Kontroverse Studie: gender-nonkonformes Spielen & Verhaltensprobleme
Assoziationsstudie aus Schweden vermutet Zusammenhang zwischen gender-nonkonformem Spielen und Verhaltensproblemen bei Siebenjährigen
Mädchen, die gender-nonkonform spielen, würden eher autistische Verhaltensweisen zeigen
Forschende ordnen die Befunde kritisch ein und warnen ausdrücklich davor, gender-nonkonformes Spielverhalten zu pathologisieren
Eltern, die bei ihren Kindern häufig nicht genderkonformes Spielverhalten wahrnehmen, beobachten bei diesen auch vermehrt problematische Verhaltensweisen. Die Töchter, die eher „jungenhaft“ spielen, würden zudem eher autistische Eigenschaften zeigen. Dies sollen die Ergebnisse einer Umfrage-Studie aus Schweden zeigen, die im Fachjournal „Plos One” veröffentlicht wurde (siehe Primärquelle).
Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Uniklinik Köln
Methodik der Studie
„Die Social Responsiveness Scale (SRS) ist ein eher grobes Verfahren. Autistische Verhaltensweisen könnten mit anderen Methoden genauer erfasst werden. Die anderen Messinstrumente sind für die Untersuchung prinzipiell geeignet.“
Zusammenhang der Variablen
„Assoziative Zusammenhänge können immer durch zusätzliche Variablen ursächlich potenziell erklärt werden und sind deshalb nie – auch hier nicht – als kausal anzusehen. Entscheidend ist häufig deshalb die korrekte Interpretation. Kovariaten können dieses Problem nur begrenzt beheben. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang zu schauen, inwieweit erhöhte Verhaltensauffälligkeiten (erfasst durch den Strengths and Difficulties Questionnaire, SDQ) durch erhöhten Stress, durch Konflikte bei non-genderkonformem Verhalten beziehungsweise bei bereits bestehender mentaler Komorbidität erklärt werden können, um weitere Hinweise für die Interpretation zu bekommen.“
Gender-nonkonformes Spielen und Verhaltensprobleme
„Die Ergebnisse sind generell plausibel. Stereotyp ,männliches‘ Verhalten (mehr auf Durchsetzung eigener Interessen orientiert) ist näher an autistischen Verhaltensweisen als stereotyp weibliches Verhalten. Non-genderkonformes Verhalten ist nach klinischer Erfahrung und Literatur mit vermehrten Problemen der mentalen Gesundheit assoziiert. Da bei autistischen Störungen das soziale Rollenverständnis beeinträchtigt ist, ist auch das Geschlechterrollenverständnis beeinträchtigt. Entscheidend ist allerdings, nun nicht den Fehler zu begehen und unzulässig zu verallgemeinern, dass umgekehrt und in jedem Fall nicht-genderkonformes Spielverhalten mit psychischen Störungen einhergeht oder per se schlecht sei. Dies zeigt die Studie nicht.“
Entstehung von Autismus
„Für die Entstehung von Autismus-Spektrum-Störungen sind genetische Faktoren überwiegend ausschlaggebend. Daran ändert die vorliegende Studie nichts. Sie liefert stattdessen Hinweise darauf, dass non-genderkonformem Spielverhalten erstmal beobachtet werden kann. Nur bei Verhaltensweisen, die Unsicherheit auf Seiten der Eltern auslösen, können medizinisch/psychotherapeutische Fachkräfte aufgesucht werden, um zu sichern, dass keine Hinweise auf eine Autismus-Spektrum-Störung im Sinne der Kernsymptome soziale Interaktion, Sprache und Kommunikation und rigides/stereotypes Verhalten vorliegen. Wie bei jeder Form der Früherkennung muss dies unter Ausschluss einer Stigmatisierung geschehen, so dass Kinder mit non-genderkonformem Spielverhalten ohne Verhaltensauffälligkeiten und ohne Autismus-Spektrum-Symptome nicht benachteiligt werden.“
Implikationen der Studienergebnissen
„Eltern und betreuende Fachleute (medizinisch, psychologisch, psychotherapeutisch, pädagogisch) sollten ein Auge auf das Vorliegen von Autismus-Spektrum-Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten bei non-genderkonformem Spielverhalten haben, ohne diese Assoziation überzubewerten. Die Varianz von Spielverhalten bei Kindern bleibt erheblich. Jedes Kind muss trotzdem individuell spielen können und sollte nicht in starre Rollenvorbilder gepresst werden – dies wäre ein deutlich größerer Risikofaktor für psychische Störungen. Eltern dürfen Rollenvorbilder sein und sollten auf individuelle Bedürfnisse und Interessen flexibel eingehen. Manche Kinder brauchen mehr externe Struktur und Vorgaben als andere – wenn sie sehr unsicher sind, können Stereotype und Vorgaben durchaus hilfreich sein. Andere Kinder würden dadurch eingeengt und in der Umsetzung ihrer Kreativität geschädigt. Wie viel Anleitung und wie viel Raum für Kreativität und individuelle Entfaltung Kinder brauchen, müssen Eltern – und gegebenenfalls Fachkräfte – individuell einschätzen. In keinem Fall sollte non-genderkonformes Spiel immer unterbunden werden, aber ebenso sollten auch in keinem Fall Eltern verpflichtet werden, nie zu intervenieren.“
Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum Frankfurt
Methodik der Studie
„Grundsätzlich sind die eingesetzten Fragebögen testtheoretisch validiert und auch in vielen Studien eingesetzt worden. Allerdings ist die Interpretation nicht ganz korrekt, zum Beispiel kann die Social Responsiveness Scale (SRS) nicht zwischen autistischen und ängstlichen Symptomen unterscheiden. Die Werte des SRS sind zudem bei vielen psychischen Störungen erhöht. Deshalb erscheint die Interpretation hinsichtlich einer Assoziation mit autistischen Zügen zu eng geführt.“
„Der Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) ist ein valides Instrument, Verhaltensauffälligkeiten zu erfassen, er wird in vielen Studien eingesetzt. Trotzdem dürfen auch die Ergebnisse des SDQ ebenso wenig wie des SRS als Zeichen einer psychischen Störung interpretiert werden. Der SRS beschreibt lediglich die soziale Reaktivität hinsichtlich verschiedener Dimensionen in ihrer Ausprägung, der SDQ erfasst zum Beispiel ängstliches, hyperaktives, impulsives oder auch aggressives Verhalten. Diese Verhaltensweisen können grundsätzlich bei vielen psychischen Störungen und in geringerer Ausprägung auch bei Kindern ohne psychische Störung vorkommen. Auch Gender-nonkonformes Verhalten im Kleinkind- und Schulalter kann keinesfalls mit Geschlechtsdysphorie gleichgesetzt werden. Es kommt relativ häufig vor und ist nicht per se prädiktiv für eine spätere Geschlechtsdysphorie.“
Auf die Frage, inwiefern mögliche konfundierende Variablen ausreichend durch die Kovariaten abgedeckt werden:
„Die gewählten konfundierenden Variablen sind angemessen. Zusätzlich wären noch die Anzahl der Geschwister, deren Alter und Geschlecht sowie die kognitiven Fertigkeiten der untersuchten Kinder wichtige mögliche Einflussgrößen, für die kontrolliert werden sollte.“
Einordnung der Ergebnisse
„Da es sich hier um eine Querschnittstudie handelt, ist die Aussagekraft der Studie sehr beschränkt. Bei einer Querschnittstudie liegt lediglich eine Assoziation vor, die nichts über Kausalität aussagen kann. Die Befunde sind zudem nicht neu, da letztlich das einzige Ergebnis der Studie ist, das Mädchen, die eher männliches Verhalten zeigen, häufiger auch hyperaktives und impulsives oder aggressives Verhalten zeigen. Die höheren Werte des SRS sind bei hyperaktiven, impulsiven oder auch aggressiven Kindern ebenfalls zu finden, hier liegt deshalb keinerlei Spezifität für Autismus vor.“
Entstehung von Autismus
„Die Ursachen von Autismus, aber auch von anderen Neuro-Entwicklungsstörungen, wie ADHS, sind stark biologisch bedingt, vor allem genetische und pränatale neurobiologisch wirksame Umwelteffekte sind hier relevant. Es ist selbstverständlich nicht auszuschließen, dass solche Faktoren auch mit gender-nonkonformen Verhalten oder Geschlechtsdysphorie einhergehen können, dazu kann die Studie allerdings keine Aussagen treffen.“
Implikationen der Studienergebnissen
„Aus der Studie lassen sich keine klinisch relevanten Schlüsse ziehen, da sie lediglich eine Assoziationsstudie darstellt und in der Studie auch keine klinisch relevanten Diagnosen oder Einschränkungen erfragt worden sind. Allerdings lässt sich aus der Studie schließen, dass möglicherweise der assoziative Zusammenhang zwischen Gender-nicht konformem Verhalten und Symptomen von Neuro-Entwicklungsstörungen bei männlichen Kindern und Jugendlichen in vergangenen Studien überschätzt und bei Mädchen unterschätzt wurden.“
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg
Zusammenfassung der Studienergebnisse
„Eine Untersuchung aus Schweden berichtet in einer großen Kohortenstudie Zusammenhänge zwischen geschlechtsspezifischem Spielverhalten, Verhaltensauffälligkeiten und autistischen Zügen.“
„Die Ergebnisse legen nahe, dass Mädchen, die nicht-genderkonform – also ,jungenhafter‘ – spielen, häufiger Verhaltensprobleme zeigen und mehr autistische Züge aufweisen. Auch bei Jungen war ein hohes Maß an ,jungenhaftem‘ Spiel mit einem höheren Maß an Verhaltensproblemen verbunden. Ein Zusammenhang mit autistischen Zügen ließ sich bei Jungen aber nicht erkennen. Dafür ließen die Ergebnisse darauf schließen, dass ein ,mädchenhaftes‘ Spiel bei Jungen mit Beziehungsproblemen zu Gleichaltrigen verbunden sein könnte.“
„Die Autorinnen und Autoren der Studie weisen darauf hin, dass Kinder mit geschlechtsuntypischem Spielverhalten ein höheres Risiko für die Entwicklung von autistischen Zügen sowie Verhaltensschwierigkeiten haben könnten und daher von früh an unterstützt werden sollten.“
„In Anbetracht der sehr kleinen Effekte sowie dem korrelativen Charakter der Ergebnisse ist allerdings eine gewisse Zurückhaltung in der Interpretation der Ergebnisse zu empfehlen.“
Methodik der Studie
„Das verwendete Beobachtungsinstrument zur Erfassung von geschlechtsspezifischem Spielverhalten ist ein Instrument für Studien zur Geschlechtsentwicklung, zur Erforschung geschlechtsspezifischer Präferenzen bei Kindern und zur Untersuchung der Auswirkungen von Erziehung, Umwelt und Biologie auf geschlechtsspezifisches Verhalten. Es wurde bereits Anfang der 1990-er Jahre entwickelt und basiert auf geschlechtstypischen Verhaltensnormen und sozialen Erwartungen westlicher Kulturen.“
„Die Instrumente zur Erfassung von autistischen Zügen und Verhaltensproblemen sind etablierte wissenschaftliche Verfahren, die einen Überblick über eine gegebene Symptomatik verschaffen können. Sie sind nicht geeignet, ein differenziertes Bild von den Verhaltensweisen und möglichen Schwierigkeiten eines Kindes zu liefern. So wurden in der vorliegenden Studie beispielsweise keine Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erfasst. ADHS-Züge beeinflussen das Spielverhalten und die Interaktion ebenfalls erheblich – insbesondere Impulsivität und körperliches Spiel, Schwierigkeiten in der Regelbefolgung und eine geringe Frustrationstoleranz, können das Spiel in Richtung ,jungenhaftem‘ Spiel beeinflussen. Da ADHS in der Allgemeinbevölkerung häufiger vorkommt als Autismus, hätten diese Faktoren mit erfasst werden müssen, um ein geschlechtsuntypisches Spielverhalten einordnen zu können.“
Spielverhalten bei Kindern
„Kinder zeigen geschlechtstypisches Spielverhalten. Das heißt, sie zeigen Verhaltensmuster und Präferenzen im Spiel, die typischerweise mit dem biologischen Geschlecht des Kindes assoziiert werden. Jungen neigen dazu, Spielzeuge, die mit Konstruktion oder Wettbewerb verbunden sind – wie Autos, Lastwagen, Bauklötze, Waffen – und Aktivitäten, die mit körperliche aktiven Spielen verbunden sind – wie Rennen, Klettern, ,Raufen‘ – zu bevorzugen. Mädchen neigen eher dazu Puppen, Kuscheltiere, Haushaltsgegenstände und kreative Bastelmaterialien zu bevorzugen und Fürsorgeverhalten, soziale Interaktionen oder kreative und kooperative Rollenspiele zu zeigen. Diese Verhaltensweisen werden sowohl vom sozialen Umfeld, als auch den Gleichaltrigen belohnt.“
„Im Zusammenhang mit Autismus gibt es einige Hinweise, dass bei autistischen Kindern das geschlechtstypische Spielverhalten verändert sein könnte. Die Zusammenhänge sind aber komplex und vielschichtig und ein kausaler Zusammenhang (autistische Züge führen zu geschlechtsuntypischem Spielverhalten) ist bisher nicht gezeigt worden. Kinder mit Autismus neigen oft zu stark fokussierten Interessen, die intensiv verfolgt werden. Diese können unabhängig von geschlechtstypischen Normen sein. Kinder mit Autismus haben Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen und könnten sich daher weniger für Rollenspiele interessieren, die von sozialer Dynamik geprägt sind und ihr Spiel allein deswegen wenig ,mädchenhaft‘ (wie oben definiert) wirken.“
Einordnung der Studienergebnisse
„Die Ergebnisse sind insofern sehr interessant, als dass sie einen Einblick in das nach wie vor vorherrschende geschlechtstypische Spiel bei Kindern im Alter von sieben Jahren bieten. Die Frage, ob und wie Autismus und geschlechtstypisches Spielverhalten zusammenhängen, lässt sich durch diese Studie allerdings nicht beantworten.“
Implikationen
„Kinder sollten ermutigt werden, eine breite Palette von Aktivitäten auszuprobieren, um ihre Fähigkeiten und Interessen frei und individuell zu entwickeln. Das Ziel sollte eine flexible und vielfältige Entwicklung sein, die den Kindern erlaubt, sich jenseits von Geschlechterstereotypen zu entwickeln und Stärken und Interessen zu entwickeln. Es wäre fatal, geschlechtsuntypisches Spiel als potenzielles Symptom von Autismus zu interpretieren.“
„Ich habe im Zusammenhang mit dieser Studie keine Interessenkonflikte.“
„Interessenkonflikte habe ich keine.“
„Interessenkonflikte habe ich keine.“
Primärquelle
Özel F et al. (2024): Gender-specific play behavior in relation to autistic traits and behavioral difficulties at the age of seven in the SELMA study. Plos One. DOI: 10.1371/journal.pone.0308605.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Hull L et al. (2023). Gendered play behaviours in autistic and non-autistic children: A population-based cohort study. Autism. DOI: 10.1177/13623613221139373.
Prof. Dr. Stephan Bender
Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Uniklinik Köln
Prof. Dr. Christine Freitag
Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum Frankfurt
Dr. Sanna Stroth
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg