Psilocybin – Neues Wundermittel der Psychiatrie?
aus Pilzen gewonnene Substanz erfährt derzeit großen Hype
womöglich bei vielen psychischen Leiden einsetzbar
genauer Wirkmechanismus nicht geklärt, noch fehlen große klinische Studien
Seit Jahrhunderten weiß die Menschheit um die halluzinogene Wirkung von Pilzen. Heutzutage werden derlei „Magic Mushrooms“ auch zunehmend für die Medizin relevant. Die psychoaktiven Subtanzen mancher Pilze besitzen das Potenzial, psychische Erkrankungen zu behandeln, etwa Depressionen, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Im Fokus der Forschung steht vor allem der Wirkstoff Psilocybin. Er gehört chemisch zur Gruppe der sogenannten Tryptamine und ähnelt strukturell dem Neurotransmitter Serotonin. Psilocybin kommt in einigen Pilzarten vor, insbesondere der Gattung der Kahlköpfe.
Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Freiburg, Schweiz
„Das Interesse in der psychiatrischen Forschung ist bei Psilocybin enorm groß und es gibt immer mehr klinische und präklinische Forschungsgruppen, die sich mit Psychedelika befassen. Das sieht man auch an der Anzahl an Publikationen, den Abstract-Einreichungen bei Psychiatrie-Kongressen und den wissenschaftlichen Symposien und Vorträgen zum Thema.“
Neurowissenschaftliche Mechanismen
„Hier scheint mir die Tatsache sehr wichtig, dass medizinische Behandlungen nicht aufgrund von Mechanismen, sondern aufgrund von klinischen Studien zur Sicherheit und Wirksamkeit zugelassen werden. Eine Reihe von Studien in verschiedenen Ländern belegen die Wirksamkeit von Psilocybin bei psychiatrischen Indikationen. Tierversuche zeigen, dass Psychedelika die funktionelle und strukturelle Neuroplastizität deutlich verstärken. Dies eröffnet die Möglichkeit, mittels Psychedelika die Wirksamkeit von Psychotherapien zu verstärken. Ferner gibt es psychologische Mechanismen, die von Interesse sind, etwa die Verbesserung der Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen. Ich nenne dies den Helioskop-Effekt, weil Psychedelika es ermöglichen, mitten in den Schmerz zu sehen (Sonne, Helios), ohne verbrannt zu werden. Wir wissen auch, dass die Vorbereitung und die Auswahl der Patient:innen von großer Bedeutung für Sicherheit und Wirksamkeit sind. Kritisch muss angemerkt werden, dass es leider nicht möglich ist, Psychedelika-Studien zu verblinden, sodass mögliche Placebo-Effekte nicht ausgeschlossen werden können.“
Behandlungsspektrum und Zulassung
„Die meisten Daten zu einer Psilocybin-Therapie gibt es zu Depression. Es gibt ebenfalls ermutigende Daten zu Alkoholabhängigkeit, Angststörungen und der posttraumatischen Belastungsstörung. In der Schweiz kann für Patient:innen, die in der Schweiz wohnen, eine Einzelfallbewilligung eingeholt werden. In Australien sind Psychedelika bereits für die Psychotherapie zugelassen. Für eine reguläre Zulassung braucht es Firmen, die große randomisierte, placebokontrollierte Studien durchführen und die Daten an die Zulassungsbehörden einreichen. In den USA scheint man kurz vor der Zulassung für MDMA (Ecstasy; Anm. d. Red.) bei der posttraumatischen Belastungsstörung zu sein. Ob und wann Psychedelika in der EU zugelassen werden, kann ich nicht vorhersagen.“
Kosten-Nutzen-Rechnung
„Die Sicherheit kann nur dann gewährleistet werden, wenn die Patient:innen psychiatrisch ausführlich untersucht werden, weil es einige wichtige Ausschlusskriterien gibt. Menschen, etwa solche mit psychotischen Störungen, müssen vor Psychedelika geschützt werden. Bei der richtigen Auswahl und Vorbereitung und einem sicheren und serösen Behandlungssetting mit geschultem Personal scheint die Therapie mit Psilocybin sehr sicher zu sein. Dies zeigen Studien, aber auch die langjährige Erfahrung mit Psychedelika-Therapien in der Schweiz.“
Leiterin der Arbeitsgruppe Pharmaco-Neuroimaging and Cognitive-Emotional Processing, Institut für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universität Zürich, Schweiz
„Das Interesse am medizinischen Potenzial von Psychedelika, insbesondere Psilocybin, ist definitiv stark gestiegen. Nach der Publikation von wenigen kleinen und unkontrollierten Pilotstudien sind nun auch einige sogenannte randomized controlled trials zur Wirksamkeit von Psilocybin in der Depressionsbehandlung veröffentlicht worden. Diese Ergebnisse sind grundsätzlich vielversprechend, trotzdem fehlen nach wie vor große Phase-III-Studien.“
Neurowissenschaftliche Mechanismen
„Zwar gibt es derzeit einige Studien, die auf die Wirksamkeit von Psilocybin hinweisen, aber der Mechanismus, der dieser klinischen Wirksamkeit zugrunde liegt, ist nach wie vor unbekannt. Einige Studien zeigen nach der Psilocybin-unterstützten Therapie Veränderungen in der Art und Weise, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, jedoch konnte bisher noch nicht gezeigt werden, dass diese mit einer Verbesserung der Symptomatik einhergehen. Auch wird spekuliert, dass Psilocybin die Neuroplastizität anregt – also Lernen und Vergessen vereinfacht. Aber dies wurde bisher nur in Tierstudien untersucht. Der klinische Mechanismus, der dem therapeutischen Effekt zugrunde liegt, bleibt daher für den Moment noch ungeklärt. Wir brauchen hier definitiv noch weitere Forschung.“
Behandlungsspektrum und Zulassung
„Bisher gibt es Studien, die auf eine Wirksamkeit bei Depressionen, Angsterkrankungen, und Abhängigkeitserkrankungen hindeuten. Da der Mechanismus, durch den dieser therapeutische Effekt entsteht, noch ungeklärt ist, ist es auch schwierig zu sagen, welche anderen Patienten von dieser Art der Therapie profitieren könnten. Es sind aber weitere klinische Studien in der Mache, zum Beispiel im Bereich der Zwangserkrankungen. Bevor Psilocybin als Medikament zugelassen werden kann, muss die Wirksamkeit erst in großen Phase-III-Studien geprüft werden.“
Kosten-Nutzen-Rechnung
„Die publizierten Daten zeigen bisher wenige Nebenwirkungen. Einige Patienten profitieren sehr stark von der Therapie, aber nicht alle. Es hat sich auch gezeigt, dass einige Patienten sehr lange profitieren, während bei anderen Depressionen zum Beispiel nach wenigen Wochen wieder zurückkehrten. Die Ursachen dafür müssen noch genauer untersucht werden.“
Stellvertretender Chefarzt der klinischen Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsspital Basel, Schweiz
„In den letzten Jahren hat das Interesse an Psilocybin von akademischen Forschern und auch jenes der Industrie deutlich zugenommen. Heute werden Dutzende medizinische Studien mit Psilocybin für verschiedene Indikationen durchgeführt. Zudem sind erste Daten zur Wirksamkeit vor allem bei Depression veröffentlicht worden.“
Neurowissenschaftliche Mechanismen
„Psilocybin zeigt wie andere Psychedelika starke neuroplastische Effekte. Psychedelika wirken vermutlich teilweise über diese Neuroregenration. Zudem führen sie akut zu einem psychedelischen Erlebnis mit angenehmen Gefühlen – Gefühlen von Verbundenheit mit anderen, der Welt und mit sich selbst. Die Stärke dieser akuten Erlebnisse korreliert mit dem Effekt auf seelische Krankheiten. Ein Teil der Wirkung könnte daher auch auf psychologische Effekte zurückgeführt werden.“
Behandlungsspektrum und Zulassung
„Am besten ist die Datenlage für Depression. Mögliche Anwendungen sind auch Angststörungen und weitere psychiatrische Störungen sowie Cluster-Kopfschmerzen und Migräne. Bisher wurden Phase-II-Studien zur Wirksamkeit abgeschlossen. Nun sind Phase-III-Studien nötig. Diese werden von der Industrie durchgeführt und in der Regel braucht es zwei große Studien und weitere Daten für eine Zulassung.“
Kosten-Nutzen-Rechnung
„Im Vergleich zum Nutzen bei gewissen psychiatrischen Krankheiten sind die unerwünschten Wirkungen gering. Die positive Wirkung tritt zudem rasch ein und scheint lange anzuhalten. Die unerwünschten Effekte sind primär akute Angst bei einem Teil der Patienten.“
Leiter des eigenständigen Bereichs für Psychosoziale Medizin und Entwicklungsneurowissenschaften sowie Leiter des Zentrums für Essstörungen an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden
„Zu Psilocybin wird bereits seit einigen Jahren intensiv geforscht. Der Fokus liegt derzeit auf der Behandlung von therapieresistenter Depression, aber zunehmend wird Psilocybin auch für andere psychiatrische Erkrankungen interessant.“
Neurowissenschaftliche Mechanismen und Behandlungsspektrum
„Psilocybin moduliert das Serotonin-System. Das macht es theoretisch für eine Vielzahl von Erkrankungen relevant, die mutmaßlich eng mit dem Serotonin-Haushalt zusammenhängen – wobei solch ein Zusammenhang mit Serotonin ja zum Beispiel bei Depressionen derzeit wieder hinterfragt wird. Im Bereich der Zwangs- und Essstörungen gibt es bereits zahlreiche psychotherapeutische Ansätze, die aber nicht immer erfolgreich sind. Eine neue Möglichkeit der Medikation wäre daher spannend. Für Magersucht hat jetzt eine Phase-I-Studie zumindest die Verträglichkeit von Psilocybin gezeigt [1]. Da Patientinnen mit Magersucht durch das Untergewicht körperlich eingeschränkt und somit vulnerabel sind, ist dies ein Meilenstein. Für die Zwangsstörung läuft die korrespondierende Studie noch. Psilocybin wirkt vermutlich vor allem dadurch, dass es dabei hilft, Gedankenkreisen und bestimmte eingefahrene Verhaltensweisen zu durchbrechen, die vor allem bei internalisierenden psychiatrischen Erkrankungen vorkommen. Hier liegt auch augenscheinlich das therapeutische Potenzial.“
Zulassung und Kosten-Nutzen-Rechnung
„Um den Wirkstoff ist derzeit ein regelrechter Hype entstanden, bei dem die Limitationen aber nicht außer Acht gelassen werden dürfen. So ist es bei psychedelischen Substanzen wie Psilocybin nahezu unmöglich, die Verblindung bei placebokontrollierten Studien aufrechtzuerhalten. Die Probanden durchschauen ja sofort, ob ihr Mittel psychedelische Erfahrungen hervorruft oder nicht. Deshalb ist es auch sehr schwierig, die Wirkung, die sich wegen einer bestimmten positiven Erwartung einstellt, von der eigentlichen pharmakologischen Wirkung zu differenzieren. Dann ist eine Psilocybin-Therapie natürlich sehr individuell und erfordert eine Eins-zu-eins-Betreuung, was die Therapie sehr teuer macht. Hier müsste man sich künftig fragen, ob es stets ein Psychiater oder approbierter Psychologe sein muss, der den Patienten dabei überwacht beziehungsweise welche spezifischen Qualifikationen dafür nötig sein werden. Australien hat als erstes Land jüngst Psilocybin zur Behandlung bestimmter psychiatrischer Erkrankungen zugelassen. Das ist schon sehr früh, wir wissen vieles einfach noch nicht. Wichtig wäre, dass derlei Pilotversuche eng von der Forschung begleitet werden. Erfreulich ist, dass Psilocybin offenbar in der Regel ohne schwerwiegende Nebenwirkungen daherkommt. Zu diskutieren wird jedoch sein, ob es für die Wirkung zwangsläufig die psychedelische Erfahrung braucht.“
Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging, Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim
„Das Interesse an Psilocybin ist sehr groß, und es hat ungefähr seit 2016 stetig zugenommen. Das liegt zum einen sicher daran, dass es in den letzten 20 Jahren so wenige Innovationen in der psychiatrischen Therapie gegeben hat, zum anderen aber sicher auch an der Tatsache, dass Psychedelika, anders als alle verfügbaren Therapien, in wenigen Einzelgaben zu wirken scheinen. Das stellt bisher gültige Paradigmen infrage.“
Neurowissenschaftliche Mechanismen
„Es sind keine neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und auch keine neuen Mechanismen, die die Wirksamkeit von Psychedelika nahelegen. Am Ende zählt nur die klinische Studie. Und die bisher vorliegenden Studien sind einfach vielversprechend. Der Mechanismus kann noch so ,spannend‘ sein: Wenn die klinischen Studien nicht erfolgreich sind, ist das völlig wertlos.“
Behandlungsspektrum und Zulassung
„Derzeit laufen klinische Studien bei nahezu allen häufigen psychiatrischen Erkrankungen. Ausnahmen sind Schizophrenien und bipolare Störungen, hier gelten die Risiken als noch zu hoch. Wenn die Ergebnisse jedoch weiter so vielversprechend sind, wird man auch bestimmte Patienten mit diesen Erkrankungen irgendwann in klinischen Studien behandeln. Von einer Zulassung sind wir allerdings noch viele Jahre entfernt. Die britische Firma COMPASS plant zwei Phase-III-Studien, deren Ergebnisse noch Jahre auf sich warten lassen werden [2].“
Kosten-Nutzen-Rechnung
„Psychedelika sind wirkmächtige Substanzen, die im Einzelfall Psychosen, Manien und auch Depressionen und Angsterkrankungen auslösen können. Entsprechend disponierte Menschen können sie erheblich destabilisieren. Diese Risiken kann man in einem medizinischen Setting erheblich reduzieren.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Weiterführende Recherchequellen
Gründer G et al. (2023): Efficacy and Safety of Psilocybin in Treatment-Resistant Major Depression: EPIsoDE. (Laufende deutsche Studie)
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Knatz Peck S et al. (2023): Psilocybin therapy for females with anorexia nervosa: a phase 1, open-label feasibility study. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-023-02455-9.
[2] COMPASS Pathways (28.07.2023): Pipeline overview.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Goodwin GM et al. (2022): Single-Dose Psilocybin for a Treatment-Resistant Episode of Major Depression. The New England Journal of Medicine. DOI: 10.1056/NEJMoa2206443.
[II] Crowe M et al. (2023): Experiences of psilocybin treatment for clinical conditions: A qualitative meta-synthesis. International Journal of Mental Health Nursing. DOI: 10.1111/inm.13127.
[III] Knatz Peck S et al. (2023): Psilocybin therapy for females with anorexia nervosa: a phase 1, open-label feasibility study. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-023-02455-9.
[IV] Guss J et al. (2020): The Yale Manual for Psilocybin-Assisted Therapy of Depression. PsyArXiv. DOI: 10.31234/osf.io/u6v9y.
Prof. Dr. Gregor Hasler
Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Freiburg, Schweiz
PD Dr. Katrin Preller
Leiterin der Arbeitsgruppe Pharmaco-Neuroimaging and Cognitive-Emotional Processing, Institut für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universität Zürich, Schweiz
Prof. Dr. Matthias Liechti
Stellvertretender Chefarzt der klinischen Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsspital Basel, Schweiz
Prof. Dr. Stefan Ehrlich
Leiter des eigenständigen Bereichs für Psychosoziale Medizin und Entwicklungsneurowissenschaften sowie Leiter des Zentrums für Essstörungen an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden
Prof. Dr. Gerhard Gründer
Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging, Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim