Neuer russischer Hyperschall-Gleitflugkörper mit Atomsprengkopf in Dienst
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat kurz vor Jahresende 2019 die Einsatzbereitschaft eines neuen Hyperschall-Gleitflugkörpers namens „Avangard“ bekanntgegeben. Russlands Präsident Wladimir Putin betonte, Avangard könne fast jeden Punkt der Erde erreichen. Mit diesem ersten einsatzbereiten Hyperschall-Gleitflugkörper, der Geschwindigkeiten über Mach 20 erreichen kann, also dem zwanzigfachen der Schallgeschwindigkeit, besitzt die russische Armee ein System, das die US-Raketenabwehr kaum aufhalten kann. Avangard ist ein antriebsloser Hyperschall-Gleitflugkörper, der mit konventionellen Waffen, aber auch nuklear bestückt werden kann, also auch mit Atomsprengköpfen. Eine Interkontinentalrakete bringt den Gleiter in die oberen Atmosphärenschichten und erzeugt die nötige Beschleunigung, mit der Avangard diese Geschwindigkeiten erreichen kann. Danach trennt sich der Gleiter von der Rakete und steuert nicht vorhersagbar in seiner Flugbahn das Ziel an. So kann Avangard den Kurs ändern, sogar notfalls zu einem anderen Ziel geführt werden. Diese Manövrierfähigkeit bei so hohen Geschwindigkeiten macht es einem Raketenabwehrsystem nahezu unmöglich, den Angriff zu verhindern. Avangard wurde auch bereits nach Angaben der russischen Regierung den US-Rüstungskontrolleuren vorgeführt und soll den Bestimmungen des New-START-Vertrages (Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen) nicht widersprechen.
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lehrstuhl Experimentelle Physik III, Technische Universität Dortmund und Vorsitzender des Forschungsverbunds Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) sowie Mitglied im Redaktionsbeirat der Zeitschrift „Science and Global Security“
„Die Angabe, der Avangard-Flugkörper fliege mit 20-facher Schallgeschwindigkeit, also mit etwa 24.000 Kilometern pro Stunde oder sechs Kilometern pro Sekunde, ist stimmig. Es handelt sich in der Tat um die zweite Art eines Hyperschallflugkörpers, einen sogenannten Hyperschall-Gleitflugkörper, der also erheblich schneller fliegt als die für den Hyperschallbereich verwendete untere Grenze von Mach 5, also 5-fache Schallgeschwindigkeit. Diese erste Art von Hyperschall-Marschflugkörpern fliegen mit 5- bis 8-facher Schallgeschwindigkeit, haben eine deutlich kürzere Reichweite und verlassen die Atmosphäre nicht.“
„Sechs Kilometer pro Sekunde ist aber auch die Geschwindigkeit, auf die herkömmliche ballistische Interkontinentalraketen ihre Gefechtsköpfe beschleunigen müssen, wenn sie auf ihrer Ellipsenbahn durch den Weltraum eine Entfernung von 10.000 Kilometer zurücklegen sollen. Von daher ist die Dauer vom Start bis zur Ankunft am Ziel grob dieselbe wie bei Raketen über dieselbe Reichweite, also zum Beispiel 45 statt 35 Minuten.“
„Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Ellipsenbahn im Weltraum kürzer ist und geringere Höhen erreicht, wonach der Flugkörper beim Wiedereintritt in die Atmosphäre nicht durch diese weiter fällt, sondern seine Bahn ändert und mittels des aerodynamischen Auftriebs noch viele hundert bis zu vielen tausend Kilometern weiter gleitet, während er von etwa 100 Kilometer auf etwa 30 Kilometer Höhe absinkt. Dabei kann die Bahn durch Steuerklappen wie bei einem Flugzeug geändert werden.“
„Die Abwehr wird aus verschiedenen Gründen erheblich erschwert. Für Weltraumradars am Boden im Zielland steigt der Flugkörper während der Weltraum-Bahnphase erst später – oder auch überhaupt nicht – über den Horizont. Während der Gleitflugphase geschieht das erheblich später, erst kurz vor der Ankunft. Wegen der Steuerung in der Gleitphase lässt sich die Bahn – anders als bei ballistischen Raketen – nicht vorausberechnen, so dass Abfangflugkörper nicht früh in Richtung auf den anfliegenden Flugkörper gestartet werden können.“
„Allerdings ist auch bei ballistischen Raketen die Abwehr besonders schwierig und Aussicht auf ernst zu nehmenden Abfangerfolg besteht schon hier nicht. Somit werden auch Hyperschall-Gleitflugkörper nichts an der grundsätzlichen Lage ändern, dass sich kein Land vor einem massiven Nuklearangriff schützen kann.“
„Die USA hatten seit Anfang der 2000er Jahre Hyperschall-Gleitflugkörper entwickelt, das Programm aber nach zwei Versuchen eingestellt. Nach den russischen und chinesischen Tests wird es jetzt mit Vorrang wieder aufgenommen.“
„Die Hauptgefahr der Einführung von Hyperschall-Gleitflugkörpern liegt in verkürzten Vorwarnzeiten – wegen des kürzeren, tieferen Bahnteils im Weltraum und der späteren Radarsichtbarkeit in der Gleitphase. Damit steigt die Nervosität, was die Bereitschaft erhöht, die eigenen Nuklearwaffen schon bei Angriffswarnung zu starten, was bei Fehlalarm einen Nuklearkrieg erst auslösen würde.“
„Trotz relativer Aussichtslosigkeit werden sich Bemühungen um Abwehr verstärken, was wiederum zu Verbesserungen und Aufwuchs bei Angriffswaffen führen wird. Auch wird die Verbindung mit konventionellen Waffen intensiviert werden.“
„Nach Kündigung des Raketenabwehrvertrags (ABM-Vertrag 2001/2002) und des Mittelstreckenvertrags (INF-Vertrag) 2019 besteht als Begrenzung nuklearer Waffen nur noch der New-START-Vertrag von 2010. Er läuft 2021 aus und könnte um fünf Jahre verlängert werden. Ob das geschehen wird, ist offen.“
„Die bis etwa 2015 bestehende Gelegenheit, ein Testverbot für Hyperschall-Gleitflugkörper zu vereinbaren, wurde leider verpasst. Notwendig sind weitergehende Reduzierung von Nuklearwaffen, vor allem zwischen USA und Russland – China spielt noch eine deutlich untergeordnete Rolle. Raketenabwehr muss wieder stark begrenzt werden, Hyperschall-Gleitflugkörper müssen wieder abgeschafft werden.“
Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hamburg und Professor an der MIN-Fakultät der Universität Hamburg
„Zum Thema ‚Hyperschallwaffen‘ haben sich die Pressemeldungen in den letzten Jahren gehäuft, enthalten aber eine Menge technischer Unkorrektheiten, Übertreibungen und Fehleinschätzungen. Wichtige Begriffe sind unsauber recherchiert, vertauscht oder falsch übersetzt. So ist von ‚Wunderwaffen, Avangard-Raketen oder Raketenschildern‘ die Rede. Im Folgenden der Versuch einer Klarstellung.“
„Hyperschallflugkörper sind Flugkörper, die in bestimmten Flugphasen schneller als die fünffache Schallgeschwindigkeit (Mach 5 also zum Beispiel etwa 6.000 Kilometer pro Stunde) fliegen können. Diese Entwicklungen haben in den 1960er Jahren begonnen und bedeuten extreme Herausforderungen an Antrieb, Navigation und strukturelle Stabilität von Flugkörpern. Die USA haben mit ihrem ‚Prompt Global Strike‘-Programm ab 2010 die Entwicklung wiederbelebt, Ziele weltweit innerhalb einer Stunde treffen zu können. Zwei Hyperschallsysteme sind in den USA in der Entwicklung, die konventionell bestückt werden sollen. Russland und China forcieren seit Jahren ebenfalls diese Entwicklungen, stehen aber ebenfalls vor enormen technischen Herausforderungen. Die Entwicklung erfordert neue Flugdynamik, neue Materialien und Lenksysteme, sowie eine entsprechende Infrastruktur (zum Beispiel Windtunnel und Tests). Die Reichweite dieser Flugkörper ist ebenso begrenzt wie deren Manövrierfähigkeit oder Nutzlast. Als Hauptgrund für die Entwicklung wird von russischer und chinesischer Seite die Überwindung der US-amerikanischen Raketenabwehrsysteme angegeben. Diese Flugkörper sollen nuklear bestückbar sein. Hyperschallwaffen werden weiterentwickelt werden, sind aber heute eine ‚Nischenfähigkeit‘, stellen aber zukünftig große Herausforderungen für Rüstungskontrolle, Krisenstabilität und Kriegsführung dar. Mit der Kündigung zentraler Rüstungskontrollverträge (ABM-Vertrag, INF-Vertrag und so weiter) ist eine Eingrenzung solcher Entwicklungen fraglich.“
„Für Aufsehen sorgte zum Jahresende die Ankündigung des russischen Verteidigungsministers Shoigu, die russischen Raketenstreitkräfte hätten am 27. Dezember 2019 ‚Avangard‘-Überschallflugkörper in Betrieb genommen. Die Avangard ist ein Gleitflugkörper, der mit einer Interkontinentalrakete (englisch: Intercontinental Ballistic Missile, ICBM) gestartet wird und bei Wiedereintritt in die Erdatmosphäre manövrierbar ist. Die Geschwindigkeit in der Atmosphäre liegt je nach Bahnprofil bei über Mach 20 und verringert sich durch die Bahnmanöver weiter. Zum Vergleich: Sprengköpfe von ballistischen ICBM haben beispielsweise eine Endgeschwindigkeit von Mach 27 und eine Abwehr dagegen gibt es bis heute nicht.“
„Aufgrund des veränderbaren Bahnprofils ist der Zielpunkt schwerer zu bestimmen und ein Raketenabwehrsystem kann damit sehr effektiv umgangen werden. Russland hat diese manövrierbaren Sprengköpfe vor kurzem amerikanischen Inspektoren vorgestellt und im Rahmen der bilateralen strategischen Rüstungskontrolle für Transparenz gesorgt. Eine Einbindung in einen verlängerten New-START-Vertrag ist damit möglich, da diese nuklearen Nutzlasten auf vertragskonformen ICBM stationiert werden können.“
„Die Gefahr von Missverständnissen über dieses Waffensystem besteht darin, dass sich die Meinung durchsetzt,
All diese Gründe führen zu einem unkontrollierten ‚Offensiv-Defensiv Wettrüsten‘, das neue Unsummen von Geld verschwendet, für neue gefährliche Konfrontationen sorgen wird und jede weitere Aussicht auf tiefgreifende, nukleare Abrüstung blockiert. Auch besteht die Gefahr, dass weitere Nuklearmächte wie Indien in dieses technologische Wettrüsten einsteigen. Die nukleare Balance zwischen den USA und Russland ist durch den New-START-Vertrag begrenzt und die Einführung einiger Avangard-Gleitkörper wird dadurch nicht geändert.“
„Eine andere gefährliche Kategorie bilden Hyperschallflugkörper mit Eigenantrieb, die ausschließlich in der Atmosphäre agieren und kürzere Reichweiten haben oder Marschflugkörper mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit (ab Mach 1). Entwicklungen dazu gibt es in allen Nuklearwaffenstaaten. Sollten solche Systeme stationiert werden, verkürzen sich die Flugzeiten und stellen ein erhebliches Problem für Entscheidungsträger in einer Krise bzgl. geeigneter Gegenmaßnahmen dar, zumal unklar ist, ob solche Flugkörper konventionell oder nuklear bestückt sind. Somit verschwimmt die Grenze zwischen nuklearen und konventionellen Flugkörpern immer stärker. Eine Raketenabwehr gegen solche Systeme gibt es bis heute nicht, aber auch die Fortschritte der existierenden Raketenabwehr sind äußerst begrenzt und führen zu einer Illusion von Sicherheit.“
„Der New-START-Vertrag läuft im Februar 2021 aus und kann mit einer einfachen Unterschrift durch US-Präsident Trump und den russischen Präsidenten Putin um fünf Jahre verlängert werden. Gespräche zwischen den USA und Russland über eine Verlängerung oder ein Nachfolgeregime gibt es bisher nicht. Putin hat mehrmals angeboten, New START zu verlängern. Entwicklungen von neuen Trägersystemen, so einer schweren ICBM (‚Sarmat‘), die mehrere Avangard-Gleitkörper tragen kann oder ein nuklearbestücktes Torpedo oder einen nuklearangetriebenen Marschflugkörper, müssten Bestandteil eines neuen strategischen Rüstungskontrollvertrages werden. Seit der Kündigung des INF-Vertrages besteht auch die Gefahr der Stationierung von bodengestützten Mittelstreckensystemen auch im Hyperschallbereich.“
„Die Nuklearwaffenstaaten sind nach den Statuten des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) zu ‚Verhandlungen in redlicher Absicht‘ mit dem Ziel ‚der frühzeitigen Beendigung des nuklearen Rüstungswettlaufs und der nuklearen Abrüstung, sowie über einen Vertrag über generelle und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle‘ verpflichtet und kommen dem nicht mehr nach. Dies stellt eine ernste Verletzung des NVV dar. Der Dialog zwischen den USA und Russland, aber auch den anderen Nuklearwaffenstaaten über die strategische Stabilität und die damit verbundene nukleare Abrüstung muss wieder aufgenommen werden.“
„Ein Interessenkonflikt besteht nicht.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Weiterführende Recherchequellen
Altmann J (2019): Neue Typen von Kernwaffen und ihren Trägern – Gefahren für die strategische Stabilität, in:
Werkner IJ et al. (Hg.) (2019): Nukleare Abschreckung in friedensethischer Perspektive (Fragen zur Gewalt, Band 7), Wiesbaden: Springer VS, 2019, 105-123.
Neuneck G (2019): The Deep Crisis of Nuclear Arms Control and Disarmament: The State of Play and the Challenges, Journal for Peace and Nuclear Disarmament, 2:2, 431-452, DOI: 10.1080/25751654.2019.1701796.
PD Dr. Jürgen Altmann
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lehrstuhl Experimentelle Physik III, Technische Universität Dortmund und Vorsitzender des Forschungsverbunds Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) sowie Mitglied im Redaktionsbeirat der Zeitschrift „Science and Global Security“
Prof. Dr. Götz Neuneck
Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hamburg und Professor an der MIN-Fakultät der Universität Hamburg