komplexer Prozess in der Entwicklung eines Menschen und in der Entwicklung der Mutter- beziehungsweise Eltern-Kind-Beziehung, dass man hier möglichst zurückhaltend agieren sollte. Bei wiederholten Kaiserschnitten ist mit einer erheblichen Zunahme von gefährlichen Komplikationen für diese Frauen zu rechnen. Die Frauen verlieren zunehmend den Glauben an ihre eigene Kompetenz, was sich auch auf andere Lebensbereiche auswirken kann.“

Prof. Dr. med. Holger Stepan

Direktor der Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Leipzig

„Ich finde die Kaiserschnitt-Rate in Deutschland vertretbar, weil niemand weiß, was die ‚richtige‘ Kaiserschnittrate ist. Ich denke, für Deutschland ist eine Kaiserschnittrate von 25 bis 30 Prozent gut, akzeptabel und anzustreben.“

„Ich denke, die neue Kaiserschnittleitlinie ist wichtig für Deutschland, weil sie eine der wenigen S3-Leitlinien in der Geburtshilfe und Gynäkologie ist, von einem hochkarätigen multidisziplinären Team geschrieben wurde und das aktuelle, mit Evidenz belegte Wissen zusammenfasst. Ich halte die Leitlinie für gut gelungen, da ihr eine sehr profunde Literaturrecherche zugrunde liegt. Dass einige Aussagen und Empfehlungen sehr vorsichtig formuliert sind, kann man der Leitlinie nicht vorwerfen, sondern liegt am manchmal schwachen Evidenzlevel und dem nicht einfachen Prozess der Konsensfindung unter den zahlreichen beteiligten Fachgesellschaften. Trotzdem wird die Leitlinie im klinischen Alltag helfen, weil sie definiert, welche Maßnahmen im Kontext der Sectio durch Evidenz belegt sind und aus diesem Grund gemacht werden sollten und welche nicht.“

Prof. Dr. Jörg Kessler

Professor und Oberarzt in der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Haukeland Universitätsklinikum Bergen, Norwegen

„In Norwegen liegt die Kaiserschnittrate seit 2005 stabil bei 16 Prozent, mit einem 50 Prozent niedrigeren Anteil an geplanten Kaiserschnitten und 30 Prozent weniger Kaiserschnitten unter der Geburt als in Deutschland. Mögliche Ursachen für diesen großen Unterschied sind vielschichtig. Nach meiner Auffassung besteht das norwegische Erfolgsrezept in einer differenzierten Anpassung der Schwangerschaftskontrollen und der Geburtsüberwachung an das bestehende Risiko, um unnötige Eingriffe zu vermeiden. Unkompliziert verlaufende Geburten werden von den Hebammen allein betreut. Auf das Erlernen des praktischen geburtshilflichen Handwerks einschließlich des Gebrauchs von geburtshilflichen Instrumenten (Saugglocke und Zange) wird großer Wert gelegt.“

Auf die Frage, wie die Aussage der Leitlinie zu bewerten ist, dass eine Sectio-Rate von über 15 Prozent keinen günstigen Einfluss auf Morbidität und Mortalität von Mutter und Kind hat:
„Die Autoren erinnern zu Recht mit dieser Feststellung daran, dass der übermäßige Gebrauch der Kaiserschnittentbindung keinen nachweislich größeren Gesundheitsgewinn für Mutter und Kind mit sich bringt. Für die konkrete Beratung der schwangeren Frau sind diese Zahlen jedoch eher abstrakt und schwer zu vermitteln. Es erfordert die gemeinsame Anstrengung von Ärzten und Hebammen, den Schwangeren die nötige Zuversicht zu geben, dass eine normale vaginale Entbindung für die meisten eine sichere Alternative darstellt – mit einer niedrigen Komplikationsrate für Mutter und Kind. Viele Geburtsabteilungen in Norwegen haben zu diesem Zweck Sprechstunden eingerichtet, um Schwangere mit Angst vor der Geburt oder früherer traumatischer Geburtserfahrung zu beraten.“

Auf die Frage, ob bei Beckenendlage der Versuch einer vaginalen Geburt vertretbar ist, obwohl sie für die Neugeborenen ein leicht erhöhtes Mortalitätsrisiko im Vergleich zum Kaiserschnitt bedeutet:
„Ja, das denke ich schon, wenn der Geburtshelfer in der Lage ist, das Risiko für das Neugeborene so gering wie möglich zu halten. Das erfordert sowohl praktische Erfahrung mit der vaginalen Geburt bei Beckenendlage als auch eine eingespielte Teamarbeit von Ärzten und Hebammen in der Betreuung vor und unter der Geburt. In Norwegen ist man von der Empfehlung zu einer vaginalen Beckenendlagengeburt unter bestimmten Voraussetzungen nie abgerückt, nicht zuletzt wegen einer nachgewiesenen niedrigen Mortalität, die kontinuierlich im landesweiten Geburtsregister überwacht wird. Einen risikofreien Geburtsmodus gibt es jedoch nicht. Ein Kaiserschnitt bringt ein erhöhtes Komplikationsrisiko für eine nachfolgende Schwangerschaft mit sich. Auch der fehlende Kontakt des Kindes mit der mütterlichen Scheidenflora (vaginales Mikrobiom) bei der geplanten Kaiserschnittentbindung scheint einen negativen Einfluss auf die spätere Gesundheit des Kindes zu haben.“

„Die Feststellung der Leitlinien-Autoren, dass eine vaginale Geburt bei Zustand nach einem Kaiserschnitt vielen Schwangeren empfohlen werden kann, deckt sich mit norwegischen und anderen nationalen Richtlinien. Eine erfolgreiche vaginale Geburt bringt weniger Komplikationen für die Frau mit sich. Das Risiko für das Kind ist – obwohl vergleichsweise höher als beim geplanten Kaiserschnitt – in absoluten Zahlen immer noch sehr niedrig. Eine Voraussetzung für die Gültigkeit der Empfehlung ist allerdings, dass der überwiegenden Mehrzahl der Frauen auch eine vaginale Entbindung gelingt, das heißt, ein Kaiserschnitt unter der Geburt vermieden werden kann. Das erfordert eine vorausschauende, geduldige und vorsichtige Geburtsleitung und engmaschige Überwachung.“

„Die größte Herausforderung besteht in der Ausbildung der nächsten Generationen von Geburtshelfern. Wenn man wieder mehr Schwangere, auch solche mit Risiko für eine vaginale Entbindung motivieren möchte, muss ein hohes Fertigkeitsniveau in manueller und instrumenteller Geburtshilfe Voraussetzung sein. Eine Zentralisierung von Risikogeburten an Kliniken mit einer möglichst hohen Geburtenzahl erleichtert die Ausbildung und sammelt fachkompetente Kollegien. In Norwegen entbinden 70 Prozent der Schwangeren an Kliniken mit mehr als 1.500 Geburten pro Jahr.“

„Die perinatale Mortalität ist in Finnland, Norwegen und Schweden – alles Länder mit einer Kaiserschnittrate unter 20 Prozent – nicht höher als in Deutschland. Ausgehend davon müsste es durchaus möglich sein, die Kaiserschnittrate zu senken. Dabei ist es jedoch wichtig zu wissen, bei welchen Schwangerschaften das Potenzial für eine Senkung ohne größere Risiken für das Kind am größten ist. Die systematische Anwendung der 10-Gruppen-Robson Klassifikation kann dabei von großem Nutzen sein.“

„Der Kaiserschnitt ist dank medizinscher Fortschritte zu einer sicheren Operation geworden, die das Leben von Mutter und Kind retten und Schaden abwenden kann. Es ist jedoch ungewiss, in welchem Ausmaß eine Kaiserschnittentbindung mit gesundheitlichen Langzeitrisiken verbunden ist. So gesehen ist die gegenwärtige Kaiserschnittepidemie eine Art medizinisches Großexperiment, da seit Beginn unserer Existenz ausschließlich die vaginale Geburt von der Evolution entwickelt und perfektioniert wurde.“

Prof. Dr. Ulrich Thome

Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig

„Die Kaiserschnittrate ist deutlich höher als sie sein sollte. Es gibt sicherlich eine Reihe von Stellschrauben, mit der diese gesenkt werden könnte, was ich als Kinderarzt jedoch nicht tiefer thematisieren möchte. Für die Frau stellt der Kaiserschnitt eine schwere Verletzung dar, nämlich einen offenen abdominal-chirurgischen Eingriff mit nicht zu unterschätzender Spätmorbidität. Dabei kann es zu einer Reihe von Schwierigkeiten im weiteren Leben kommen, angefangen vom Bridenileus (Darmverschluss; Anm. d. Red.), bis hin zu größeren Schwierigkeiten bei späteren chirurgischen Eingriffen zum Beispiel bei Krebserkrankungen. Außerdem verursacht der Kaiserschnitt eine erhöhte Komplikationsrate bei nachfolgenden Schwangerschaften und Geburten. Auch für das Kind hat der Kaiserschnitt Nachteile. Die Anpassung an die Luftatmung ist häufig verzögert, sodass Kinder nach Kaiserschnitt häufiger als vaginal geborene Kinder wegen Atemstörungen in die Kinderklinik übernommen werden müssen. Ein weiteres Problem ist die bei Kaiserschnitt nicht richtig funktionierende Übergabe der mütterlichen Bakterienflora an das Kind. Das Mikrobiom per Kaiserschnitt geborener Kinder unterscheidet sich auch nach Jahren noch von dem vaginal geborener Kinder, was unter anderem mit einer höheren Rate von Adipositas und Allergien assoziiert ist. Nicht zuletzt haben Studien auch ergeben, dass der Aufbau einer guten Stillbeziehung und einer guten Mutter-Kind-Bindung nach vaginaler Geburt einfacher ist und häufig besser gelingt als nach Kaiserschnitt.“

Auf die Frage, ob bei Beckenendlage der Versuch einer vaginalen Geburt vertretbar ist, obwohl sie für die Neugeborenen ein leicht erhöhtes Mortalitätsrisiko im Vergleich zum Kaiserschnitt bedeutet:
„Diese Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Es kommt auf eine entsprechende Risikoselektion an – genau wie es in der Leitlinie auch beschrieben ist. Wenn Frauen mit geringem Risikoprofil auch bei Beckenendlage vaginal entbinden, überwiegen die Vorteile die Risiken. Nicht erwähnt wurde in der Leitlinie jedoch die schnelle Verfügbarkeit und frühzeitige Hinzuziehung eines Neonatologen bei vaginaler Beckenendlagen-Entbindung. Es handelt sich um eine Risikosituation, bei der häufiger als bei vaginaler Entbindung eine spezialisierte neonatologische Versorgung des Kindes unmittelbar nach Geburt notwendig ist. Somit sollten vaginale Beckenendlagen-Entbindungen nur in Perinatalzentren stattfinden, die über eine entsprechend ausgerüstete neonatologische Einrichtung verfügen. Andere Einrichtungen sollten Schwangere mit Kindern in Beckenendlage an entsprechende Zentren verweisen.“

„Auch bei der Entscheidung des Geburtsmodus bei Zustand nach Kaiserschnitt kommt es auf die Risikoselektion an. Wie sieht die Uterusnarbe im Ultraschall aus? Ist die Plazenta in die Narbe eingewachsen? Wo sitzt die Plazenta? Wie groß ist das Kind? Anhand dieser und anderer Kriterien können Frauen mit hohem Risiko erkannt und einer Re-Sectio zugeführt werden, während andere Frauen, die diese Risiken nicht aufweisen, tatsächlich ohne relevant erhöhtes Risiko vaginal entbinden können. Im Verlauf der Geburt ist eine gute Überwachung des Kindes notwendig, um eine sich anbahnende Uterusruptur rechtzeitig zu erkennen. Außerdem ist, wie bei vaginalen Beckenendlagen-Geburten, die schnelle Verfügbarkeit neonatologisch versierter Kinderärzte wichtig.“

„Leider finden sich in der Leitlinie kaum Formulierungen, welche strukturellen Voraussetzungen für bestimmte Entbindungen vorgehalten werden müssten. An manchen Stellen ist von einer Vorstellung in einer ‚geeigneten‘ Geburtsklinik die Rede. An anderen Stellen ist von einer ‚entsprechenden technischen Ausstattung‘ und von ‚Fachpersonal‘ die Rede. Leider wird nicht spezifiziert, was damit gemeint ist. Eventuell finden sich diesbezügliche Hinweise in der zitierten Fachliteratur, aber es wäre besser, die Leitlinie würde für sich stehen, ohne dass die zitierte Literatur mitgelesen werden muss.“

„Die Kaiserschnittrate senken zu wollen ist ein notwendiger und guter Weg, um die mit unnötigen Kaiserschnitten verbundene Morbidität für Mutter und Kind zu reduzieren.“

„In dem Fall einer weiter steigenden Kaiserschnittrate in Deutschland würde die damit verbundene Kurzzeit- und Langzeit-Morbidität bei Mutter und Kind weiter ansteigen, was keinesfalls wünschenswert wäre.“

Dr. Patricia Van de Vondel

Chefärztin der Frauenklinik, Krankenhaus Porz am Rhein, Köln

„Die Sectio-Rate in Deutschland ist unnötig hoch und führt zu kurz- und langfristigen gesundheitlichen Nachteilen für Mütter und Kinder. In Skandinavien liegt die Sectio-Rate unter 20 Prozent und – das ist das Wichtigste! – das Ergebnis für Mutter und Kind ist dort besser als in Ländern mit deutlich höheren Sectio-Raten! Ursachen für die hohe Sectio-Rate in Deutschland sind meiner Meinung nach die mangelnde Ausbildung und Organisation, dazu zählt auch Vergütung und Personalschlüssel, sowie der juristische Druck.“

„Die neue Leitlinie ist insofern ein wichtiger Schritt, als dass die vorhandene – oder eben auch die fehlende – Evidenz zum Thema Indikationen, Durchführung der Sectio und mögliche Folgen für Mutter, Kind und Folgeschwangerschaften zusammengefasst wurde. Bisher wurde hauptsächlich nach ‚Expertenmeinung‘ beraten und gehandelt, wobei häufig jeder sein eigener Experte ist. Die neue Leitlinie liefert (auch juristisch) belastbare Daten für die Beratung und Aufklärung werdender Eltern. Ferner ergibt sich mit der Einführung der Robson-Kriterien eine Datenbasis, die es ermöglicht, verschiedene Geburtskliniken in ihrem ‚Sectioverhalten‘ miteinander zu vergleichen. Ob diese auch genutzt werden wird, bleibt abzuwarten.“

„Das Ziel, die Sectiorate zu senken, ist richtig, aber ich vermisse die Forderung nach besserer Ausbildung und besserer Organisation der geburtshilflichen Abteilungen – zum Beispiel einer Zentralisierung; keine Geburtshilfe ohne Kinderklinik, Geburtshilfe sollte nur durch Geburtshelfer geleistet werden, besserer Personalschlüssel und so weiter. In den bestehenden Strukturen wird es meines Erachtens nicht gelingen, die Sectiorate zu senken. Wenn entsprechender ‚Druck‘ aufgebaut werden würde – wobei ich nicht sehe, wie man das realisieren sollte –, könnte das zwanghafte Senken der Kaiserschnittrate durchaus auch Gefahren bergen.“

„Es ist in der Leitlinie gut gelungen, die existierende Evidenz zusammenzutragen und weiteren Forschungsbedarf zu ermitteln. Außerdem wird übersichtlich dargestellt, welche Evidenz – oder eben keine Evidenz – es für manch ‚klassische‘ Sectio-Indikation gibt, wie zum Beispiel bei einer Beckenendlage des Feten oder Infektion der Mutter. Die möglichen Vor-und Nachteile der Sectio für Mutter und Kind werden übersichtlich dargestellt und zwar differenziert zwischen direkt peripartal, also innerhalb von sieben Tagen nach Geburt, und langfristig. Letzteres betrifft beispielsweise Fragestellungen, wie: Was nützt es, durch die Sectio ein zahlenmäßig geringes Risiko für das erste/eine Kind zu vermeiden, wenn dadurch a) eine höhere Morbidität im späteren Leben des Kindes in Kauf genommen werden muss, b) die Mutter ein höheres Risiko hat und c) nachfolgenden Schwangerschaften und zukünftigen Kinder ein erheblich höheres Risiko zugemutet wird?“

„Da in der Leitlinie (leider) keine neuen Anforderungen an Geburtskliniken gestellt werden, müsste sie (theoretisch) gut umgesetzt werden können. Allenfalls wird es notwendig werden, die Aufklärungsinhalte zu verändern. Was sich in der Umsetzung allerdings als problematisch herausstellen könnte, ist die Forderung nach umfassender Aufklärung der Eltern (‚shared decision making‘). Es ist schlicht und ergreifend bei den bestehenden personellen und oft auch räumlichen, Voraussetzungen in geburtshilflichen Abteilungen unmöglich, alle Eltern, die dies für sich in Anspruch nehmen wollen, nach der Leitlinie zu beraten. Die Beratung wird von den Krankenkassen nicht adäquat vergütet, sodass dafür nicht ausreichend Personal zur Verfügung steht. Genauso wird die Forderung nach für Laien verständliche Information, unabhängig von Sprachkenntnissen, vorhandenen Lernschwierigkeiten oder sonstigen Verständigungsschwierigkeiten schwer zu erfüllen sein, auch wenn das selbstverständlich wünschenswert ist. Außerdem könnte es an der Praxis scheitern, die Sectiorate zu verringern, indem man Frauen mit Angst vor der Geburt einer psychoedukativen Intervention zuführt. Es gibt dafür schlicht und ergreifend keine Strukturen beziehungsweise Therapeuten, die sich speziell mit diesem Thema beschäftigen. Außerdem würde dies nicht von der Krankenkasse bezahlt werden. Auch die (sehr sinnvolle) Forderung nach Bonding bereits im OP ist für viele Abteilungen nicht umsetzbar. Dieses Bonding setzt voraus, dass eine Hebamme während der gesamten Dauer der Sectio bei Mutter und Kind bleibt und nach dem Wohlergehen des Kindes schaut. Dies ist bei der heute gängigen Hebammenbesetzung nicht möglich.“

„Ein Punkt, der mir noch aufgefallen ist, ist die Forderung der Leitlinie nach einer kontinuierlichen Überwachung per CTG des Kindes unter der Geburt bei Frauen, die eine vaginale Geburt nach Kaiserschnitt (VBAC) anstreben. Es wird mit keinem Wort definiert was ‚unter Geburt‘ bedeutet. Ab der ersten aufgezeichneten Kontraktion? Ab muttermundswirksamer Wehentätigkeit? Ab der aktiven Eröffnungsphase (Muttermund sechs Zentimeter geöffnet)? Diese Definition ist aus juristischen Gründen wichtig! Bei Geburtseinleitung bei Zustand nach Sectio ‚sollen Mutter und Kind kontinuierlich überwacht werden‘ ist die Formulierung der Leitlinie. Wie soll denn überwacht werden? Das ist völlig unklar. Es ist faktisch unmöglich und für die Mütter schlicht nicht zumutbar ab Beginn der Geburtseinleitung im Kreißsaal am CTG zu verbleiben. Es dauert in der Regel mehrere Tage bis die Geburt tatsächlich beginnt!“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Georg Macharey: „Ich hab keinen.“

Dr. Katrin Löser: „keine Interessenkonflikte“

Prof. Dr. Holger Stepan: Holger Stepan sitzt in der Leitlinienkommission der DGGG, war jedoch an der nun vorliegenden Kaiserschnitt-Leitlinie nicht beteiligt; Anm. d. Red.

Prof. Dr. Jörg Kessler: „Interessenkonflikte sehe ich keine.“

Alle anderen: Keine angegeben erhalten.

Primärquelle

Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (2020): S3-Leitlinie. Die Sectio caesarea.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Statistisches Bundesamt: Krankenhausentbindungen in Deutschland. Stand: 15.05.2020.

Weitere Recherchequellen

IQTIG (2019): . S. 139.