Modelle überschätzen die Nachhaltigkeit der weltweiten Fischerei
mehr Fischbestände überfischt als bisher angenommen, Modellierungen überschätzen oft die tatsächliche Biomasse
zugelassene Fangquoten leiten sich aus angenommenen Beständen ab und sind somit häufig zu hoch für eine nachhaltige Fischerei
Experten loben die Studie, betonen die Wichtigkeit, das neue Wissen beim Festlegen von Fangquoten zu berücksichtigen und erläutern, wie nachhaltiger Fischfang trotzdem möglich ist.
Fischerei-Modelle bewerten die Nachhaltigkeit der globalen Fischerei oft deutlich zu hoch. Die Populationen vieler Arten seien in einem weitaus schlechteren Zustand als bisher angenommen. Besonders bei bereits überfischten Beständen sei die Abweichung der Modelle gravierend. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die am 22.08.2024 im Fachjournal „Science“ erschienen ist (siehe Primärquelle). Vor allem die oft viel zu optimistischen Schätzungen zur Größe der Bestände vor der Befischung und zur Dynamik der Erholung danach, wären eine große Fehlerquelle, so die Studie. Problematisch sind diese Abweichungen vor allem, weil die Fischerei-Modelle als Grundlage für die Regulierung der globalen und regionalen Fischerei dienen und somit ein wichtiges Werkzeug gegen die Überfischung von Beständen sind.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Marine Evolutionsökologie, Forschungsbereich Marine Ökologie, Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR), Kiel
Methodik
„Die Methodik der Studie ist sauber und bestätigt frühere Veröffentlichungen, die Zweifel an den bevorzugten Fischerei-Modellen haben aufkommen lassen. Warum die zum Teil sehr unwahrscheinlichen Vorhersagen der offiziellen Modelle akzeptiert wurden und werden, ist die große Frage. Wahrscheinlich, weil sie den Wünschen und Erwartungen der Beteiligten und der Manager – Bestandserholung trotz Überfischung – entsprochen haben (und entsprechen).“
Herausforderungen der Bestandsschätzungen
„Das Problem ist weniger die Beobachtung der vorhandenen Fische. Vielmehr ist es die Vorhersage, wie viele Fische im nächsten Jahr da sein werden. Diese Vorhersage beruht auf nur wenigen Daten und stark auf den Vorgaben und Einstellungen der Modelle.“
Entwicklungen beim Management der Fischbestände
„Die Standard-Bestandsabschätzungen verwenden Modelle, die mehr als 40 verschiedene Parameter enthalten können. Diese Vielzahl von Variablen macht die Abschätzungen unnötig komplex. Die Ergebnisse können dann nur von wenigen Experten reproduziert werden, die Zugang zu den Originalmodellen und -daten haben. Dazu kommt, dass mehrere der erforderlichen Eingabeparameter unbekannt oder schwer zu schätzen sind. Somit müssen die Modellierer stattdessen auf weniger belastbare Werte zurückgreifen, die in der Vergangenheit funktioniert haben. Solche Praktiken können die Ergebnisse stark auf die Erwartungen der Modellierer beschränken.“
„Multi-Parameter-Modelle sind erst seit etwa 20 Jahren im Einsatz. Die vorherigen Zwei-Parameter-Modelle waren weniger anfällig. Deswegen auch unser Plädoyer in der parallel erscheinenden Perspective zu der Studie [III], sich diesen Modellen mit ihren robusten ökologischen Grundlagen wieder verstärkt zuzuwenden.“
„Wir konnten das mit Daten in einer unserer Arbeiten zeigen [1]. Mit diesen konnten wir die Vorhersagen für nachhaltige Fänge in Abhängigkeit von der Bestandsgröße für zwei verschiedene Modelle vergleichen. Während das Zwei-Parameter-Modell die höchste Konzentration von Beobachtungen richtig verfolgt, ist das allgemein verwendete Multi-Parameter-Modell viel zu optimistisch und empfiehlt viel zu hohe Fänge bei kleinen Bestandsgrößen.“
„Die aktuelle Studie zeigt: Besonders betroffen sind durch Überfischung geschrumpfte Bestände. Die Überbewertungen führten bei diesen zu so genannten Phantom-Erholungen: Sie wurden als erholt eingestuft, obwohl sie in Wirklichkeit weiter schrumpften. Das führte dazu, dass Fangmengen nicht ausreichend reduziert wurden, obwohl es dringend notwendig gewesen wäre. Leider ist dies kein Problem der Vergangenheit. Die bekannten Überschätzungen der Bestandsgrößen aus den vergangenen Jahren werden auch jetzt nicht zur Korrektur der aktuellen Bestandsgrößen herangezogen.“
Regionale Unterschiede
„Das Problem betrifft hauptsächlich große, wertvolle Bestände mit langer wissenschaftlicher Bewertung und Beratung – also auf der Nordhalbkugel sowie Neuseeland und Australien. In den Tropen gibt es kaum Bestandserfassungen, die für die Bewirtschaftung herangezogen werden. Es gibt kein Management durch begrenzte Fangmengen im nächsten Jahr, weil das gar nicht durchgesetzt werden kann.“
Anforderungen an ein nachhaltiges Fischerei-Management
„Eigentlich ist nachhaltige Fischerei ganz einfach. Es darf immer nur weniger Fisch entnommen werden als nachwächst. Die Fische müssen sich vermehren können, bevor sie gefangen werden. Außerdem braucht es umweltschonende Fanggeräte und die Einrichtung von Schutzzonen. Funktionelle Nahrungsketten müssen erhalten werden, indem weniger Futterfische wie Sardellen, Sardinen oder auch Krill gefangen werden – das sind die Prinzipien der ökosystembasierten nachhaltigen Fischerei. Vier dieser fünf Prinzipien lassen sich auch ohne Kenntnis der Bestandsgröße umsetzen.“
„Das Problem sind hier nicht die Entwicklungs- und Schwellenländer, sondern die entwickelten Länder mit Instituten für Fischereiwissenschaft. Diese Fischereiwissenschaft hat die Politik jahrelang und immer wieder falsch beraten und trägt damit einen Teil der Verantwortung für die zahlreichen überfischten und zusammengebrochenen Bestände, auch in Europa.“
Professor für Marine Conservation Biology, Department of Biology, Dalhousie University, Halifax, Kanada
Methodik
„Diese Studie belegt, dass die offizielle Erfassung von Fischbeständen oft optimistischer ausfällt als angemessen wäre. Dies ist besonders bei überfischten Beständen zu sehen, bei denen eine höhere Abschätzung des Bestandes unangenehme Kürzungen in den Fangquoten verhindern kann. Bei nachhaltig befischten Beständen finden diese systematischen Überschätzungen nicht statt – wahrscheinlich, weil die Fischerei gut läuft und es keinen Anlass gibt, die Ergebnisse zu beschönigen. Die Methodik dieser Studie beruht auf einer Auswertung von knapp 1.000 Bestandserfassungen weltweit und nutzt damit die beste Datenbasis, die zur Zeit zur Verfügung steht.“
Herausforderungen der Bestandsschätzungen
„Da Fische ‚unsichtbar‘ sind, bis sie gefangen werden, ist die Abschätzung der tatsächlichen Biomasse ein komplexes Unterfangen. Zumeist basiert sie auf mathematischen Populationsmodellen, die zahlreiche Datenströme mathematisch vereinen – zum Beispiel die Fangmenge im vergangenen Jahr, der Aufwand der Fischerei, der betrieben werden musste, um diese Fangmenge zu erzielen, unabhängige Surveys, die stichprobenartig den Trend in der Biomasse erfassen und so weiter. Das Problem ist, dass diese Modelle sehr komplex und etliche Parameter nur wenig bekannt sind. Interessanterweise scheint dies aber trotz der Unsicherheiten für die nachhaltigen Bestände gut zu funktionieren. Für die überfischten Bestände laufen die Ergebnisse jedoch sehr auseinander. Dies kann zum einen an der verschlechterten Datenlage bei niedriger Bestandsdichte liegen oder eben daran, dass über Einstellungen in den Modell-Parametern systematisch die Produktivität des Bestands überschätzt wird. Die Autoren der Studie schlagen vor, das Vorsorgeprinzip hier anzuwenden, bei dem in Zukunft nicht die optimistischeren, sondern die pessimistischeren Abschätzungen benutzt werden, um Fangquoten zu vereinbaren – also quasi ein Risikomanagement, wie es zum Beispiel auch Banken bei insolventen Kunden anwenden würden.“
Entwicklungen beim Management der Fischbestände
„Diese Studie – wie auch andere [2] – zeigt, dass sich eine Mehrzahl der wissenschaftlich erfassten Bestände positiv entwickelt, meist aufgrund besserer Maßnahmen zum Schutz dieser Bestände. Hier finden die Autoren der aktuellen Arbeit auch kaum Anzeichen auf eine systematische Überschätzung der Bestände. Es sind die überfischten Bestände, bei denen die Überschätzung ein Problem ist und zu suboptimalen Maßnahmen führt, welche die Überfischung dieser Arten weiter beschleunigen. Das muss schnellstmöglich behoben werden.“
Regionale Unterschiede
„Überfischung ist besonders im Mittelmeer, in Westafrika und in Südasien ein Problem (siehe Abbildung 2 in [2]). Weltweit sind viele küstennahe Fischereien schon lange zusammengebrochen und werden heute gar nicht mehr erfasst. Die aktuelle Studie warnt uns aber, dass etliche Bestände, die noch als gut bewirtschaftet gelten – zum Beispiel auch in Europa – in Wirklichkeit schlechter dastehen könnten als gedacht.“
Anforderungen an ein nachhaltiges Fischerei-Management
Auf die Frage, inwiefern von Entwicklungs- und Schwellenländern ein nachhaltiges Management zu erwarten ist, wenn dies in der Ostsee schwierig ist, die ausschließlich von Industriestaaten umgeben ist:
„Entwicklungs- und Schwellenländer sind oft sehr innovativ und haben zum Beispiel durch die Einrichtung größerer Schutzgebiete oft mehr erreicht als zum Beispiel die Europäer, bei denen besonders im Mittelmeer immer noch die Konflikte zwischen den Anrainerstaaten ein gutes Fischerei-Management verhindern. Mein persönlicher Eindruck ist, dass in Regionen, in denen die Fischerei für die primäre Nahrungsversorgung wichtig ist und in denen die Bevölkerungsdichte nicht zu hoch ist, oft einfache, aber wirksame Maßnahmen zum Schutz der Beistände ergriffen werden.“
Leiter der Abteilung Marine Ökosystemdynamik und Management, Geschäftsführender Direktor am Institut für marine Ökosystem- und Fischereiwissenschaften, Universität Hamburg
Methodik
„Diese Studie untersucht zum ersten Mal systematisch ein in den Fischereiwissenschaften sehr bekanntes Phänomen, das im Allgemeinen ‚Retrospective Bias‘ genannt wird. Der Begriff zeigt an, dass insbesondere für das letzte Jahr einer Zeitreihe die Biomasse von Fischbeständen im Allgemeinen überschätzt wird. Das zeigt sich dann in der darauffolgenden neuen Abschätzung – in Europa zumeist ein Jahr später –, bei der die Biomasse des dann vorletzten Jahres oft deutlich geringer geschätzt wird. Das ist ein Problem, weil die Quotenbestimmung – also die erlaubte Fangmenge – basierend auf dieser ‚zu hohen‘ Biomasseschätzung erfolgt und damit oft auch zu hoch ist. In unseren Breiten haben wir das Phänomen zum Beispiel für den Dorsch der westlichen Ostsee gezeigt. Die oft zu positive Schätzung der Biomasse hat meiner Einschätzung nach auch zur Überfischung des Bestandes beigetragen.“
„In dieser meiner Meinung nach sehr wichtigen Studie zeigen die Autor*innen nun zum ersten Mal das Ausmaß des Auftretens des Phänomens und – noch wichtiger – wie so der Zustand insbesondere von bedrohten, überfischten Beständen als zu positiv eingeschätzt wird. Das kann weitreichende Folgen haben, wie die Autor*innen überzeugend darstellen. Zum einen gibt es den Anreiz, diese Bestände wieder stärker zu befischen. Da aber gar nicht so viel Biomasse vorhanden ist, wird so der Zustand der Bestände weiter verschlimmert. Andererseits führen solche Überschätzungen generell dazu, dass der Druck der Fischereiindustrie auf das Fischerei-Management größer wird, höhere Quoten festzulegen.“
„Diese Unsicherheit in den Modellergebnissen ist weitgehend bekannt und hat vielfältige, sehr technische Gründe, liegt oft aber auch an der Unsicherheit der Eingangsdaten. Meiner Einschätzung nach sind nicht die Modelle ‚schuld‘, sondern wie die Ergebnisse oft gedeutet und kommuniziert werden. Man sollte eher erst nach einer Reihe von Jahren erneut höhere Fangquoten zulassen, wenn die Modelle auch nach einigen Jahren noch stabil eine Verbesserung der Bestandssituation anzeigen.“
Herausforderungen der Bestandsschätzungen
„Die Bestandsschätzung – das sogenannte Stock Assessment – von marinen Fischbeständen ist generell schwierig und mit großer Unsicherheit behaftet. Man kann die absolute Menge oder Biomasse der Bestände nicht direkt messen oder zählen. Auch mit Ortungssystemen wie Hydroakustik nicht, da damit nur eine bestimmte Gruppe von pelagischen Fischarten (Arten, die in der freien Wassersäule leben; in Abgrenzung zu benthischen Arten, die auf oder unmittelbar über dem Meeresboden leben; Anm. d. Red.), aufgenommen werden kann. Aber auch das ist bei der Größe der Verbreitungsgebiete sehr schwer und unsicher.“
„Traditionell nutzt man zur Bestandsabschätzung eine spezielle Art von Modellen, in die die Fangmengen der Fischerei und zusätzliche wissenschaftliche Daten eingehen. Mit den Zeitreihen der Fänge – zumeist in Altersklassen aufgelöst – wird dann die Entwicklung des Bestandes rückwirkend rekonstruiert. Die Grundlage dieser Modelle stammt aus Rechenmodellen aus den 1950er Jahren. Die Modelle sind aber heutzutage komplexe statistische Modelle mit – wie die Autoren auch schön beschreiben – vielen Parametern und Annahmen. Obwohl die Modelle sich sehr weiterentwickelt haben, bleibt das Prinzip, dass für die letzten Jahre einer Zeitreihe die Datenlage am geringsten und am unsichersten ist. So kommt dann das in der Studie beschriebene Phänomen der ‚phantom recoveries‘ zustande (bei denen Bestände als erholt eingestuft wurden, obwohl sie tatsächlich kleiner wurden; Anm. d. Red.). Erkennen könnte man die ‚phantom recoveries‘ höchstens durch ein erweitertes – und damit sehr teures – Monitoring der Bestände.“
Entwicklungen beim Management der Fischbestände
„Dieses Thema berührt sehr weitgehende und viel diskutierte Fragen. Meiner Einschätzung nach hat sich das ‚westliche Fischereimanagement‘ schon weiterentwickelt. Anderseits haben wir das Ziel eines sogenannten Ökosystem-basierten Managements noch lange nicht erreicht. Wir machen immer noch Bestandsabschätzungen für einzelne Arten isoliert – wie in der Studie schön gezeigt wird – und ignorieren weitgehend die Effekte in den Nahrungsnetzen und des Klimawandels.“
Regionale Unterschiede
„Basierend auf der Studie kann man nicht sagen, welche Regionen weltweit gefährdet sind, weil diese Art von Bestandsabschätzung nur in hoch entwickelten Fischereimanagementsystemen durchgeführt werden kann. Die Abschätzungen erfordern komplizierte Modelle und eine große Menge von Daten, und diese sind ‚nur‘ in der ‚entwickelten Welt‘ vorhanden. Das sieht man klar in der Tabelle 1 der Supplementary Information, in der hauptsächlich nordamerikanische, europäische und ozeanische (Australien, Neuseeland) Bestände aufgeführt werden. Für die anderen Gebiete gibt es solche Abschätzungen gar nicht und dort ist deshalb die Beweislage noch schlechter. Hierzu gibt es eine Vielzahl von anderen Studien.“
Konsequenzen für das Verbraucherverhalten
„Ich finde es immer schwierig, Verbraucher*innen zu beraten. Für mich gilt wie beim Fleisch: Möglichst wenig und möglichst wenig exotisch. Selbstinformation über Verbraucherführer ist immer hilfreich.“
Anforderungen an ein nachhaltiges Fischerei-Management
„Meiner Meinung nach hängt nachhaltiges Management nicht von der Güte der Modelle oder Daten ab, wobei es natürlich hilfreich ist, diese zu haben. Wichtiger ist meiner Einschätzung nach der Willen der Fischereiindustrie, nicht jeden Fisch aus dem Meer zu ziehen und lieber – wie es in der Studie genannt wird – ‚precautionary‘ zu fischen. Dann kann man auch mit unsicheren Modellergebnissen gut umgehen – wie in der sehr guten Studie beschrieben. Den Willen und das Einsehen sehe ich aber oft nicht. Das kann man deutlich an der Ostsee sehen, wo gerade alle einst wichtigen Dorsch- und Heringsbestände trotz jahrelanger Warnung von Wissenschaftler*innen und Umweltschutzverbänden so stark überfischt wurden, dass eine Erholung weitgehend unsicher oder sogar unwahrscheinlich ist.“
Leiter des Arbeitsbereichs Lebende Meeresressourcen, Institut für Seefischerei, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Bremerhaven
Methodik
„Die in der Studie zentral angewandte Methodik, die neuesten Bestandsberechnungen mit denen der Vorjahre zu vergleichen, ist weit verbreitet und wird zum Beispiel vom Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES) bei jeder Bestandsberechnung durchgeführt, um systematische Über- oder Unterschätzungen zu erkennen. Der ICES hat auch ein Regelwerk entwickelt [3], wie die Prognosen – und damit auch die empfohlenen Höchstfangmengen – anzupassen sind, wenn zum Beispiel die berechnete Biomasse von Bestandsberechnung zu Bestandsberechnung immer wieder systematisch deutlich überschätzt wird. Die Kernproblematik der Studie ist also bekannt und nicht neu. Allerdings wird in der Studie eine Vielzahl von Beständen und Bestandsberechnungen gemeinsam betrachtet, was in diesem Umfang bisher noch nicht geschehen ist. Dass sich im Mittel über alle diese Bestände und Bestandsberechnungen eher eine systematische Über- als eine Unterschätzung der Bestandsbiomasse vergangener Jahre im Vergleich zur neuesten Abschätzung ergibt, ist problematisch, da man bei einer reinen Unsicherheit in den Bestandsberechnungen eher eine gleiche Anzahl von Über- und Unterschätzungen erwarten würde.“
„Die Studie wirft eine Problematik auf, ohne die Ursachen für die systematischen Über- und Unterschätzungen abschließend klären zu können. Es werden zwar verschiedene Einflussfaktoren getestet, diese sind aber nicht vollständig – zum Beispiel gibt es keine Unterscheidung der Modelltypen oder bei der Herkunft der Eingangsdaten. Das räumen die Autor*innen auch ein. Zudem gibt es für die beobachteten Unterschiede zwischen älteren und neueren Bestandsberechnungen verschiedene Ursachen. Zum einen können Differenzen allein durch das Hinzufügen weiterer Datenpunkte entstehen, was auf jeden Fall problematisch ist. Zum anderen gibt es aber auch Fälle, in denen sich zum Beispiel das Modell für die Bestandsberechnung aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse im Laufe der Jahre geändert hat. Die Autoren unterscheiden nicht zwischen diesen unterschiedlichen Situationen. Auch werden keine regionalen Unterschiede analysiert.“
„Auf den ersten Blick erscheint die in der Studie hervorgehobene Zahl ‚85 Prozent‘ dramatisch (‚85% more stocks than currently recognized have likely collapsed below 10% of maximum historical biomass.‘). Betrachtet man die Ergebnisse jedoch genauer, so verbirgt sich hinter den 85 Prozent eine absolute Zahl von 11 Beständen der 230 untersuchten Beständen (‚Moreover, 1.85× more assessed stocks (24 versus 13) have collapsed (B/Bmax < 0.1) than currently recognized‘). Sicherlich ist auch dies unerfreulich und alles andere als wünschenswert. Aber die Zahl 85 Prozent allein suggeriert eine dramatischere Situation, als wenn man den Prozentsatz zusammen mit der Anzahl der Bestände nennt, die davon laut Vorhersage betroffen sind.“
Herausforderungen der Bestandsschätzungen
„Grundlage für Bestandsberechnungen sind immer Beobachtungen. Fangdaten und Fischereiaufwand (zum Beispiel aus Logbüchern), Fangbeprobungen (Alters- und Längenstruktur der Fänge sowie Beifänge) sowie Daten aus wissenschaftlichen Surveys (zum Beispiel aus standardisierten Netzfängen oder Hydroakustik) bilden die Grundlage für Bestandsberechnungen. Hinzu kommen Schätzungen beziehungsweise Annahmen, zum Beispiel für die natürliche Sterblichkeit. Liegen diese Eingangsdaten vor, werden sie in mathematischen Modellen kombiniert, um die historische und aktuelle (Laicher-)Biomasse abzuschätzen. Außerdem wird der Fischereidruck ermittelt. Je umfangreicher und genauer die einzelnen Datenquellen sind, desto sicherer ist die Abschätzung der Bestandsbiomasse und des Fischereidrucks.“
„In den vergangenen Jahren haben sich vor allem die mathematischen Modelle weiterentwickelt und es werden deutlich komplexere Statistiken verwendet. Die Surveytechnik und Fangbeprobungen haben bisher weniger Innovation erfahren – auch um Brüche in Zeitreihen zu vermeiden. Es ist aber zu erwarten, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern wird. Neue Methoden stehen vor dem Durchbruch, zum Beispiel auf der Basis von Umwelt-DNA oder bildgebenden Verfahren in Verbindung mit KI.“
„Die von den Autor*innen genannten Voraussetzungen (Abbildung 5 in der vorliegenden Studie) zur Verbesserung der Situation sind gute Anhaltspunkte. Einige davon werden im Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES) bei den Bestandsabschätzungen für den Nordostatlantik bereits umgesetzt, zum Beispiel die Anwendung des Vorsorgeansatzes, Abschätzungen der systematischen Überschätzung der Bestandsgrößen und darauf basierende Kürzungsregeln in den Fangempfehlungen, Transparent Assessment Framework (TAF), Nutzung von fischereiunabhängigen Erhebungen, wo immer möglich. Neben einer konsequenteren Umsetzung gibt es aber auch im ICES noch Verbesserungsbedarf, zum Beispiel bei der objektiven Überprüfung von Modellansätzen und ihrer teilweise subjektiven Parametrisierung. Auch das Potenzial neuer Erhebungsmethoden – zum Beispiel auf Basis von Umwelt-DNA – und bildgebender Verfahren, zum Beispiel bei der Beprobung kommerzieller Schiffe, muss erst noch ausgeschöpft werden.“
Entwicklungen beim Management der Fischbestände
„Laut dem jüngsten FAO-Bericht [I] hat sich der Zustand der weltweiten Fischbestände in den zurückliegenden Jahren leicht verschlechtert. Im Jahr 2021 wurden 62,3 Prozent der Bestände nachhaltig bewirtschaftet, das sind 2,3 Prozent weniger als im Jahr 2019. Die Entwicklung ist jedoch nicht in allen Meeresregionen gleich. Im Nordostatlantik beispielsweise hat sich die Situation in den vergangenen Jahren durch besseres Management und striktere Einhaltung von Fangempfehlungen verbessert und 2021 wurden laut FAO-Report in dieser Region 79,4 Prozent der Bestände nachhaltig befischt. Deutlich schlechter sieht es im Mittelmeer oder zum Beispiel vor Westafrika, in Ostasien oder Südamerika aus.“
„Während in den Industrieländern ein Fischereimanagement oft erfolgreich umgesetzt werden kann, ist dies in Entwicklungs- und Schwellenländern meist deutlich schwieriger. Illegale Fischerei – die so genannte IUU-Fischerei (IIU steht für illegal, undokumentiert, unreguliert; Anm. d. Red.) – ist in diesen Ländern ein deutlich größeres Problem als in den Industrienationen. Zudem ist die Bevölkerung stärker auf Fisch als Proteinquelle angewiesen und insbesondere die lokale Kleinfischerei schafft wichtige Arbeitsplätze für die Bevölkerung. Auch wenn weltweit Konsens darüber besteht, dass Überfischung vermieden werden soll, ist es vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung gerade in Entwicklungsländern schwierig, Fangbeschränkungen durchzusetzen. Aber auch kurzfristiges Profitdenken steht einer nachhaltigen Bewirtschaftung immer wieder im Wege. Dies gilt für alle Länder unabhängig von ihrem Entwicklungsstand.“
Regionale Unterschiede
„Die Studie konzentriert sich auf Bestände, für die ausreichend Daten für eine vollständige Bestandsberechnung vorliegen – sogenannte analytische Assessments –, und nicht auf Bestände mit schlechter Datenlage. Außerdem werden Daten aus frei zugänglichen Datenbanken verwendet. Diese Voraussetzungen sind für Problemgebiete wie das Ostchinesische Meer oder die westafrikanische Küste nicht gegeben. Die Studie konzentriert sich daher auf Bestandsberechnungen, die eher transparent sind und eine vergleichsweise hohe Qualität aufweisen. Bei Beständen mit schlechter Datenlage sind die Unsicherheiten der Bestandsberechnungen eher noch größer als bei den in der Studie analysierten Beständen.“
Konsequenzen für das Verbraucherverhalten
„Verbraucher sollten auf zertifizierte Fischprodukte achten. Auch wenn zum Beispiel das MSC-Siegel nicht unumstritten ist, achten die MSC-Zertifizierer unter anderem darauf, dass ausreichend Daten für die Bestandsberechnungen zur Verfügung stehen und die Unsicherheiten in den Bestandsberechnungen im Laufe der Zeit reduziert werden.“
Anforderungen an ein nachhaltiges Fischerei-Management
„Nachhaltige Bestandsbewirtschaftung ist in Entwicklungs- und Schwellenländern eine noch größere Herausforderung als in Industrieländern. Das beginnt bei den Ressourcen, um die Datenverfügbarkeit für bessere Bestandsberechnungen zu gewährleisten, geht über Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Regeln und Fangbeschränkungen und endet bei Problemen mit illegaler Fischerei (IUU-Fischerei). Unter diesen Voraussetzungen ist die Umsetzung eines Vorsorgeansatzes schwierig.“
„Dagegen ist im Nordostatlantik und damit im Bereich des Internationalen Rates für Meeresforschung (ICES) der Vorsorgeansatz neben dem Prinzip des höchstmöglichen Dauerertrags (MSY) das oberste Gebot. Mit Ausnahme einiger Regionen wie der Ostsee haben sich die Bestände und der Fischereidruck auf die Bestände hier positiv entwickelt. Der jüngste Bericht der FAO [I] nennt als Beispiel für eine positive Entwicklung den Nordostatlantik mit aktuell einem der weltweit höchsten Anteile nachhaltig genutzter Bestände (79,4 Prozent). Es bleibt abzuwarten, inwieweit auch hier – wie in der vorliegenden Studie – ein systematischer Fehler bei den Bestandsberechnungen zu beklagen ist und in welchem Umfang.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Transparenzhinweis: Rainer Froese ist einer der beiden Autoren, deren kommentierender Perspective-Artikel zeitgleich mit der Studie in „Science“ erscheint [III].
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich wüsste nicht, dass ich hier Interessenkonflikte hätte.”
„Ich habe keinerlei Interessenkonflikte.“
Primärquelle
Edgar GJ et al. (2024): Stock assessment models overstate sustainability of the world’s fisheries. Science. DOI: 10.1126/science.adl6282.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Froese R et al. (2023): New developments in the analysis of catch time series as the basis for fish stock assessments: The CMSY++ method. Acta Ichthyologica et Piscatoria. DOI: 10.3897/aiep.53.105910.
[2] Hilborn R et al (2019): Effective fisheries management instrumental in improving fish stock status. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.1909726116.
[3] ICES (2020): Workshop on Catch Forecast from Biased Assessments. ICES Scientific Reports. DOI: 10.17895.ices.pub.5997.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] FAO (2024): The State of World Fisheries and Aquaculture 2024. Webseite der Welternährungsorgansiation.
[II] FAO (2024): Key messages. The State of World Fisheries and Aquaculture 2024. Webseite der Welternährungsorgansiation.
und Abbildung 19: Percentages of Biologigally Sustainable and unsustainable Fishery Stocks by FAO major Fishing Area.
[III] Froese R et al. (2024): Taking stock of global fisheries. Perspective. Science. DOI: 10.1126/science.adr5487.
Dr. Rainer Froese
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Marine Evolutionsökologie, Forschungsbereich Marine Ökologie, Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR), Kiel
Prof. Dr. Boris Worm
Professor für Marine Conservation Biology, Department of Biology, Dalhousie University, Halifax, Kanada
Prof. Dr. Christian Möllmann
Leiter der Abteilung Marine Ökosystemdynamik und Management, Geschäftsführender Direktor am Institut für marine Ökosystem- und Fischereiwissenschaften, Universität Hamburg
Dr. Alexander Kempf
Leiter des Arbeitsbereichs Lebende Meeresressourcen, Institut für Seefischerei, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Bremerhaven