Prävention von 14 Risikofaktoren könnte Demenzfälle verhindern
Lancet-Kommission stellt zwei weitere relevante Risikofaktoren für eine Demenz-Erkrankung vor: LDL-Cholesterinspiegel und Sehverlust
würden alle 14 Risikofaktoren eliminiert, könnten laut des Berichts 45 Prozent der Demenzfälle verhindert werden
Expertin und Experten erklären Schwierigkeiten bei der Ermittlung von Risikofaktoren und halten den 45-Prozent-Wert für unrealistisch
Fast die Hälfte der Demenzfälle könnte laut aktuellen Berechnungen einer Lancet-Kommission verhindert oder verzögert werden, wenn 14 Risikofaktoren eliminiert werden. Dieses und weitere Ergebnisse veröffentlichte sie in einem Report (siehe Primärquelle). Zu den zwölf bisherigen modifizierbaren Risikofaktoren ergänzt die Kommission in ihrem neuen Report zwei weitere: ein erhöhter LDL-Cholesterinspiegel (Low-Density-Lipoprotein, eine Unterform des Gesamt-Cholesterin-Werts) und Sehverlust.
Leiter der Sektion für Gerontopsychosomatik und demenzielle Erkrankungen an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Universitätsmedizin Rostock, und Leiter der Forschungsgruppe Klinische Demenzforschung, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Prävention von Demenz
„Seit 2011 haben eine Reihe von prospektiven epidemiologischen Studien im Vereinigten Königreich, Dänemark, den Vereinigten Staaten und Deutschland gezeigt, dass das altersbezogene Demenzrisiko in den letzten zehn Jahren um etwa 3,5 Prozent gesunken ist. Jemand, der heute 60 Jahre alt ist, hat ein etwa 3,5 Prozent geringeres Demenzrisiko als jemand, der vor zehn Jahren schon 60 Jahre alt war. Letztlich kann man in Studien nicht rekonstruieren, welche Faktoren dabei wirklich eine Rolle spielen. Es sind vermutlich der Zugang der Nachkriegsgeneration zu einer besseren Gesundheitsversorgung und zu Bildung, gerade bei Frauen, und die Abnahme des Rauchens, zumindest bis vor wenigen Jahren. Aktuell beobachten wir wieder einen Anstieg des Rauchens. Dies sind Zahlen, die für offensichtlich säkulare Effekte (Effekte des Gesellschaftswandels; Anm. d. Red.) sprechen.“
Neue Risikofaktoren
„Einer der neuen Faktoren, der erhöhte LDL-Cholesterinwert, wurde von der WHO schon 2019 in ihrem Report aufgelistet. Dies ist also kein neuer Risikofaktor. Auch zum Sehverlust als Risikofaktor für Demenz gibt es einige Studien, die auch im Report genutzt werden. Die beiden neuen Risikofaktoren sind sicherlich solide belegt, aber die Summe der verhinderbaren Demenzfälle über alle Risikofaktoren hinweg wird nicht bei 45 Prozent liegen.“
Berechnete Risikoreduktion aus dem Lancet-Report
„Die Studie addiert die einzelnen modifizierbaren Risiken auf knapp 45 Prozent. Wenn man mehrere Risikofaktoren beeinflusst, gibt es jedoch synergistische Effekte, man kann für einzelne Individuen die Effekte der Risikoreduktion deswegen nicht einfach aufsummieren. Ich denke, die 45 Prozent liegen im oberen Randbereich dessen, was man erwarten kann und die Wirklichkeit liegt deutlich darunter. In Kombination mit den Daten aus den prospektiven epidemiologischen Studien spricht aber einiges dafür, dass die Prävalenz von Demenz beeinflussbar ist – auch durch Präventionsmaßnahmen.“
Methodik des Reports
„Der Report beruht auf Meta-Analysen von existierender Literaturevidenz. Das Modell dahinter ist, dass für jeden einzelnen Faktor ein zuordbares Risiko berechnet wird. Kritisieren lässt sich an dem Report Folgendes: Zum einen ist nicht davon auszugehen, dass man einen Risikofaktor gänzlich ausschalten kann. Und zum anderen ist es so, dass die Effekte von einzelnen Faktoren sich nicht einfach aufsummieren lassen, sondern dabei Überlappungen bestehen. Durch das Aufsummieren auf 45 Prozent werden die Erwartungen an Demenzprävention unrealistisch hoch.“
„Die Autoren des Reports diskutieren die Limitation, dass die epidemiologischen Daten, die dort ausgewertet werden, keine kausalen Zusammenhänge zeigen. Solche prädiktiven Modelle wie im Report können sehr gut einen bestimmten Effekt vorhersagen. Das heißt aber nicht, dass sie automatisch auch einen kausalen Effekt widerspiegeln. Es gibt im Gegenteil sogar Modelle, die sehr gut prädiktiv sind, aber gleichzeitig keine Kausalität beinhalten. Die Außenwahrnehmung ist: Man kann das Risiko um 45 Prozent senken. Das wird im Report ein bisschen plakativ kommuniziert. Die Methodik als solche ist aber grundsätzlich nicht zu kritisieren.“
„Die Studien, die der Report untersucht, sind internationale Studien. Die meisten Studien repräsentieren trotzdem eine kaukasische Bevölkerung. Wir brauchen mehr Studien, die ethnische Diversität einschließen, denn bisher ist die Evidenz sicher durch eine Überrepräsentation der Nordhalbkugel verzerrt.“
Gesundheitspolitische und individuelle Konsequenzen
„Präventionsprogramme, die jetzt schon im Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen bestehen, kann man auch noch in Hinblick auf Demenz stärken. Was gut ist für die Herzgesundheit, ist auch für die Hirngesundheit gut. Es lohnt sich also doppelt, in Prävention zu investieren. Das Thema Hirngesundheit spielt zunehmend eine Rolle, etwa in der nationalen Demenzstrategie. Der Lancet-Report unterstreicht das Potenzial von Prävention auf Demenz.“
„Zwei Drittel der Risikofaktoren für Demenz sind auch Risiken für das kardiovaskuläre System. Hinzu kommen noch hirnspezifische Faktoren, insbesondere Sehstörungen, Hörstörungen und soziale Isolation, deren Verhinderung vor Demenz schützt. Prospektive Interventionsstudien zeigen tatsächlich, dass die Hörgeräte-Versorgung einen Effekt auf die Gedächtnisleistung hat. Das bedeutet, dass ein frühzeitiges Screening und eine konsequente Hörgeräteversorgung wahrscheinlich einen großen Effekt haben.“
„Der Effekt des Sehverlust auf das Demenzrisiko ist nicht ganz so groß wie der der Hörstörung. Natürlich würden Präventionsmaßnahmen in eine ähnliche Richtung gehen: das Sehvermögen zu erhalten.“
„Ein weiterer Punkt, der von der Lancet Commission angesprochen wird, ist die Bemühung um eine verbesserte Luftqualität, insbesondere im Hinblick auf Nanopartikel oder Mikropartikel. Was dem Klimaschutz dient, hilft auch beim Gesundheitsschutz.“
„Die Betrachtungen des Reports über die gesamte Lebensspanne sind interessant: Man sollte den Fokus auch auf Prävention legen, die im Leben schon viel früher ansetzt. Ein solcher Ansatzpunkt ist der Zugang zu Bildung. Das ist etwas, wo die Politik für künftige Generationen einen großen Einfluss haben kann.“
Auf die Frage, was Menschen individuell tun können, um sich vor Demenz zu schützen:
„Für Menschen im mittleren Alter, die sich vor Demenz schützen wollen, ist die wichtigste Maßnahme, sich mit Hörgeräten zu versorgen, wenn das Hören schlechter wird. Hoher Blutdruck sollte frühzeitig behandelt werden, nicht erst bei 65-Jährigen. Ein gesunder Lebensstil ist generell wichtig, speziell wichtig für die Demenzprävention ist es, sozial aktiv zu bleiben.“
Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Demenzforschung, Uniklinik Köln, und Leiter Kooperations-Einheit Köln, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Prävention von Demenz
„Demenzprävention durch einen gesünderen Lebensstil findet bereits statt. Die Häufigkeit von Demenzen nimmt prozentual in Bezug auf das Alter in vielen Ländern – auch in Deutschland – seit Jahren ab. Allerdings nimmt die Anzahl der älteren Menschen schnell zu, so dass die Gesamtzahl der Demenzerkrankten leicht ansteigt. Würden wir aber ungesünder leben und weniger auf zum Beispiel Blutdruck, Bewegung und Ernährung achten, wären die Zahlen der Demenzerkrankten höher.“
Neue Risikofaktoren
„Die neuen Risikofaktoren zeigen, dass vaskuläre Risikofaktoren (LDL-Cholesterin) und auch schlechter sensorischer Input in Form von schlechtem Sehen ans Gehirn relevant sind. Hörstörungen waren schon ein bekannter Risikofaktor. Jetzt sind noch die Sehstörungen dazugekommen. Beides, erhöhtes Cholesterin und Sehstörungen, sind behandelbar und somit reduzierbar."
Berechnete Risikoreduktion aus dem Lancet-Report
„Das 45-prozentige Gesamtrisiko, das durch modifizierbare Faktoren bestimmt ist, ist eine theoretische Zahl. Sie sagt aus, dass wenn alle 14 Risikofaktoren vollkommen ausgeschaltet werden könnten, die Häufigkeit von Demenz in der Bevölkerung um 45 Prozent geringer wäre. Es ist aber keine realistische Annahme, dass alle Risikofaktoren vollständig in der ganzen Bevölkerung verhindert werden können.“
Methodik des Reports
„Die Methodik ist State of the Art und sehr umfassend. Der Report ist die Referenzarbeit zu den Risikofaktoren für Demenz, wie das auch schon beim Report der Gruppe aus dem Jahr 2020 der Fall war [I].“
Gesundheitspolitische und individuelle Konsequenzen
„Es muss allgemein bekannter werden, dass auch das Gehirn durch ein gesundes Leben geschützt werden kann, nicht nur das Herz. Hirnprävention sollte in alle Präventionsprogramme aufgenommen und kommuniziert werden. Gesundheitspolitisch sollte Prävention insgesamt über Kampagnen und Angebote, aber auch über Krankenkassenleistungen gestärkt werden. Klinisch sollte auf allen Ebenen – hausärztlich sowie fachärztlich – die Erkennung und Behandlung von Risikofaktoren umgesetzt werden. Individuen können schauen, welche Risikofaktoren bei ihnen selbst vorliegen und aktiv daran arbeiten, diese zu reduzieren. Die meisten Risikofaktoren sind nicht hirnspezifisch, sondern gelten auch für viele andere Erkrankungen. Also führt die individuelle Risikofaktorreduktion auch zu einem allgemeinen positiven Effekt auf die Gesundheit.“
Weitere Demenz-Risikofaktoren
„Es gibt erste Hinweise darauf, dass dauerhafte Schlafstörungen über viele Jahre das Demenzrisiko erhöhen könnten und ein mediterraner Ernährungsstil wahrscheinlich im Vergleich zu einem westlichen Ernährungsstil protektiv in Bezug auf Demenz ist. Aktuell reicht aber die Datenlage noch nicht dafür aus, dass diese Faktoren in die Arbeit aufgenommen wurden.”
Professor für Alterspsychiatrie, University of Oxford, Vereinigtes Königreich
Zusammenfassung
„Der dritte Bericht der Ständigen Lancet-Kommission für ‚Demenzprävention, -intervention und -pflege‘ zielt darauf ab, ‚Politik, Wissen, klinische Praxis und die Forschungsagenda zu beeinflussen‘. Die Kommission macht Empfehlungen für alle Lebensstadien, um das Demenzrisiko zu reduzieren. Sie empfiehlt Maßnahmen wie bessere Schulbildung, Benutzung von Hörgeräten und Screening auf Sehverlust, sowie verbesserte Herz-Kreislauf-Prophylaxe zum Beispiel durch Reduzierung des Rauchens und der Low-Density-Lipoproteine im Blut. Darüber hinaus empfiehlt sie eine die Verringerung der Luftverschmutzung, eine wirksame Behandlung von Depression, und die Schaffung altersgerechter und unterstützender sozialer Umgebungen und Wohnformen. Die Kommission weist darauf hin, dass die Eliminierung von vierzehn Risikofaktoren ‚theoretisch‘ fast die Hälfte der Demenzerkrankungen verhindern könnte und dass dies ‚Hoffnung macht‘. Diese Formulierung ist etwas vorsichtiger als sie es in den vorhergehenden Berichten war. Die Reichweite der epidemiologischen Forschungsmethoden, die zur Identifizierung der Demenzursachen benutzt werden, ist nämlich deutlich begrenzt. Insbesondere bedeuten die beschriebenen Korrelationen zwischen Risikofaktoren und Demenz keine Kausalität (‚some associations might be only partly causal‘).“
„Leider verkürzt sich die Berichterstattung in der Presse typischerweise auf die Schlagzeile ‚die Hälfte aller Demenzerkrankungen ist vermeidbar‘, was zu Fake News und falschen Hoffnungen führt und bei Patienten den Eindruck erweckt, Demenz sei zumindest teilweise eine ‚Lifestyle Choice‘, weil sie sich nicht ausreichend um ihre Gesundheit gekümmert haben.“
„Es besteht kein Zweifel daran, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen lobenswert sind, schon allein deshalb, weil sie allgemein Gesundheit und Wohlbefinden verbessern – Wer würde schon etwas gegen mehr Bildung, weniger Luftverschmutzung, die Behandlung von Depressionen oder die Verbesserung der körperlichen Gesundheit der Menschen einwenden?“
Methodik des Reports
„Aus praktischen und ethischen Gründen ist es meistens unmöglich, randomisierte Kontrollstudien durchzuführen, die die Kausalität der Risikofaktoren und deshalb die Effektivität solcher vorgeschlagenen Interventionen in der Demenzvorbeugung beweisen könnten. Neuere genetisch inspirierte Methoden, wie die Mendelian Randomization (nicht-experimentelle Methode, um durch genetische Variationen den Einfluss veränderbarer Einflussfaktoren zu untersuchen; Anm. d. Red.), haben die postulierten Risikofaktoren im Allgemeinen als nicht kausal betätigt. Nicht-kausale Erklärungen für die identifizierten Korrelationen bedeuten oft, dass eine Manipulation solcher Risikofaktoren nicht zu einer Prävention der Demenz führen wird.“
Limitationen bei der Erforschung von Risikofaktoren
„Die Diagnose der Demenz steht am Ende einer jahrzehntelangen Krankheitsentwicklung, die oft mit Verhaltensveränderungen, wie sozialem Rückzug, Depressionen und sensorischen Veränderungen (reduziertem Geruchsvermögen, Hör- und Sprachverständnisstörungen) einhergeht. Frühe Veränderungen des Zentralnervensystems vor einer Demenzdiagnose können zum Beispiel dazu führen, dass Sprachverständnisstörungen entstehen und dass die Nutzung von Hörgeräten als zu schwierig und frustrierend empfunden wird. Dies könnte der Grund dafür sein, dass Schwerhörigkeit anscheinend nur dann mit späterer Demenz verbunden ist, wenn Patienten kein Hörgerät benutzen. In anderen Worten: Es ist dann nicht die Abwesenheit von Hörgeräten, die zur Demenz führt, sondern eine frühe Einschränkung der Informationsverarbeitung bei Menschen, die später Demenz entwickeln, die verhindert, dass diese ihre Hörgeräte nutzen können und wollen. Andererseits können frühe prodromale Symptome (Symptome, die einer Erkrankung vorausgehen; Anm. d. Red.) kausale Risikofaktoren überdecken. Wir wissen, dass über einen Zeitraum von zwanzig Jahren vor einer Demenzdiagnose zukünftige Patienten langsam an Gewicht verlieren. Anfangs (zwanzig Jahre vor der Diagnose) findet man die plausible Assoziation von Übergewicht mit späterer Demenz, später (ungefähr zehn Jahre vor der Diagnose) keine Korrelation, bis schließlich in den letzten Jahren vor der Diagnose Untergewicht mit höherem Demenzrisiko verbunden ist [1]. Es ist nicht klar, ob der langsame Gewichtsverlust vor der Diagnose auf verringertem Appetit beruht (ohne Geruchssinn wird das Essen geschmackslos, depressive Verstimmung geht oft mit Appetits- und Gewichtsverlust einher), oder auf einem beschränkten Vermögen sich ausreichend gut zu ernähren, oder auf anderen Hirn- und Stoffwechselveränderungen. Gewisse ‚Risikofaktoren‘ sind möglicherweise nur frühe Symptome im Vorfeld der Demenz – eine scheinbar umgekehrte Kausalität. Ihre Vermeidung oder Entfernung wird deshalb wahrscheinlich meist nicht zur Verringerung der Demenzhäufigkeit führen.“
„Risikofaktoren sind möglicherweise mit den tatsächlichen Ursachen der Demenz korreliert, sind aber selbst nicht der Grund für die Krankheit. Schulbildung, als leicht erhebbares Maß, ist vielleicht nur ein Marker für andere Demenzursachen, die in Wirklichkeit auf anderen Faktoren beruhen: auf Entwicklungsstörungen (vor, während und nach der Geburt), sozialen Verhältnissen wie Armut, und Veranlagungen wie der ‚Kognitiven Reserve‘ (Schutzmechanismus des Gehirns, um mögliche Schäden durch eine Erkrankung auszugleichen; Anm. d. Red.). Bei Gleichhaltung dieser tatsächlichen Ursachen wird deshalb eine Verlängerung der Schulzeit nicht notwendigerweise das Demenzrisiko verringern.“
„Schulbildung demonstriert ein weiteres Problem mit Risikofaktoren: Weil die Demenzdiagnose auf kognitiven Tests beruht, beschützt akademische Erfahrung vor einem pathologischen Testresultat und verringert das Risiko einer Demenzdiagnose (‚Kognitive Reserve‘). Obwohl deshalb möglicherweise eine Diagnose verzögert wird, wird die Geschwindigkeit der kognitiven Verschlechterung und der Veränderungen im Gehirn davon weitgehend nicht beeinflusst.“
„Die Plausibilität der vorgeschlagenen Interventionen ist kein Beweis für ihre praktische Bedeutung. Ein Beispiel ist die Maxime ‚use it or lose it‘, die aus der Krankengymnastik stammt, die bei der Demenz aber völlig fehl am Platz ist. Patienten wollen gerne wissen, welche kognitiven Übungen die Verschlechterung ihrer Demenz aufhalten, oder sogar verhindern können. Es gibt aber keine verlässliche Evidenzbasis für solche Interventionen bei Demenz oder in ihrer Prävention. Dass Schulbesuch, Erhöhung des sensorischen (audio-visuellen) Inputs, Sport, eine soziale und freundliche Umgebung durch eine Bereicherung der Hirnaktivität einer Demenz vorbeugen können, ist unbewiesen. Die gefundenen Korrelationen können ebenso durch negative Effekte vordiagnostischer Demenz auf die erwähnten Aktivitäten oder die Anhäufung solcher Aktivitäten in sowieso privilegierten und deshalb gesünderen Teilen der Bevölkerung erklärt werden.“
Prävention von Demenz
„Es wäre falsch aus dem Vorhergehenden zu schließen, dass Demenz nicht verhindert werden kann. Das stärkste Argument dafür ist die 13-prozentige Verringerung der Demenzinzidenz pro Jahrzehnt, die in der Forschungsliteratur dieses Jahrhunderts beschrieben wurde [2]. Die wahrscheinlichste Erklärung für dieses Phänomens ist der allgemein bessere Gesundheitszustand der nachkommenden Altersjahrgänge, möglicherweise durch die Einwirkung größeren Wohlstands, besserer Geburtshilfe und Gesundheitspflege, inklusive der erwähnten gezielten Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen und deren Risikofaktoren, zum Beispiel hohem Blutdruck und Rauchen. Die berechnete Zahl von 45 Prozent verhinder- oder verzögerbarer Demenzfälle ist deshalb ein Maximalwert, dessen tatsächliche Erzielung sehr unwahrscheinlich scheint. Die wahre Zahl wird eher um zehn Prozent pro Dekade liegen, aber nur, wenn die Rahmendaten für Wohlstand und die Qualität der allgemeinen Gesundheitspflege sich weiter verbessern.“
Weitere wichtige Aspekte aus dem Lancet-Report
„Zwei weitere Empfehlungen über die Behandlung von Demenz – insbesondere der Alzheimer-Krankheit – im Lancet-Bericht sind bemerkenswert und meiner Meinung nach voll vertretbar:“
„Die Autoren rechtfertigen eine konservative Aufnahme der neueren Behandlungen mit monoklonalem Antikörper gegen Amyloid-Beta, mit ihrer begrenzten Evidenzbasis und Effektivität, ihren bedeutsamen Nebenwirkungen und unbekannten Langzeitwirkungen. Sie betonen die Kosten für Personal, bildgebende Untersuchungen und spezielle Blutuntersuchungen und die Notwendigkeit der Langzeitüberwachung auf Nebenwirkungen [3].“
„Ähnlich: ‚Biomarker in der Zerebrospinalflüssigkeit oder im Blut sollten klinisch nur bei Menschen mit Demenz oder kognitiven Beeinträchtigungen eingesetzt werden, um eine Alzheimer-Diagnose zu bestätigen oder auszuschließen.‘ Demenz selbst wird ausschließlich klinisch diagnostiziert, das heißt nach einer persönlichen Untersuchung mit kognitiven Tests und einer Beurteilung der Unabhängigkeit des Patienten im täglichen Leben. Die Forschenden erinnern außerdem daran, dass ‚Biomarker nur bei überwiegend weißen Bevölkerungsgruppen validiert worden sind‘, so dass dies ‚die Generalisierbarkeit einschränkt und Bedenken hinsichtlich der Gesundheitsgerechtigkeit aufwirft.‘“
Direktorin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health, Universitätsklinikum Leipzig
Zusammenfassung
„Im letzten Kommissionsreport 2020 wurden zwölf modifizierbare Risikofaktoren identifiziert: geringe Bildung, traumatische Hirnverletzungen, körperliche Inaktivität, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, Bluthochdruck, Adipositas, Diabetes, Hörminderung, Depression, soziale Isolation und Luftverschmutzung. Mit diesem aktuellen Kommissionsreport 2024 kommen zwei weitere Risikofaktoren dazu: Sehschwäche und ein erhöhter Cholesterinspiegel.“
Prävention von Demenz
„Deutsche Forscher haben gezeigt, wie viel weniger Demenzfälle es in Deutschland geben würde, könnten die Risikofaktoren für Demenz bis 2033 nur um 15 Prozent reduziert werden – das sind 138.000 Demenzfälle weniger [4]. Hinter jedem Demenzfall steht ein Schicksal, für den Betroffenen, für seine Angehörigen und die Solidargemeinschaft im Hinblick auf die Krankheitskosten. Welch ein Impact!”
„Der entscheidende Punkt ist die Botschaft dieser Modellrechnungen: Demenzprävention ist möglich!“
„Das Wissen zu den modifizierten Risikofaktoren wächst ständig, wir werden noch weitere modifizierbare Risikofaktoren identifizieren und im nächsten Kommissionsreport werden neue hinzukommen. Einige Kandidaten, wie zum Beispiel Schlafmangel, werden schon im Paper diskutiert.“
Berechnete Risikoreduktion aus dem Lancet-Report
„Modellrechnungen mit zwölf Risikofaktoren zeigten, dass im Falle einer vollständigen Eliminierung dieser Risikofaktoren 40 Prozent der Demenzfälle verhindert werden können. Modellrechnungen mit diesen nun 14 Risikofaktoren gehen von einer Zahl von 45 Prozent der Demenzfälle aus, die verhindert werden können. Diese Zahlen beziehen sich auf eine vollständige Eliminierung dieser Risikofaktoren. Eine vollständige Eliminierung der Risikofaktoren wäre wünschenswert, ist aber wenig realistisch. Doch auch schon eine Reduktion der Risikofaktoren auf Bevölkerungsebene im realistischen Ausmaß hätte große Wirkung!“
Methodik des Reports
„Die Lancet-Kommission hat erneut einen wissenschaftlich fundierten und in der Diskussion sehr balancierten Report vorgelegt. Man merkt sofort, dass hier viele verschiedene Perspektiven aus den unterschiedlichen Professionen und verschiedensten Regionen der Welt einflossen.“
Gesundheitspolitische und individuelle Konsequenzen
„Die Erkenntnisse haben zwei wesentliche Implikationen. Erstens: Jeder Einzelne kann viel tun, ob mit Bewegung, Ernährung oder Rauchstopp – in der Fachsprache heißt das Verhaltensprävention. Oder er kann an der konsequenten Behandlung chronischer Erkrankungen, wie dem Bluthochdruck, dranbleiben. Zweitens braucht es aber mehr: Die gesamte Gesellschaft ist gefragt, die Politik und Entscheider auf überregionaler und kommunaler Ebene – der Kommissionsreport verweist darauf, dass Demenzprävention nicht nur Sache jedes Einzelnen ist, sondern auch die Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. In Fachkreisen spricht man von Maßnahmen der Verhältnisprävention. Es geht zum Beispiel darum, Städte so zu konzipieren, dass Menschen sich besser bewegen können oder Möglichkeiten für soziale Kontakte zu schaffen. Bei der Reduktion der Luftverschmutzung liegt es auf der Hand, dass das ein gesellschaftliches Anliegen sein muss.“
„Wir brauchen in Deutschland endlich eine Brain Health Agenda, um dieses Wissen zu den modifizierbaren Risikofaktoren an die Menschen und insbesondere auch an die Entscheider in Politik und Gesellschaft zu bringen! Diese Forderung steht schon länger im Raum [5].“
„Verhaltensprävention ist notwendig und wichtig, aber Verhältnisprävention ebenso. Das bildet der Report hervorragend ab.“
„Die Prävention nimmt im Report viel Raum ein. Das ist richtig so. Das sollte sich auch entsprechend in unseren Initiativen und in der weiteren Forschung und Forschungsförderung anteilig widerspiegeln. Davon sind wir noch deutlich entfernt.“
„Zusatzinformation zum Wissen in der Bevölkerung in Deutschland im Hinblick auf die Demenzprävention und die Risikofaktoren: Leipziger Forscher haben das Wissen der Bevölkerung zur Demenzprävention in Deutschland in einer bevölkerungsrepräsentativen Studie untersucht [6] – da ist noch Luft nach oben!“
Weitergehende Forschung über den Report hinaus
„Die AgeWell-Studie [7], die im Report genannt wird, ist die erste große Studie zur Demenzprävention in Deutschland. Sie ist eine sogenannte Multikomponentenintervention für Risikopatienten, das heißt, mit der Intervention werden verschiedene Risikofaktoren gleichzeitig angezielt. Wir konnten 1030 Teilnehmende gewinnen. Das waren nicht die typischen Teilnehmenden von Präventionsstudien – wir konnten wirklich Menschen mit einem erhöhten Risiko einschließen: 40 Prozent hatten eine Zuckerkrankheit, 54 Prozent Bluthochdruck und 55 Prozent waren adipös. Wir konnten in diesem kurzen Zeitraum keine Veränderungen auf die Kognition zeigen. Eine brandaktuelle Analyse [7] aus unserer Arbeitsgruppe zeigte, dass sich das Risikoprofil der Studienteilnehmer verbessert. Eine ermutigende Nachricht!“
„Bei Lebensstilinventionen geht es um langfristige Veränderungen. Präventionsstudien müssen einen längeren Horizont bekommen.“
„Eine Nachbefragung der AgeWell-Studienteilnehmer erscheint mir zwingend. Eine Förderung dafür steht aktuell nicht zur Verfügung.“
Leiter des Lehrstuhls Geriatrie, Universität Duisburg-Essen
Prävention von Demenz
„Bisher gibt es keine Studien, die den Einfluss der Prävention aus Sicht der Public Health untersucht haben. In dem neuesten Bericht des Institute for Health Metrics and Evaluation zu der GBD Study (Global Burden of Disease Study, umfassende internationale epidemiologische Beobachtungsstudie; Anm. d. Red.) [8] konnte kein wesentlicher Einfluss auf zum Beispiel DALYS (Disability-adjusted life years, Maßzahl für die Gesamtbelastung durch Krankheiten; Anm. d. Red.) nachgewiesen werden.“
Neue Risikofaktoren
„Die Risikofaktoren haben eine hohe Relevanz. In der Gedächtnissprechstunde besprechen wir dies ausführlich mit den Patienten und ihren Angehörigen. Es ist aber zum Beispiel sehr schwierig für einen 75-Jährigen, ansprechende und relevante Institutionen für sportliche Aktivitäten zu finden. Darüber hinaus ist es sehr schwierig, ältere Menschen, die seit Jahrzehnten sich nicht mehr körperlich betätigt haben, zum Sport zu aktivieren. Wir haben derzeit keine adäquaten Angebote für über 70-Jährige bezüglich der genannten Risikofaktoren.“
Berechnete Risikoreduktion aus dem Lancet-Report
„Es handelt sich zunächst um eine statistische Größe, die eine Größenordnung des möglichen Effektes angibt.“
Methodik des Reports
„Die Vorgehensweise entspricht dem derzeitigen Stand des Wissens für systematische Reviews. Es ist bedauerlich, dass keine gesundheitsökonomischen oder Krankheitslast-Aspekte detaillierter berücksichtigt werden.“
Gesundheitspolitische und individuelle Konsequenzen
„Die Wirkung präventiver Maßnahmen ist seit Jahren bekannt und sie spielen auch bei anderen Erkrankungen – wie zum Beispiel Krebs, der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung und Weiteren – eine wichtige Rolle.“
„Wir sind der Meinung, dass allgemeine präventive Maßnahmen hilfreich sind, aber erst spezifisch auf die einzelne Person abgestimmte Maßnahmen (‚personalized medicine‘) für den einzelnen Patienten relevant werden.“
„Demenzen sind keine Schicksalserkrankungen, bei denen man nichts mehr machen kann. Jeder hat es in der Hand, den Verlauf der Erkrankung zu beeinflussen.“
Weitere Demenzrisiken
„Man sollte auch den weiteren Text ab Seite 25 des Reports dringend lesen: Darin werden eine lange Reihe von potenziellen Risikofaktoren erörtert und beschrieben, die es noch nicht in die Liste der ‚14‘ geschafft haben. In der Liste finden sich hauptsächlich ‚medizinische‘ Faktoren, soziale Faktoren fehlen fast vollständig in der Bewertung.“
„Ich war Mitglied von Advisory Boards für die Firmen Roche, Biogen, Eisai und Grifols, Lilly und bin Mitglied des Independent Data Safety Monitoring Boards der Studie ENVISION (Biogen).“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich erkläre keine Interessenkonflikte.”
„Ich arbeite im Feld der Dementia risk reduction und bin PI von der deutschen AgeWell-Studie. Ich war nicht am Report beteiligt.“
„Ich bin Berater und halte Vorträge für verschiedene Firmen, die Medikamente für Demenzerkrankungen entwickeln.“
Primärquelle
Livingston G et al. (2024): Dementia prevention, intervention, and care: 2024 report of the Lancet standing Commission. The Lancet Commissions. DOI:10.1016/S0140-6736(24)01296-0.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Kivimäki M et al. (2018): Body mass index and risk of dementia: analysis of individual-level data from 1·3 million individuals. Alzheimers Dement. DOI: 10.1016/j.jalz.2017.09.016.
[2] Wolters FJ et al. (2020): Twenty-seven-year time trends in dementia incidence in Europe and the United States: the Alzheimer Cohorts Consortium. Neurology. DOI: 10.1212/WNL.0000000000010022.
[3] Barnes O (26.07.2024): European Medicines Agency rejects breakthrough Alzheimer’s drug. Financial Times.
[4] Blotenberg I et al. (2023): Dementia in Germany: Epidemiology and Prevention Potential. Deutsches Ärzteblatt International. 120 (27-28): 470-476. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0100.
[5] Hussenoeder FS et al. (2018): Primary prevention of dementia: from modifiable risk factors to a public brain health agenda? Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology. DOI: 10.1007/s00127-018-1598-7.
[6] Zülke AE et al. (2022): Knowledge of risk and protective factors for dementia in older German adults A population-based survey on risk and protective factors for dementia and internet-based brain health interventions. PLOS ONE. DOI: 10.1371/journal.pone.0277037.
[7] Zülke AE et al. (2024): Effects of a multidomain intervention against cognitive decline on dementia risk profiles - Results from the AgeWell.de trial. Alzheimer's & Dementia. DOI: 10.1002/alz.14097.
[8] Institute for Health Metrics and Evaluation (2024): Global Burden of Disease 2021: Findings from the GBD 2021 Study.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Livingston G (2020): Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission. The Lancet Commissions. DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30367-6.
[II] Deutsche Gesellschaft für Neurologie und Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2023): S3-Leitlinie Demenzen, Version 4.0. Stand 29.07.2024
Prof. Dr. Stefan Teipel
Leiter der Sektion für Gerontopsychosomatik und demenzielle Erkrankungen an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Universitätsmedizin Rostock, und Leiter der Forschungsgruppe Klinische Demenzforschung, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Prof. Dr. Frank Jessen
Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Demenzforschung, Uniklinik Köln, und Leiter Kooperations-Einheit Köln, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Prof. Dr. Klaus P. Ebmeier
Professor für Alterspsychiatrie, University of Oxford, Vereinigtes Königreich
Prof. Dr. Steffi G. Riedel-Heller
Direktorin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health, Universitätsklinikum Leipzig
Prof. Dr. Richard Dodel
Leiter des Lehrstuhls Geriatrie, Universität Duisburg-Essen