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19.12.2022

Entwicklung vollständig autonomer Autos vor dem Aus?

     

  • ab 2023 dürfen Fahrzeuge automatisiert bis zu 130 km/h schnell fahren
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  • Entwicklung für Pkw verlangsamt sich jedoch
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  • Fokus verlagert sich Forschenden zufolge auf Lkw-Entwicklung
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2023 könnte das automatisierte Fahren auch in Deutschland einen wichtigen Entwicklungsschritt nehmen: Vom 1. Januar an erlaubt die UN-Regelung 157 Fahrzeugen auf Level 3 bis zu 130 statt 60 Kilometer pro Stunde zu fahren [I] [II]. Level 3 bedeutet, das Fahrzeug kann in einem fest umrissenen Bereich, zum Beispiel einer Autobahn, automatisch fahren, der Fahrer darf sich anderen Dingen widmen. Er muss aber auf Anforderung des Fahrzeugs wieder die Kontrolle übernehmen [III]. Dabei dürfen die Fahrzeuge nun auch die Spuren automatisch wechseln. Derzeit gibt es allerdings erst einen Hersteller, der überhaupt ein erlaubtes System anbietet [IV].

Bereits in den vergangenen Jahren deutete sich an, dass automatisiertes und in Zukunft auch autonomes Fahren langsam in der Wirklichkeit ankommt, aber noch weit vom Alltag entfernt sind [V]. Das autonome Fahren ist in Deutschland zwar erlaubt, aber nur mit einer „technischen Aufsicht“, die das Fahrzeug im Notfall anfunken kann [II] [VI]. In Deutschland und Europa scheinen die Autohersteller beim autonomen Fahren vorsichtiger zu werden [VII], erste Medien in den USA sehen gar das Ende des Traums vom vollständig autonomen Fahren [VIII]. Andererseits laufen in den USA Testprogramme mit automatisch fahrenden Lkw.

Auch in Deutschland und Europa lenkt die Politik derzeit offenbar ihren Blick auf neue Interessenten: ÖPNV und Logistik. In beiden Branchen spielen Personalkosten eine große Rolle – wenn überhaupt genug Personal, sprich: Fahrer, gefunden werden können. Der Ersatz beziehungsweise die Ergänzung durch Roboterfahrzeuge könnte eine Abhilfe sein. So plant zum Beispiel das Bundesverkehrsministerium mit einem neuen Forschungsprogram, automatische Shuttle für den öffentlichen Nahverkehr zu fördern [IX], derzeit werden die Projekte ausgewählt.Die Luxemburger Staatsbahn CFE will ab dem kommenden Jahr zwei autonome Shuttle testen [X] und der Lkw-Hersteller MAN entwickelt mit Forschern und Entwicklern gesetzkonforme autonome Lkw: Fahrzeuge der Stufe 4, die auf festen Routen ohne Fahrer unterwegs sein können [XI].

Wir haben daher Wissenschaftler gefragt, ob die Forschung und Entwicklung derzeit tatsächlich an einer Wende stehen, der Hype vorbei ist und die Realität nun die kommenden Jahre stärker prägen wird.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Steven Peters, Leiter des Fachgebiets Fahrzeugtechnik, Technische Universität Darmstadt

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  • Prof. Dr. Markus Lienkamp, Lehrstuhl für Fahrzeugtechnik, Technische Universität München (TUM)

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  • Prof. Dr. Philipp Slusallek, Wissenschaftlicher Direktor Agenten und Simulierte Realität, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI), Saarbrücken

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Statements

Die folgenden Statements sind bewusst mit Blick auf langfristige Verwendbarkeit eingeholt und können auch in Zukunft zu diesem Thema Hintergrundinformationen bieten und zitiert werden.

Prof. Dr. Steven Peters

„Automatisierte Lkw im Langstreckenverkehr auf Autobahnen zwischen großen Umschlagsplätzen sind sowohl technisch als auch ökonomisch mittelfristig möglich. Dies ist besonders für die USA interessant – vor allem auf den Hauptachsen, die keine gute Alternative auf Schienen haben. Jedenfalls müssen die Firmen in solchen Szenarien nicht die Komplexität der Stadt beherrschen und gleichzeitig können Kostenvorteile trotz teurer Sensorik und Computer gehoben werden durch den Wegfall der sehr teuer gewordenen, menschlichen Fahrer, die Lenk- und Ruhezeiten einhalten müssen und sich immer seltener für diesen nicht familientauglichen Beruf finden lassen.“

„Global gesehen erwarte ich, dass wir noch vor den USA in China Robotaxis als Ergänzung zum ÖPNV sehen werden, da dort der Staat die Möglichkeiten schaffen kann, die Infrastruktur zu harmonisieren und dieser selbst Hüter eines gigantischen Datenschatzes von Verkehrssituationen aus den omnipräsenten Überwachungskameras ist, der sicher nicht ausländischen Herstellern zur Verfügung gestellt wird.“

„Für die deutschen Premium-OEM (OEM = Original Equipment Manufacturer, in der Autoindustrie synonym zu Fahrzeughersteller; Anm. d. Red) sehe ich keinen Markt im Robotaxi-Geschäft. Ich erwarte daher einen klaren Fokus auf Sonderausstattungen wie Autobahnpiloten bis 130 km/h sowie Komfortfunktionen für automated valet parking & charging. Für die Stadt erwarte ich von den OEM eher evolutionäre Weiterentwicklungen von Bremsassistenten etc.“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Nach der großen Euphorie beim autonomen Fahren haben alle Hersteller erkannt, dass dieses noch etliche Jahre benötigen wird, bis es in allen Situationen und auf allen Straßen möglich ist. Technisch weit einfacher zu realisieren ist das autonome Fahren in klaren und einfachen Situationen wie bei Bussen auf festen Strecken und beim sogenannten Hub-to-Hub-Fahren von Lkw auf der Autobahn. Neben den technischen Schwierigkeiten muss sich das autonome Fahren auch wirtschaftlich rechnen. Dies ist nur gegeben, wenn die Fahrzeuge möglichst den ganzen Tag fahren. Dies ist bei privaten Pkw nicht der Fall, sondern spricht für die Buslinien und Lkw.“

Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Nein, das Ziel ist nur nicht mehr, ein in allen Situationen autonom fahrendes Auto zu entwickeln und dann zu vermarkten, sondern Fahrzeuge (aller Art), die unter bestimmten Umständen autonom fahren können (Staus auf der Autobahn, instrumentierte Parkhäuser, etc.). Die Menge der Umstände in denen autonomes Fahren möglich ist, soll dann schrittweise ausgebaut und immer weiter vergrößert werden. Mercedes ist mit seiner inkrementellen Ausweitung von Fahrassistenzfunktionen ein gutes Beispiel dafür (jede neue Funktion kostet dabei aber auch noch mal einen Aufpreis).“

„Das Problem ist ja nicht, dass wir prinzipiell nicht autonom fahren können – das können wir. Wir können nur nicht sicherstellen, dass es nicht in bestimmten Situationen zu Fehlverhalten und gegebenenfalls größeren Schäden auch an Menschen kommen kann. Hier setzt das vom DFKI geprägte Ziel von ‚Trusted-AI‘ an, also KI für deren Verhalten wir Garantien abgeben können. Wir arbeiten schon länger an diesem Trusted-AI-Konzept, hier sind aber auch noch sehr viele grundsätzliche Fragen in der Zusammenarbeit von Forschung und Industrie zu klären, um deutlich schneller und auch in vielen anderen Anwendungsbereichen als dem autonomen Fahren voranzukommen. Neben Garantien für die physische Sicherheit sind das zum Beispiel auch Garantien für ethisch akzeptables Verhalten (Fairness, Robustheit, Fehlen von schädlichem Bias, etc.).“

Prof. Dr. Steven Peters

„Nach meiner Kenntnis arbeitet kein Unternehmen an einer Level-5-Technologie, zumal der Begriff nicht klar beziehungsweise einheitlich definiert ist. Lassen Sie es mich so sagen: Ein Fahrzeug, das weltweit in allen Wetter- und Verkehrssituationen, in denen wir Menschen fahren würden, automatisiert ohne menschliche Rückfallebene fahren wird, kann ich mir mit der heute bekannten Technologie nicht vorstellen.“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Level 5 bedeutet, in allen Situationen und auf allen Straßen durchgängig autonom fahren zu können. Dies ist bei Lkw (Hub to Hub) und bei festen Buslinien nicht erforderlich. Bei diesen beiden Anwendungen können die Fahrzeuge zudem durch Teleoperation kostengünstig überwacht werden, was die autonome Fahrfunktion vereinfacht.“

Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Technisch ist es völlig egal, ob es um Nutzfahrzeuge oder Pkw geht. Allerdings ist es im Bereich der Nutzfahrzeuge oft sehr viel einfacher, klar eingegrenzte Umstände zu definieren (und überwachen zu können), wo ein sicheres Verhalten garantiert werden kann. Das passt also sehr gut zu dem zuvor skizzierten Vorgehen der Industrie.“

Prof. Dr. Steven Peters

„Ich stelle mir das nicht so vor, dass in einer ‚akuten‘ Situation eingegriffen wird, das ist für eine menschliche Aufsicht in einer Zentrale gar nicht leistbar. Es geht bei solchen Konzepten, wie sie in den USA auch von den Betreibern der ersten lokal ohne Sicherheitsfahrer im Level-4-Modus fahrenden Taxis genutzt wird, darum, dass, wenn das Fahrzeug eine nicht bewältigbare Situation vorfindet, sich dieses in eine sichere Parkposition bringt und dann teleoperiert quasi ferngesteuert nach kurzer Zeit dort wieder weggefahren werden kann, bis es wieder selbst übernehmen kann.“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Die Teleoperation ist eine bald serienfähige Technologie. Mehrere Firmen, wie zum Beispiel Fernride, bieten die Technologie in Kürze an. Ein redundantes 5G-Netz auf den entsprechenden Strecken müsste dafür zur Verfügung stehen.“

Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Eine Aufsicht im Sinne der notwendigen Gefahrenabwehr in kritischen Situationen ist schon wegen der unvermeidlichen Zeitverzögerung der Datenübertragung sehr eng begrenzt und wenig zielführend. Das Fahrzeug muss selbstständig feststellen, wenn die Voraussetzungen für einen garantiert sicheren Betrieb nicht mehr gegeben sind und dann in einen sicheren Zustand übergehen (an den Fahrbahnrand fahren). Eine Überwachung kann gegebenenfalls nur helfen, aus solchen Situationen wieder herauszukommen.“

Prof. Dr. Steven Peters

„Ich sehe wenig technische Synergien zwischen straßengebundenen Systemen und der Schifffahrt oder dem Bahnverkehr oder der Luftfahrt. Die größte Schwierigkeit auf der Straße besteht im richtigen Sehen und Interpretieren der Situation. Dazu gibt es weder im See-, Schienen- oder Luftverkehr Analogien. Spannend ist hingegen noch die Straßenbahn, denn diese hat auf der einen Seite die Herausforderungen der Stadt mit diversen, teilweise sehr nahekommenden Verkehrsteilnehmern, andererseits aber einen einfacheren Aktionenraum, denn sie kann nur bremsen oder beschleunigen, nicht aber ausweichen – hier ist ein Potenzial, das in den nächsten Jahren gehoben werden kann und woran erste Konsortien (auch wir in Darmstadt) erfolgreich arbeiten.“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Es ist durchaus denkbar, dass die Technologien im Lkw oder ÖPNV auch in anderen Domänen wie Zug oder Schiff nutzbar gemacht werden. Dort gelten aber andere Sicherheitsvorschriften. Zudem wir das Thema Sicherheit, also der Schutz vor Angriffen auf die Technologie, an Bedeutung gewinnen.“

Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Die Prinzipien von Trusted-AI sind überall dieselben, auch wenn sich die konkreten Probleme und die Definition der Umstände, in denen ein garantiert sicheres Verhalten des KI-Systems möglich ist, je nach Anwendungsgebiet teilweise deutlich unterscheiden. Als DFKI arbeiten wir aber heute schon mit Industriepartnern aus sehr unterschiedlichen Sektoren zusammen und versuchen dabei, die grundsätzlichen Prinzipien und Techniken für Trusted-AI weiterzuentwickeln.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] United Nations Economic Commission for Europe UNECE (2022): Proposal for the 01 series of amendments to UN Regulation.

[II] Bundestag (2021): Straßenverkehrsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. I S. 310, 919), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 12. Juli 2021 (BGBl. I S. 3108) geändert worden ist.

[III] Science Media Center (2021): Die Stufen zum autonomen Fahren. Fact Sheet. Stand 20.04.2021.

[VI] Mercedes Benz (2022), Drive Pilot. Beschreibung auf dem Internetauftritt des Herstellers, abgerufen am 15.11. 22

[V] Science Media Center (2021): Wie weit ist die Forschung mit dem autonomen Fahren? Science Response. Stand 15.04.2021.

[VI] Science Media Center (2021): Gesetzentwurf zum automatischen Fahren im Kabinett. Rapid Reaction. Stand 10.02.2021.

[VII] Stefan Menzel, Felix Holtermann (27.10. 2022): Volkswagen und Ford geben Milliardenprojekt für autonomes Fahren auf – Mitarbeiter entsetzt. Handelsblatt.

[VIII] Darrell Etherington (2022) It’s time to admit self-driving cars aren’t going to happen. Tech Crunch, abgerufen am 15.11. 2022

[IX] Bundesministerium für Digitalisierung und Verkehr BMDV (2022): Bekanntmachung Erster Aufruf zur Einreichung von Projektskizzen gemäß der Förderrichtlinie „Autonomes und vernetztes Fahren in öffentlichen Verkehren“ vom 14. September 2022. Abgerufen am 15.11. 2022.

[X] Luxembourg Trade & Invest (2022): Ohmio Automotion Ltd expands to Luxembourg. Abgerufen am 15.11.2022

[XI] ATLAS-L4 (2022): Förderprojekt für autonome Trucks. Abgerufen am 14.11.2022