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08.02.2023

Semaglutid & Co. – Diabetesspritzen zum Abnehmen?

Über die Hälfte der Erwachsenen, sowie etwa 15 Prozent der unter 18-Jährigen gelten in Deutschland als übergewichtig [I] [II]. Es ist also nicht überraschend, dass die Aussicht auf Medikamente, die beim Abnehmen unterstützen, Menschen hoffnungsvoll aufhorchen lässt. Semaglutid heißt einer der Wirkstoffe, der in Form des Diabetesmedikaments Ozempic seit Monaten über soziale Medien intensiv beworben wird. Tausende Menschen, darunter Prominente wie Twitter-Chef Elon Musk berichteten von angeblichen Abnehmerfolgen mit einer wöchentlichen subkutanen Spritze (2,4 Milligramm Wirkstoff des Glucagon-like peptide-1 Rezeptor Agonisten, GLP-1), die das Hungergefühl zeitweise unterdrücken soll. Aktuell ist Semaglutid von der Europäischen Arzneimittelagentur Ema unter dem Handelsnamen Wegovy zwar bereits zur Behandlung von Adipositas (BMI über 30 oder ab einem BMI größer 27, wenn gewichtsbedingte Gesundheitsprobleme vorliegen) zugelassen – aufgrund von Lieferengpässen ist die Markteinführung jedoch bisher nicht erfolgt. Entsprechend steht auch die Entscheidung aus, ob und wenn ja für welche Patientengruppen die Krankenkassen eine solche Adipositas-Therapie erstatten würden.

Die mangelnde Verfügbarkeit kann den Hype um die neuen Therapieoptionen jedoch kaum bremsen. Allein auf TikTok verzeichnen die Hashtags #Ozempic und #Wegovy über 600 Millionen Aufrufe und erreichen dort auch ein vorwiegend jüngeres Publikum in der Pubertät mit vielen Fragen zur Körperidentität. Im „New England Journal of Medicine“ erschien kürzlich eine erste immerhin knapp 16-monatige Studie unter Beteiligung von 12- bis 18-Jährigen, finanziert vom Hersteller Novo Nordisk: Laut dieser kontrollierten Studie an 201 randomisierten Patientinnen und Patienten zeigte sich, dass eine 2,4-Milligramm-Semaglutid-Spritze pro Woche bei mehr als einem Drittel der übergewichtigen oder adipösen Heranwachsenden zusammen mit einer begleitenden Verhaltenstherapie das Körpergewicht durchschnittlich um mindestens 20 Prozent senken konnte – im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die kaum Gewicht verlor [III]. In den USA ist Wegovy für die Behandlung von Adipositas bei Heranwachsenden – mit BMI über der 95. Perzentile für Alter und Geschlecht – seit Dezember 2022 von der Arzneimittelbehörde FDA zugelassen worden [IV].

Wegovy ist erst der Anfang: Weitere Wirkstoff-Kandidaten in Form von „Abnehmspritzen“ werden in klinischen Studien erprobt und finden ihren Weg in Adipositaskliniken. So zum Beispiel Tirzepatid mit dem Handelsnamen Mounjaro. Es wirkt dual, indem es zusätzlich zu GLP-1 die Rezeptoren für ein weiteres im Darm gebildetes Inkretin-Hormon, das Glukose-abhängige insulinotropische Polypeptid (GIP), aktiviert. Laut Studie wirkt es im Vergleich zu Wegovy noch stärker bei Personen mit Adipositas [V]. Das Medikament wird derzeit von der FDA per Fast-Track zur Behandlung von Erwachsenen mit Adipositas geprüft [VI].

Können die neuen Wirkstoffe nachweislich und nachhaltig beim Abnehmen helfen? Für wen ist eine Therapie geeignet, wo liegen Zusatznutzen und Risiken gegenüber herkömmlichen Behandlungsmethoden? Wie sollte eine Therapie verhaltenstherapeutisch begleitet werden? Was passiert mit dem Gewicht nach dem Absetzen der wöchentlichen Spritzen? Wie ist die Therapie bei übergewichtigen Heranwachsenden zu bewerten? Welche psychischen Faktoren können eine Rolle spielen?

Diese Fragen – und vor allem Ihre! – beantworteten Forschende in einem 50-minütigen virtuellen Press Briefing.

Fachleute im virtuellen Press Briefing

     

  • Prof. Dr. Anja Hilbert 
    Professorin für Verhaltensmedizin und psychologische Leiterin der Adipositasambulanz, Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
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  • Prof. Dr. Jens Aberle
    Ärztlicher Leiter des Adipositas-Centrums und Facharzt für Diabetologie und Endokrinologe, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), und Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft
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  • PD Dr. Timo Müller
    Kommissarischer Direktor und Leiter der Abteilung für Molekulare Pharmakologie, Institut für Diabetes und Adipositas, Helmholtz Zentrum München - Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt
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Abschluss-Statements aus dem Press Briefing

Das SMC hat die Expertin und die Experten am Ende des Press Briefings gefragt, wo Sie die Zukunft der Abnehmspritzen sehen und ob es sich dabei wirklich um einen Gamechanger in der Adipositas-Therapie handelt.

Prof. Dr. Anja Hilbert

Professorin für Verhaltensmedizin und psychologische Leiterin der Adipositasambulanz, Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig

„Das ist ganz klar ein Gamechanger in der Adipositas-Therapie. Wenn wir die Therapie tatsächlich für die Adipositas abrechenbar machen können, wird es uns, denke ich, im Gesundheitswesen sehr viel weiterhelfen. Die Menschen werden gesünder und schlanker werden.“

„Gleichzeitig wird es Personen geben, die das Medikament nicht einnehmen können oder wollen oder es auch nicht bekommen können. Vielleicht können sie es sich auch nicht leisten, wenn es von den Krankenkassen nicht getragen wird. Und ich denke, diese Personen geraten unter einen erhöhten gesellschaftlichen Druck, sie werden also wahrscheinlich mehr Stigmatisierung empfinden. Auch die Selbststigmatisierung bleibt.“

„Man sollte klar darstellen, dass dieses Medikament eine wirkliche Medizin und aktuell kein Lifestyle Medikament ist. Es muss bei bestimmten Indikationen ärztlich verordnet und auch überwacht werden.“

Prof. Dr. Jens Aberle

Ärztlicher Leiter des Adipositas-Centrums und Facharzt für Diabetologie und Endokrinologe, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), und Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft

„Gamechanger ist ein Schlagwort, das hier absolut zutrifft. Wir hatten noch nie Medikamente, die auch nur in der Nähe einer Effektivität waren, wie wir es jetzt erleben. Dazu sind sie auch noch sicher, mit guten Endpunktstudien, die uns vorliegen. Insofern wird das eine zunehmende Rolle spielen, auch zu Recht. Aber wir behandeln – und das ist immer wichtig – aus medizinischer Indikation. Das heißt wir behandeln, damit Patienten gesünder werden oder gesund bleiben. Wir behandeln nicht aus kosmetischer Indikation. Und daher wird es auch immer so bleiben, dass eine ärztliche Indikationsstellung gestellt werden muss und man die Medikamente nicht anders bekommen kann.“

PD Dr. Timo Müller

Kommissarischer Direktor und Leiter der Abteilung für Molekulare Pharmakologie, Institut für Diabetes und Adipositas, Helmholtz Zentrum München - Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt

„Es ist tatsächlich ein wirklicher Gamechanger. Wir sind jetzt erstmalig in der Lage, das Körpergewicht deutlich über zehn Prozent mit einem tolerablen Sicherheitsprofil zu induzieren. Die Pipelines der pharmazeutischen Unternehmen stehen nicht still und es wird immer noch eine weitere Verbesserung geben. Man arbeitet intensiv an der an der Entwicklung neuer Ko-Agonisten und Tri-Agonisten. Und auch da wird sich in der Zukunft viel tun. Wir werden nicht nur stärkere Adipositas-Medikamente entwickeln. Wir werden auch die Entwicklung von Medikamenten sehen, die speziell personalisiert für bestimmte Begleiterkrankungen eingesetzt werden können, wie zum Beispiel Fettleber. Auch Arteriosklerose ist eine Komplikation, die man mit spezifischen Medikamenten gut behandeln kann. Also wir werden hier in der Zukunft eine Menge Neues, Spannendes erleben.“

Video-Mitschnitt & Transkript

Auf unserem YouTube-Kanal können Sie das Video auch in Sprecheransicht oder Galerieansicht sehen.

Das Transkript kann hier als pdf heruntergeladen werden.

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Anja Hilbert: „Professor Hilbert erhielt zur Durchführung von Studien Zuschüsse vom Bundesministerium für Bildung und Forschung; Zuschüsse vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Roland Ernst Stiftung für das Gesundheitswesen; Tantiemen für Bücher über die Behandlung von Essstörungen und Adipositas mit Hogrefe und Kohlhammer; Honorare für Workshops und Vorträge zu Essstörungen und Adipositas und deren Behandlung; Honorare als Herausgeberin des International Journal of Eating Disorders und der Zeitschrift Psychotherapeut; Honorare als Gutachterin vom Mercator Research Center Ruhr, Oxford University Press und der Deutschen Gesellschaft für Ernährung; Honorare als Beraterin für WeightWatchers, Zweites Deutsches Fernsehen und Takeda.“

Prof. Dr. Jens Aberle: „Ich bin an der klinischen Arzneimittelforschung beteiligt und habe Honorare für Vorträge und Advisory Boards von Astra Zeneca, Boehringer Ingelheim, Novo Nordisk und Lilly erhalten.“
Hinweis: Prof. Dr. Jens Aberle hat diesen Interessenkonflikt am 29.09.2023 nachgereicht.

PD Dr. Timo Müller: „Ich habe eine wissenschaftliche Kooperation mit Novo Nordisk, welche auch finanziell seitens Novo unterstützt wird.“

Literaturstellen, die vom SMC verwendet wurden

[I] Schienkiewitz A et al. (2022): Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen in Deutschland -Ergebnisse der Studie GEDA 2019/2020-EHIS. Journal of Health Monitoring. DOI: 10.25646/10292.

[II] Schienkiewitz A et al. (2022): Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring. DOI 10.17886/RKI-GBE-2018-005.2.

[III] Weghuber D et al. (2022): Once-Weekly Semaglutide in Adolescents with Obesity. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa2208601.

[IV] Novo Nordisk (24.12.2022): FDA approves once-weekly Wegovy® injection for the treatment of obesity in teens aged 12 years and older. Pressemitteilung.

[V] Jastreboff AM et al. (2022): Tirzepatide Once Weekly for the Treatment of Obesity. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa2206038.

[VI] Eli Lilly and Company (06.10.2022): Lilly receives U.S. FDA Fast Track designation for tirzepatide for the treatment of adults with obesity, or overweight with weight-related comorbidities. Pressemitteilung.

Weitere Recherchequellen

Wilding JPH (2021): Once-Weekly Semaglutide in Adults with Overweight or Obesity. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa2032183.