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07.04.2022

Warum die Industrie in Deutschland nicht schnell auf Erdgas verzichten kann

NGOs, Politiker und auch Forschende fordern immer wieder, auch auf Erdgas aus Russland vollständig zu verzichten. Betriebe und Konzerne dagegen warnen davor: Vor allem ein Erdgas-Embargo jetzt könne die Produktion im ungünstigsten Fall in vielen Branchen lahmlegen, weil mit und aus Gas viele Grundstoffe für andere Branchen hergestellt werden. Doch wie viel Gas wird in der Industrie tatsächlich wofür eingesetzt? Lässt es sich ersetzen, und wie schnell? Die Zahlen für 2019 finden Sie in diesem Fact Sheet; sie haben sich über die Jahre wenig verändert und ermöglichen daher eine erste Abschätzung. Und sie zeigen: Ein schneller Ersatz von Erdgas ist in vielen Industrieprozessen zeitnah kaum möglich.

Das Fact Sheet kann hier als pdf heruntergeladen werden.

Übersicht

     

  • Die Zahlen
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  • Wie kann bei einem Embargo Gas gespart werden?
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  • Fazit
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  • Literatur
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  • Weitere Recherchequellen
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Die Zahlen

     

  • In der Industrie wird Erdgas sehr anders eingesetzt als in Haushalten:
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  • Höhere Temperaturen: Glas zum Beispiel wird bei mehr als 1000 Grad Celsius verarbeitet. Es ist effizienter, diese Anlagen über Jahre hinweg laufen, als sie auskühlen zu lassen [1].
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  • Dauerverbrauch: Weil Anlagen rund um die Uhr laufen, verbrauchen sie witterungsunabhängig Erdgas das ganze Jahr hindurch. Haushalte verbrauchen am meisten Erdgas zum Heizen.
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  • Rohstoff: Erdgas wird auch als Rohstoff verwendet, für die Dünger- und Grundstoff-Produktion.
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  • Effizienz: Einzelne Produktionsschritte können stark miteinander verzahnt sein; eine Einheit Erdgas erfüllt dann mehrere Aufgaben (zum Beispiel Strom + Hitze erzeugen).
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  • Das macht eine Zuordnung des Gaseinsatzes in der Industrie schwierig.
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  • Die AG Energiebilanzen lässt diesen daher von einem Fraunhofer-Institut berechnen [2].
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  • Erdgasverwendung und Einsparpotenziale in der Industrie (Basis 2019)
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  • Die folgende Tabelle listet den Gaseinsatz in der Industrie 2019 nach Anwendungen auf, setzt die Menge in Bezug zum Gesamtverbrauch in DE und gibt an, wie schnell und wodurch sich Erdgas bei einem Embargo ersetzen ließe.
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  • Gesamtverbrauch Erdgas 2019 nach [3]: 892TWh, Anteil Industrie 306,8 TWh, (34,4%) Zum Vergleich Energieverbrauch der Haushalte 2019: 257 TWh (28,8%), Einsparpotenzial durch weniger Heizen (-1 Grad Celsius): bis zu -6% (ca. 15,6 TWh) Tabelle 1: nach [2] Tab. 59 (Warmwasser, Raumwärme, mech. Energie, Prozesswärme), [3] (Strom, stofflich), Reihenfolge Prozesswärme [8]. Wir haben uns auf das Jahr 2019 beschränkt, weil die Anwendungsbilanzen nach [2] nur bis zu diesem Jahr gehen. Die Werte ermöglichen trotzdem eine Einschätzung des Potenzials.
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Erdgasverwendung und Einsparpotenziale in der Industrie (Basis 2019)

Die folgende Tabelle listet den Gaseinsatz in der Industrie 2019 nach Anwendungen auf, setzt die Menge in Bezug zum Gesamtverbrauch in DE und gibt an, wie schnell und wodurch sich Erdgas bei einem Embargo ersetzen ließe.

Gesamtverbrauch Erdgas 2019 nach [3]: 892 TWh, Anteil Industrie 306,8 TWh, (34,4%) Zum Vergleich Energieverbrauch der Haushalte 2019: 257 TWh (28,8%), Einsparpotenzial durch weniger Heizen (-1 Grad Celsius): bis zu -6% (ca. 15,6 TWh) Tabelle 1: nach [2] Tab. 59 (Warmwasser, Raumwärme, mech. Energie, Prozesswärme), [3] (Strom, stofflich), Reihenfolge Prozesswärme [8]. Wir haben uns auf das Jahr 2019 beschränkt, weil die Anwendungsbilanzen nach [2] nur bis zu diesem Jahr gehen. Die Werte ermöglichen trotzdem eine Einschätzung des Potenzials.

Wie kann bei einem Embargo Gas gespart werden?

     

  • Falls Gas durch ein Embargo im Frühling knapp würde und/oder Gas gespart werden soll, damit die Speicher für den Winter gefüllt sind, könnte die Industrie:
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  • Weniger Gas als Rohstoff durch Drosselung der Produktion verwenden:
    • Konsequenz: abhängig von der Drosselung 20 TWh oder mehr Erdgaseinsparung
    • entsprechend fehlende Mengen an Ammoniak, Methanol oder HVC für die Weiterproduktion
    • offen ist, ob und wie diese kurzfristig ersetzt werden können
    • ggf. löst eine Drosselung weitere Drosselungen oder Schließungen anderer Betriebe aus
    • ggf. kann die Drosselung zu permanenter Verlagerung der Produktion führen = Fortfall von Steuereinahmen und Arbeitslosigkeit in Deutschland.
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  • Heizungen für Büros und Hallen bis zum Winter umstellen:
    • Statt Gas könnten Wärmepumpen und Biomasse (theoretisch auch Öl) eingesetzt werden.
    • Nach [4] ist bis Winter ein Austausch von 20 Prozent der Erzeuger durch Wärmepumpen möglich.
    • Konsequenz: Strombedarf steigt
    • Weil Wärmepumpen effizienter sind als Gasheizungen, fällt der Energiemehrbedarf prinzipiell geringer aus als die Energieeinsparung.
    • Der exakte Strom-Mehrbedarf hängt aber von zusätzlichen Dämmungen ab.
    • Ein schneller Austausch ohne Dämmung wäre eine ineffiziente Notmaßname.
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  • Stromversorgung und mechanische Energie bis zum Winter umstellen:
    • Industriekraftwerke können in der Regel nicht kurzfristig auf Öl oder Biomethan umgestellt werden. Sie erzeugen neben Strom auch Prozesswärme, die vor Ort benötigt wird.
    • Eine Umstellung kann den Umbau der Produktionsanlagen nach sich ziehen.
    • Noch vorhandene Industrie-Kohlekraftwerke könnten wieder in Betrieb genommen werden. Das Potenzial ist aber gering.
    • Konsequenz: Ob ein kurzfristiges Potenzial besteht, ist unklar und hängt von vielen Faktoren ab (zusätzliche Erzeugung von Prozesswärme, Verfügbarkeit von Brennstoffen und zusätzlicher Technik, Zusatzinvestitionen, Auftragslage im Handwerk).
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  • Prozesswärme bis zum Winter umstellen:
    • Nach [4] ist eine Umstellung von 10 Prozent der Anlagen möglich, die weniger als 100 Grad Celsius erzeugen [8].
    • Als Ersatz könnten Kohle oder Biomasse infrage kommen.
    • Konsequenz: Bei Einsatz von Kohle bliebe die Industrie auf Importe (wenn auch nicht aus Russland) angewiesen, Biomasse hängt von der Verfügbarkeit ab.
    • Der Rest der Anlagen lässt sich wahrscheinlich bis zum Winter nicht umstellen.
    • Unklar ist zudem, welche Anlagen ihren Verbrauch drosseln können.
    • Falls größere Mengen Erdgas gespart werden müssten und andere Sektoren (Haushalte, Verkehr, Gewerbe) dazu nicht herangezogen werden können, kann es notwendig sein, auch sehr aufwendige Prozess wie Flachglas-, oder Chemiegrundstoffherstellung zu stoppen.
    • Konsequenz: Produktionsausfall, Kurzarbeit, Produktausfall, weitere Produktionsausfälle, mögliche Produktionsverlagerung.
    • Die für den Fall einer Knappheit für die Gasverteilung zuständige Bundesnetzagentur [7] sollte daher für diesen Fall eine gut durchdachte Abschaltliste entwickeln.
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Fazit

     

  • Russland liefert pro Jahr Erdgas mit einer Energiemenge von rund 495 TWh [4].
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  • Bei einem Embargo könnte die Industrie Gas in der Größenordnung von ca. 26 TWh schnell einsparen. Das sind etwa fünf Prozent des russischen Imports [4].
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  • Große Einsparungen lassen sich kurzfristig offenbar fast nur erreichen durch:
    • Abschalten von energieintensiven Betrieben wie Glas- oder Papierfabriken,
    • Absenken der Produktion von Erdgas-verarbeitenden Betrieben wie die Kunstdüngerproduktion (Senken um 75 Prozent kann bis zu sechs Prozent des russischen Imports sparen [9]).
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  • Weil Betriebe und Prozesse eng miteinander verzahnt sein können, sind die Folgen schwer einschätzbar.
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  • Mögliche zusätzliche Erdgaseinsparungen im Sommer für ein beschleunigtes Auffüllen der Speicher bei einem Embargo scheinen gering:
    • Heizungen von Haushalten und Gewerben im Sommer laufen nicht; der Verbrauch zwischen Mai und September liegt bereits sehr niedrig [5],
    • der Gasbedarf der Industrie ist zum großen Teil witterungsunabhängig (siehe Tabelle).
    • Am meisten könnten Haushalte und Gewerbe durch Umstellung der Warmwasserbereitung erreichen.
    • Eine Art Erdgas-Sondersparprogramm, bei dem gasbeheizte Häuser (in allen Sektoren) bevorzugt gedämmt und die Warmwasserbereitung auf Strom umgestellt wird, könnte den Gasbedarf bis zu Winter zusätzlich etwas reduzieren.
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  • Mögliche zusätzliche Gaseinkäufe im Falle eines Embargos können das russische Gas nicht vollkommen ersetzen:
    • Zusätzliche Gaslieferungen und Flüssiggas könnten bis zu 33 Prozent des russischen Gases ersetzen [9]. Andere Quellen [4] [8] rechnen mit mehr.
    • Technisch wäre mehr Flüssiggas möglich, aber:
    • Lieferanten müssten mehr Gas fördern oder Lieferungen nach Europa umlenken [4] [8] [9].
    • Engpässe im Gasnetz Europas machen es unmöglich, Kapazitäten in Spanien oder der Türkei für Mittel- und Osteuropa voll zu nutzen [8].
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  • Die Folge: Zu Beginn der Heizperiode wären die Speicher in Europa womöglich zu weniger als 40 Prozent gefüllt [4].
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  • Mögliche zusätzliche Erdgaseinsparungen im kommenden Winter:
    • Bundesregierung und Bundesnetzagentur könnten zum verstärkten Energiesparen aufrufen:
    • Haushalte (257 TWh) und Gewerbe (105,7 TWh) könnten verstärkt zu Erdgas-Einsparungen herangezogen werden: -1 Grad Celsius können den Verbrauch rechnerisch um bis zu 21,7 TWh senken, -2 Grad um bis zu 43,4 TWh [3] [9]. Das wären 4,4 bis 8,8 Prozent des russischen Imports.
    • Die Industrie könnte durch Warmwasser-Umrüstungen und Raumwärme-Einsparungen ihren Gasverbrauch zusätzlich bis zu ca. 6,5 TWh senken, das wären etwa 1,5 Prozent des russischen Imports (Tabelle).
    • Im Stromsektor könnten etwa 15 Prozent des Gasbedarfs eingespart werden [4] [9].
    • Das Wetter kann den Gasbedarf um bis zu 50 TWh (um die 10 Prozent des russischen Imports) schwanken lassen [9].
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  • Konsequenz: Sollte kein zusätzliches Gas importiert werden können oder keine zusätzlichen Einsparungen erzielt werden, könnte durch ein Erdgasembargo die Gasversorgung im kommenden Winter knapp werden. Dann wird die Bundesnetzagentur entscheiden, ob und welche Betriebe die Produktion stoppen müssen:
    • Bleibt es bei der Reihenfolge: Haushalte und Krankenhäuser zuletzt, wird die Bundesnetzagentur eine Gaszuteilungs-Priorisierung für die Industrie erarbeiten müssen.
    • Diese kann äußerst komplex werden und viele Rechtsstreitigkeiten nach sich ziehen.
    • Diese kann dazu führen, dass Betriebe ihre Produktion in Deutschland einstellen und abwandern, oder durch Konkurrenz ersetzt werden.
    • Falls die Bundesregierung den Notfallplan Gas novelliert, kann sie eine andere Reihenfolge der geschützten Verbraucher festlegen und Einsparungen in Haushalten (zum Beispiel tagsüber) oder im Gewerbe (nachts) durch mehrere Stunden dauernde, rollierende Gassperren erzwingen. Ob das technisch möglich und politisch durchsetzbar wäre, ist offen; wie groß die Einsparungen wären auch.
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  • Bis zum Winter 2023/24 ließe sich dann mehr Erdgas in der Industrie einsparen, vornehmlich durch Elektrifizierung der mechanischen Anwendungen, Umstellung eines Teils der Industriekraftwerke oder der Erzeugung von Prozesswärme, vor allem in der Nahrungs- und Papier-Industrie [8] [9].
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  • Fazit: Bei einem Erdgas-Embargo im Frühjahr wird es im Winter 2022/23 sehr wahrscheinlich zu Gas-Abschaltungen in der Industrie kommen. Diese müssten sehr gut geplant werden, damit die Schäden in der Wirtschaft so gering wie möglich ausfallen. Ein von Deutschland ausgehendes Erdgas-Embargo sollte entsprechend sehr gut vorbereitet und die Konsequenzen sorgfältig abgewogen werden.
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Literatur

Weitere Recherchequellen

Science Media Center (2022): Ukraine-Krieg: Was tun ohne Gas, Öl und Kohle aus Russland? Press Briefing. Stand: 09.03.2022.

Science Media Center (2022): Möglicher Gas-Lieferstopp: Wie bereitet sich Deutschland auf den Winter vor? Rapid Reaction. Stand: 30.03.2022.

FZ Jülich (2022): No Stream: Erdgas Energy Dashboard. Interaktives Tool zur Berechnung der Folgen ausbleibender Gaslieferungen bis hin zum Embargo.

Bauer F et al. (2020): Power–to–X im Kontext der Energiewende und des Klimaschutzes in Deutschland. Chemie Ingenieur Technik. DOI: 10.1002/cite.201900167.